- Gesellschaft, Wissenschaft
Interkulturalität und Sprachbewusstsein
Ein möglicher Ansatz in einem mehrsprachigen Klassenzimmer
Längst ist Mehrsprachigkeit ein bildungspolitisch und gesellschaftlich erwünschtes Ziel sowie gelebte Realität in unseren Klassenräumen. Sie lässt sich nicht auf zwei oder mehrere Sprachen beschränken und unterscheidet sich nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auch auf individueller Ebene. Sprachwissenschaftlich gesehen kann Mehrsprachigkeit aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: So können beispielsweise kommunikative Zwecke, zu denen Sprecher unterschiedliche Sprachen einsetzen, oder soziale Bedingungen als Ansatz und Sprungbrett für Sprachenlernen genutzt werden. In der aktuellen Forschung liegt der Schwerpunkt auf dem dynamischen Umgang mit Sprachen; demnach greifen die Sprecher auf ihr gesamtes sprachliches und nichtsprachliches Repertoire (z.B. Mimik oder Gestik) zurück, um sich auszudrücken. Diese, an Ressourcen orientierte, Mehrsprachigkeit prägt den folgenden Artikel.
Nun gibt es vielfältige, zum Teil auch sich widersprechende Ansätze, um mit der zunehmend kulturellen und sprachlichen Heterogenität umzugehen. Interkulturalität, hier gleichzusetzen mit interkulturellem Lernen und im Sinne einer Förderung des Sprachbewusstseins, stellt im Umgang mit Mehrsprachigkeit einen möglichen Ansatz dar.
Kurze Einblicke in das Konzept der Interkulturalität
Seit den 1980er Jahren stellt Interkulturalität die Kommunikation und Interaktion zwischen den Kulturen in den Mittelpunkt. Hier wird schnell klar, dass der Ansatz dem Kulturbegriff unterliegt, welcher aus wissenschaftlicher und pädagogischer Sicht seit Jahren immer wieder neu beleuchtet, aber auch kritisiert wird. Einhergehend mit dem interkulturellen Lernen wird Kultur als ,,Geflecht von Bedeutungen“1 gesehen, nach denen Menschen ihre Handlungen ausrichten (so gebraucht man beispielsweise unter Freunden ein anderes Sprachregister als am Arbeitsplatz). Man kann also von einem gesellschaftlichen Begriff sprechen, der es erlaubt die alltäglichen kulturellen Praxen sozialer Gruppen zu erfassen.
Ursprung dieses Ansatzes war es zwischen Gleichheit und Differenz eine Dialektik zu artikulieren, welche auf einem kulturell vielfältigen Weltbild basiert. Es ging also nicht mehr darum, dass zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund die kulturellen und sprachlichen Praxen der Mehrheitskultur einfach assimilieren, sondern darum, eine vielfältigere Handlungsfähigkeit im öffentlichen Alltagsleben zu entwickeln. Und dies bei gleichzeitiger Erhaltung der kulturellen und ethischen Identität eines jeden. Interkulturalität strebt also an erster Stelle ein Bewusstwerden der eigenen Herkunft, Lebensweisen, Sprache(n) und Identität an, welche insgesamt als miteinander vernetzte Elemente von Kultur zu betrachten sind. Die Kenntnis der eigenen Kultur und der reflexive Umgang damit fördern die Fähigkeit andere Kulturen wahrzunehmen.
Genau an dieser Stelle setzt nun die Interaktion zwischen den einzelnen Kulturen, sprich Individuen oder Gruppen, ein. Es wird ein respektvoller wechselseitiger Austausch ermöglicht, welcher die Anerkennung der Verschiedenheit und der Gleichwertigkeit der Kulturen erlaubt. Aus diesen Interaktionen heraus entstehen ununterbrochen Veränderungen, welche sich in alle Lebensbereiche der Beteiligten hineinziehen und das Geflecht von Bedeutungen und Erfahrungen wiederum neu beeinflussen. Interkulturalität reicht demnach weit über ein isoliertes, unreflektiertes Nebeneinander einzelner Kulturen und Sprachen hinaus.
Kulturelle und sprachliche Vielfalt, welche die Klassenzimmer der Luxemburger Grundschulen prägt, wird nicht ausschließlich für die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund genutzt, sondern richtet sich an alle Schülerinnen und Schüler. Somit werden die Herausforderungen, welche durch die Heterogenität entstehen, in den Mittelpunkt gesetzt und genutzt. Im Folgenden werden nun die Voraussetzungen dargestellt, um den Ansatz der Interkulturalität im pädagogischen Bereich umzusetzen. Ein kurzer Blick über den Klassenraum hinaus soll auch aufzeigen, dass Mehrsprachigkeit keineswegs nur auf die Sprachbildung zu beziehen ist.
Raum für Mehrsprachigkeit
Die sprachliche und kulturelle Vielfalt in einer Schule kann erst zum Ausdruck kommen, wenn ihr auch Raum geboten wird. Darunter versteht man nicht nur ein festes Einplanen in den Unterricht, sondern auch das Schaffen einer bestärkenden Lernumgebung, die es den SchülerInnen erlaubt, sich in mehreren Sprachen auszudrücken, auch wenn diese nicht den drei offiziellen Schulsprachen entsprechen. Es wird ihnen also möglich, auf ihr gesamtes sprachliches Repertoire zurückzugreifen. Die Sprache, Kultur und Identität eines jeden finden so ihren Platz, werden wertgeschätzt und als Teil des Lernprozesses behandelt.
Für die Lehrperson bedeutet dies den sprachlichen und kulturellen Kontext der SchülerInnen zu schätzen, um ihn mit seinen unterschiedlichen Facetten besser zu verstehen und gezielter darauf eingehen zu können. So kann die Sprachsituation der einzelnen SchülerInnen sowie der Klasse beispielsweise durch Sprachbiographien, -landschaften oder -collagen dokumentiert werden. Es werden Diskussionen darüber angeregt, wo, mit wem, welche Sprachen gesprochen werden; aber auch, was es eigentlich bedeutet, eine Sprache zu können. Sehr schnell stellen die Kinder fest, dass sie auch Sprachen kennen, ohne sie aber zu beherrschen. Ihre unterschiedlichen Beziehungen zu den einzelnen Sprachen werden ihnen bewusst und können anhand solcher Aktivitäten dokumentiert werden.
Auf der Ebene der sprachlichen Bildung bedarf es aber auch einer klaren Organisation der Lernmomente: Den Schülerinnen und Schülern muss bewusst sein, in welchen Momenten sie auf ihr gesamtes sprachliches Repertoire zurückgreifen können, zum Beispiel um ein Referat vorzubereiten, und in welchen Momenten das Augenmerk auf die Schulsprache(n) zu richten ist. Auf diese Weise lernen die SchülerInnen, ihre Ressourcen aktiv und autonom als Strategien für den Lernprozess zu nutzen.
Kinder als Experten – Lehrende als Lernende
Durch die Wertschätzung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt werden, für das Lernen, ausschlaggebende Faktoren aufgebaut und weiterentwickelt: die Akzeptanz des eigenen Lernprozesses, die Motivation andere Sprachen zu lernen, das Zugehörigkeitsgefühl der SchülerInnen sowie ihre Selbstachtung. Hier setzt auch die Frage der Mitgestaltung der Lernenden an. Der explizite Einbezug der Muttersprache(n)2 und der kulturellen Vielfalt in den Unterricht erlaubt den SchülerInnen, in die Rolle des Experten zu schlüpfen. Sie werden sich des Wertes, aber auch der Komplexität und der Schwierigkeiten ihrer eigenen Sprache(n) bewusst. Sie können Vergleiche zwischen den Sprachen anstellen und somit auch die Schulsprachen anders angehen. In solch sprachvergleichenden Momenten werden Lehrende zu Lernenden und können den Kindern den Prozess und die Motivation, andere Sprachen zu lernen, vorleben. Die traditionelle Rollenverteilung wird hier aufgebrochen: Die SchülerInnen geben dem Lehrenden Erklärungen zu ihrer/ihren Muttersprache/n. Auf diese Art und Weise wird der Lernprozess gemeinsam gestaltet, das Lernen findet durch Zusammenarbeit der Lehrenden und Lernenden statt.
Durch den analytisch ausgerichteten Umgang mit Sprache im Unterricht und die Zusammenarbeit der Lehrenden und Lernenden entsteht auch eine andere Fehler-kultur, welche Interferenzen als Etappe im Lernprozess und nicht als Scheitern betrachtet. Sprache wird gleichzeitig zum tool und zum Unterrichtsgegenstand. Der Beitrag „36 Sproochen, eng Schoul“ (S. 38 dieser Ausgabe) zeigt anhand unterschiedlicher Beispiele, wie die Muttersprachen und die Schulsprachen miteinander vernetzt werden und Sprachvergleiche in den Unterricht einfließen können (z.B. Erarbeitung der Negation im Französischen). Zudem können sprachliche Phänomene auch über den Weg anderer, nicht in der Klasse vorhandener, Sprachen bearbeitet und anschließend mit der zu erlernenden Schulsprache verknüpft werden. Das Experimentieren mit anderen Sprachen regt die Freude am Sprachenlernen an und der Umweg über andere Sprachen fördert zudem eine offenere Haltung den Schul-sprachen gegenüber.
Über den Klassenraum hinaus
Das eigene Handeln ist kulturell und sprachlich geprägt, sei es das der Lehrpersonen, der SchülerInnen oder der Eltern. Unterschiedliche normative Leitbilder beeinflussen demnach die Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Institutionen. Wird zum Beispiel in manchen Ländern und Kulturen der Lernprozess der Schule anvertraut, kann dies einerseits als Respekt der Institution gegenüber gesehen werden, andererseits aber auch als Gleichgültigkeit aufgefasst werden. Es geht hier nicht darum, unterschiedliche Problemlagen schön zu reden, sondern sich an erster Stelle bewusst zu werden, dass der Dialog mit den Eltern sehr vielschichtig ist.
Im Bereich der Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Institutionen können interkulturelle Mediatoren die Kommunikation und das Verständnis erleichtern. Sie können dazu beitragen, die Eltern über das luxemburgische Schulsystem zu informieren und den interkulturellen Dialog unterstützen, da sie die Sprache und Kultur der Herkunftsländer bestens kennen. Somit können sie eine brücken-
bildende Rolle zwischen den Sprachen und den Kulturen einnehmen und eventuellen Konflikten vorbeugen, respektive diese abschwächen und erklären.
Herausforderungen eines interkulturellen Ansatzes
Interkulturell gilt als Sammelbegriff für vielfältige Anforderungen, in kommunikativer und sozialer Hinsicht. Inwiefern kulturelles Wissen relevant ist für die Entwicklung der zu erreichenden Kompetenzen wird aus wissenschaftlicher Sicht unterschiedlich beurteilt. Sprachvergleichender Umgang mit Mehrsprachigkeit ist eine Möglichkeit an das Erlernen der Schulsprachen heranzugehen und Verständnis aufzubauen. Es muss allerdings erwähnt werden, dass Sprachvergleiche sich nicht für alle Aspekte des Sprachenlernens eignen (z.B. wenn es um die Form der Schulsprache geht). Die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Sprachbewusstheit ist demnach als ein Element des Lernprozesses zu betrachten und ist im Lehrplan der Luxemburger Grundschule –transversal über alle Fächer hinweg – zwar verankert, aber noch bedeutender in die Praxis umzusetzen.
Auch gilt es nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zu lenken, sei es auf sprachlicher oder kultureller Ebene, ohne diese auch kontextbezogen zu reflektieren. Kulturelle Praxen, Herkunft und Sprache(n) sind sehr vielschichtig. Sie sollen keinen Objektstatus erhalten, sondern das Augenmerk soll auf die Handlungs- und Kommunikationsfähigkeiten der SchülerInnen gerichtet sein, dies bei gleichzeitigem Erhalt ihrer kulturellen Identität.
Über seine eigene Sprachsituation, Herkunft oder Lebensweisen zu sprechen, ist manchmal mit sehr persönlichen Begegnungen oder Wegen verbunden. Manche Kinder möchten sich anfangs nicht zu ihrer/ihren Muttersprache/n äußern, weil diese Erfahrungen beispielsweise sehr schmerzhaft sind. Gegebenenfalls soll die Lehrperson ihnen genügend Zeit lassen, dies zu tun und das notwendige Vertrauen zu erlangen. Ohne das Kind gezielt darauf anzusprechen, kann die Lehrperson dieser Sprache und Kultur im Rahmen unterschiedlicher Aktivitäten einen Platz geben.
Eine Nische im mehrsprachigen Klassenzimmer…
Auf der Bildungsebene wird eine Entwicklung kohärenter sprachlicher Kompetenzen verlangt, wobei Vernetzungen zwischen den Sprachen eine wichtige Rolle spielen. Der Ansatz der Interkulturalität ermöglicht nicht nur Brücken zwischen den einzelnen Schulsprachen zu bauen, sondern lässt sprachliche und kulturelle Vielfalt zum aktiven Akteur im Lern-prozess der SchülerInnen werden. Somit wird die Motivation und Freude am Sprachenlernen gefördert. Der Akzent liegt dabei auf den Interaktionen zwischen allen Beteiligten und der Ko-Konstruktion der Lehr- und Lernprozesse. Es können Verbindungswege zwischen der Herkunft, der Kultur und den Sprachen hergestellt werden – das mehrsprachige Klassenzimmer wird als Lernraum und als Chance wahrgenommen. In ihrer Vielfalt sind alle gleich.
Für ihre hilfreichen Anregungen und ihre konstruktive Kritik möchte ich mich an dieser Stelle bei Géraldine Philipczyk, Christiane Tonnar und Anne-Marie Antony bedanken.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
