„Kultur ist wichtig, um zu überleben“
Ein Interview mit Kulturministerin Sam Tanson
Den Wohnungsbau hat sie abgegeben, die Justiz übernommen, aber seit einem Jahr ist sie Kulturministerin – und wird es bleiben. forum sprach mit Sam Tanson über Kultur und Kulturpolitik, Fördermaßnahmen und kritische Kunst, Kulturschaffende und ihr Publikum, das Kulturerbe- und das Archivgesetz.
Guten Tag, Frau Ministerin. forum ist gerade in Feierlaune. Wir haben im November die 400. Ausgabe veröffentlicht. Da wir immer an Kritik interessiert sind, möchte ich Sie als erstes fragen, ob Sie uns einen Rat geben würden, wie wir noch besser werden könnten?
Sam Tanson: Nein. forum ist gut, so wie es ist. Ich bin froh, dass es forum gibt. Das Spannende sind in meinen Augen die Schwerpunktthemen. Auch das Heftarchiv habe ich schon oft zu Recherchezwecken benutzt. Das hilft wirklich enorm, gerade wenn man ein Thema historisch aufbereiten möchte, ist das sehr interessant.
Vielen Dank für die Blumen. Beginnen wir nun mit der vielleicht schwierigsten Frage in diesem Gespräch: Was ist Kultur?
S.T.: Ich werde nicht anfangen, Kultur zu definieren. Ich kann sagen, was Kultur für mich bedeutet. Für mich bedeutet Kultur eine Öffnung auf die Welt, sie ermöglicht es uns, neue Horizonte zu entdecken. Kultur bedeutet, dass man sich selbst kreativ betätigen kann, unabhängig davon, ob das dann nachher einen Marktwert hat oder nicht. Kultur bedeutet, dass man sich zusammenfindet, um ein Theaterstück oder ein Konzert zu spielen oder zu besuchen. Und Kultur ermöglicht Momente der Reflexion: Wenn ich mich mit einem Buch beschäftige, sei es ein Roman oder ein Sachbuch, dann setze ich mich mit den Ideen anderer Menschen auseinander, mit Ideen, die mich weiterbringen können, die mir auch neue Welten aufzeigen. Vor allem aber möchte ich betonen, dass ich Kultur für überlebenswichtig halte.
Die politischen Rahmenbedingungen für die Organisation und Förderung der Kultur werden von der Kulturpolitik gesetzt.
S.T.: Moment! Die Organisation vielleicht nicht. Ich bin schon der Meinung, dass die Kulturszene ihre Aktivitäten von sich aus anstößt. Wir vom Ministerium helfen höchstens.
Ok, anders ausgedrückt: Die Politik schafft Strukturen, in denen dann Kultur stattfinden kann.
S.T.: Nein, auch da bin ich der Meinung, dass es wichtig ist, dass es nicht nur Institutionen gibt, sondern auch kleinere Strukturen, Akteure, die sich zusammentun und etwas auf die Beine stellen. Akteure, die wir dann zwar auch finanziell unterstützen, aber es obliegt nicht dem Kulturministerium, da etwas vorzugeben.
Das klingt schön. Aber in Band 1 des Kulturentwicklungsplans steht gleich zu Beginn folgendes Musil-Zitat: „Der Staat hat zur Kunst nur ein einziges Verhältnis zu haben: dass er Einrichtungen schafft, welche sie organisieren“.
S.T.: Ich bin bedingt damit einverstanden. Das ist mir zu einengend. Nicht alle Einrichtungen müssen vom Staat geschaffen werden. Es sind tolle Bottom-up-Einrichtungen entstanden, bei denen Menschen sich kreativ zusammengetan haben und die dann später erst an uns herantreten. Und es gibt auch Vereinigungen, die gar nicht von uns unterstützt werden wollen. Und die sind genauso wichtig im politisch-kulturellen Diskurs. Ja, ich bin mit dem Grundgedanken einverstanden. Das Ministerium macht keine Kultur. Deshalb haben wir uns auch dafür entschieden, das Konschthaus Beim Engel abzugeben an das Casino, weil ich die Rolle des Ministeriums nicht darin sehe, kuratorisch tätig zu sein.
Dann skizzieren Sie uns doch einmal Ihre Vision für eine luxemburgische Kulturpolitik im 21. Jahrhundert?
S.T.: Es gibt da vieles zu sagen. Ich finde es vor allem wichtig, dass wir den notwendigen Rahmen vorgeben, damit Künstler*innen in Luxemburg sich entwickeln können. Wir haben über die letzten Jahrzehnte sehr viele große, schöne und wertvolle Institutionen aufgebaut, die wir mit Leben füllen. Aber parallel dazu ist es wichtig, dass wir auch die freie nicht-institutionalisierte Kultur fördern. Dass wir auch diesen Akteuren genug Mittel zur Verfügung stellen, sodass sie sich Räume leisten können, um zu existieren und zu arbeiten. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass wir, gerade weil wir ein begrenztes Territorium haben, die kulturelle Ausstrahlungskraft der in Luxemburg entstehenden Kultur noch besser fördern. Und dass wir die Künstler*innen dann auch begleiten bei der Karriereplanung über Luxemburg und die Großregion hinaus.
Deswegen ja auch die Abgabe des Buchmessen-Auftritts an die ALAC.
S.T.: Genau, Reading Luxembourg, music:LX, in der Perspektive vom Arts Council.
Der Arts Council, music:LX, Reading Luxembourg: Dies sind alles Antworten auf ein Problem: Luxemburg hat einen sehr kleinen Markt, sodass kein*e Künstler*in überleben kann, wenn sie*er nicht a) auch international anerkannt wird oder b) gefördert wird. Sie werden häufig damit konfrontiert, dass der Budget-Anteil für die Kultur zu gering sei, es wird über Dezimalstellen vor oder hinter der 1 diskutiert. Die Frage nach dem Budgetanteil der Kultur möchte ich nicht stellen.
S.T.: Das ist schade. Denn ich würde gerne etwas dazu sagen.
Dann natürlich gerne.
S.T.: Natürlich ist es wichtig, eine Symbolik zu haben und anzustreben, auf dieses eine Prozent zu kommen. Aber ich habe auch immer gesagt, dass die Qualität der Kulturpolitik nicht ausschließlich daran festgemacht werden kann. Es hängt von so vielen einzelnen Faktoren ab. Wir sind jetzt bei 0,73%. Allerdings muss man dazu wissen, dass das enseignement musical ins Erziehungsministerium transferiert wurde, genauso wie auch die Förderung der luxemburgischen Sprache. Daneben gibt es den Film Fund, der beim Medienminister angesiedelt ist. Die 0,73% lassen sich also beispielsweise nicht mit Frankreich vergleichen, wo der Film beim Kulturministerium angesiedelt ist. Dann hängt es natürlich immer auch davon ab, was insgesamt an Investitionen im Staat getätigt wird. Es ist eine relative Zahl, aber ich verstehe, dass die Symbolik dahinter wichtig ist. Aber das Budget im kommenden Jahr ist in absoluten Zahlen eigentlich so hoch wie noch nie.
Können Sie uns erläutern, wieso in Luxemburg der Film immer noch nicht im Kulturministerium angesiedelt ist? Wir wissen alle, dass der Medienminister diese Kompetenz nicht abgeben will, aber die Frage wäre: Hätten Sie den Film denn nicht lieber bei sich?
S.T.: Wissen Sie, wir arbeiten ja auch zusammen. Ein Vertreter des Kulturministeriums ist auch im Film Fund vertreten, die Entschädigungen bei Erwerbslosigkeit der Kurzzeit-Beschäftigten, die im Filmbereich arbeiten, läuft auch über das Kulturministerium. Wir sind beim Filmpreis und beim Luxembourg City Film Festival mit dabei. Das heißt, es gibt schon Verbindungen. Der Film gehört zu den Medien und zur Kultur. Ich bin da nicht so besitzergreifend. Ich finde gut, dass Xavier Bettel jetzt ein Audit veranlasst hat, und wir müssen darauf basierend verschiedene Dinge tun, aber wir müssen trotzdem auch die Mittel für den Film erhöhen, weil wir jetzt auch eine größere Palette an Medien haben, die im Filmbereich angeboten werden, unter anderem augmented reality. Und die Aussage, die Xavier Bettel gemacht hat, die gilt auch für meinen Bereich: Man kann kulturelle Aktivitäten nicht rein an den Finanzen ausmachen. Klar, die Künstler*innen können nicht ohne Fördermittel arbeiten, aber das ist überall so. Auf der ganzen Welt. Die Kunst war immer schon darauf angewiesen, dass sie unterstützt wurde. Und warum ist das wichtig? Weil wir die Kunst brauchen. Wir machen das ja nicht zum Selbstzweck, sondern weil die Kunst der Gesellschaft etwas zurückgibt.
Sie haben gesagt, dass die Situation überall auf der Welt so sei, dass die Kultur gefördert werden muss. Ja, das stimmt. Aber die Situation in Luxemburg ist doch insofern eine spezielle, dass es die Figur des Lehrer-Künstlers oder der Lehrer-Autorin, wie Elise Schmit sie zum Beispiel verkörpert, in dem Ausmaß in kaum einem anderen Land gibt.
S.T.: Richtig. Oder denken Sie an die Figur des Diplomaten-Autors, wie Tom Reisen. Natürlich, bei den Autor*innen ist es besonders schwierig. Deswegen ist die Förderung da auch besonders wichtig.
Wenn Kultur abhängig ist von staatlicher Förderung, kann es dann nicht auch passieren, dass sie zu harmlos wird, dass man ihr die Zähne zieht?
S.T.: Ich hoffe ja nicht. Es würde mir nicht im Traum einfallen, jemanden nicht zu unterstützen, weil sie*er zu provokativ ist oder mich als Person kritisiert. Ich denke, dass das eine Hauptaufgabe der Kultur ist, kritisch zu sein. Denken Sie nur an Richtung22, deren Arbeit ich sehr schätze. Sie wollen aus den Gründen, die Sie jetzt angesprochen haben, keine Unterstützung, aber ich hätte überhaupt kein Problem damit, wenn sie Förderung anfragen würden. Ich bin nicht immer mit allem einverstanden was sie sagen, finde es aber wesentlich, dass diese Fragen gestellt werden. Ich habe am Sonntag mit einer Journalistin auf der Art Week gesprochen, die gefragt hat, ob wir jetzt eine Staatskunst haben. Das war dieselbe Optik. Weil der Staat eben so viel finanziert. Aber diese Situation gibt es überall. Die Kunst lebt in ganz vielen Ländern von Fördermitteln.
Kultur verfehlt ja ein wesentliches Ziel, wenn sie die Menschen nicht erreicht. Und es gibt Menschen, die aufgrund von Schwellenängsten oder deshalb, weil sie nicht gelernt haben, Kultur zu „lesen“, Orte der Kultur nicht aufsuchen, nichts mit Kulturgütern anzufangen wissen. Und sie verfehlt ihr Ziel, wenn sie junge Menschen nicht erreicht.
S.T.: Im Zusammenhang mit Kulturama führen wir Gespräche mit dem Bildungsministerium, um zu schauen, wie das funktioniert und was man noch besser machen kann. Kulturama hat auch mehr Mittel bekommen. Aber was ich genauso wichtig finde – und da kann ich als Kulturministerin auch wirklich etwas machen –, das bezieht sich auf Überlegungen, wie wir mehr junge Leute aber auch insgesamt mehr Publikum in unsere kulturellen Institutionen bringen können. Wir haben jetzt eine Person hier im Haus, deren Hauptaufgabe es ist, sich um das Publikum zu kümmern. Und wir arbeiten jetzt an einer Ausbildung für Mediateure, die wir auch den kleineren Häusern anbieten wollen. Und ein letzter Punkt, den wir weiter entwickeln wollen, ist der Kulturpass, der ausbaufähig ist. Die a.s.b.l., die sich um den Kulturpass kümmert, hat jetzt mehr Mittel von uns bekommen, damit noch eine Person angestellt werden kann und auch sie die Arbeit ausweiten können. Es ist sehr wichtig, Leute mit unterschiedlichen Backgrounds in die Kulturhäuser hereinzubekommen. Wir müssen daran arbeiten, dass das Publikum weniger homogen und viel diverser wird. Die Eintrittspreise alleine sind es jedoch nicht, die Vorarbeit muss viel früher ansetzen. Wenn man als Kind, ohne Probleme und ohne nachzudenken in eine Philharmonie oder in ein Theater geht und da vielleicht auf der Bühne steht, dann wird später keine Schwellenangst aufkommen. Es ist einfach auch sehr wichtig, Schulklassen anzusprechen. Weil diese die ganze Breite der Gesellschaft repräsentieren. So nimmt man dann schon ganz früh Ängste vor der Kultur, die vielleicht später entstehen könnten.
Sie haben als Kulturministerin in einem Jahr sehr viel geschafft. Die Kultur-Szene ist zufrieden bis begeistert. Kritik gibt es kaum. Nun kommt die Sorge auf, dass das Justiz-Ressort ihre Energien der Kultur entziehen könnte. Wie reagieren Sie auf solche Befürchtungen?
S.T.: Ja, das ist eine Sorge, und das ist natürlich auch eine Sorge, die ich hatte. Ich war zwar auch vorher schon für zwei Ministerien verantwortlich, aber es ist klar: Die Arbeitslast bei der Justiz ist noch intensiver als im Wohnungsbau. Jetzt wird es langsam besser, weil ich anfange, den Überblick zu bekommen. Aber die letzten paar Monate waren vom Zeitmanagement her relativ kompliziert. Doch die Kultur wollte ich unbedingt behalten. Ich hätte es nicht über mich gebracht, nach allem, was wir in die Wege geleitet haben, und was ich noch machen wollte, jetzt zu sagen, ok, ich gebe das jetzt ab. Das hätte ich nicht fertiggebracht. Ich bin mir natürlich dessen bewusst, dass ich eine Verantwortung habe: Ich muss jetzt liefern. Und das will ich. Und ich will weiterhin präsent sein, ich will bei Veranstaltungen präsent sein, denn ich muss weiterhin den Austausch mit den Künstler*innen haben.
Ein Gesetz, das Sie vorangebracht haben, ist das Kulturerbe-Gesetz. Darin findet sich auch der Denkmalschutz. Nun aber müssen die Güter, die geschützt werden sollen, klassiert werden, und das dauert, und es gibt eine Übergangsfrist von 10 Jahren. Bedenkt man diese Übergangszeit, bedenkt man die widerstreitenden Interessen zwischen etwa Immobilien-Eigentümer*innen und Investor*innen auf der einen und dem Denkmalschutz auf der anderen Seite: Wie kann sichergestellt werden, dass die Übergangszeit nicht ausgenutzt wird, um schnell noch, um es platt auszudrücken, abzureißen, was im Wege steht?
S.T.: Wir sind ja nicht bei Null. Bei der Ausarbeitung der Allgemeinen Bebauungspläne der Gemeinden (PAG) hat der Service des sites et monuments nationaux nicht so ein intensives Inventar erstellt. Er hat aber jedes Gebäude schon einmal aufgezeichnet und gesagt: Daumen hoch, Daumen runter. Wir haben ein Sicherheitsnetz im Gesetz vorgesehen, das dabei hilft, alles, was von den Gemeinden bereits in den PAG erkannt wurde, schon einmal unter eine Art Schutz zu stellen. Das heißt, wenn man an diesen Gebäuden etwas ändern möchte, muss man beim Service des sites et monuments nationaux einen Antrag stellen. Parallel dazu arbeiten wir Gemeinde für Gemeinde diese Inventare ab. Wir haben vier Gemeinden abgeschlossen, nächste Woche (am 25.11.2019) werden wir das Inventar für Helperknapp vorstellen. Natürlich werden wir auch die Häuser, die da als national schützenswert erkannt wurden, klassieren. Parallel dazu läuft die Prozedur, wie wir sie jetzt schon haben. Also, sie wird noch etwas verfeinert, um auch Vereinigungen die Möglichkeit zu geben, schützenswerte Gebäude vorzuschlagen. Parallel dazu haben wir immer noch die Prozedur mit der COSIMO (Commission des sites et monuments nationaux), die eine Stellungnahme abgibt.
Ist das denn alles in zehn Jahren zu schaffen? Das, was jetzt passiert, sind wirkliche Begehungen, die Gebäude werden intensiv ja auch von innen geprüft.
S.T.: Es hängt von den Mitteln ab, die der Service de l’inventaire zur Verfügung stellt. Wir haben die bereits aufgestockt, und wenn ich noch zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt bekomme, dann können wir auch weiterhin personell aufstocken.
Die Begehungen gingen los mit nur zwei bis drei Leuten. Wurde denn mittlerweile schon ein wenig aufgestockt? Die Rede war von 10 Personen.
S.T.: Sie sind noch nicht bei 10. Es geht etappenweise voran. Bis jetzt wurde mit Expertenverträgen gearbeitet, das heißt, dass die Leute nicht angestellt waren und nicht so gebunden waren an den Service. Aber wir wollen wirklich feste Anstellungen.
Nun zu einem anderen Gesetz, dem Archivgesetz, das letztes Jahr im September in Kraft getreten ist. Luxemburg hat damit als letztes aller EU-Länder auch ein eigenes Archivgesetz. Welches sind die Pläne, was die Aufstockung des Personals angeht auf der einen Seite, und auf der anderen Seite, was den Umzug des Archivs nach Belval angeht.
S.T.: Zum Umzug: Der Gesetzesentwurf für den Bau des neuen Archivgebäudes wurde jetzt von der „commission d’analyse critique“ gutgeheißen. Das bedeutet, er wird demnächst im Regierungsrat angenommen, sodass die Arbeiten nach einer Vorlaufzeit (mit Ausschreibungen usw.) im nächsten Jahr anfangen könnten. Das wird dann ca. zwei Jahre dauern. Wenn das alles reibungslos klappt, kann das Archiv relativ zeitnah umziehen. Auch da ist das Personal natürlich die besondere Herausforderung, u.a. weil wir eine Universität haben, für die – gerade auch im historischen Bereich – das Archiv von besonderer Bedeutung ist. Und die Historiker*innen müssen natürlich zurückgreifen können auf das Nationalarchiv. Ein Teil des Archivs ist jedoch noch nicht aufgearbeitet. Es geht jetzt also vor allem erst einmal darum, die Bestände aufzuarbeiten. Dann geht es darum, eine gute Zusammenarbeit u.a. mit dem C2DH zu garantieren. Ich habe das kürzlich auch mit den Verantwortlichen besprochen.
Aber selbst wenn die Archivbestände perfekt erschlossen wären: Viele Historiker*innen kritisieren die langen Sperrfristen. Wo in Deutschland zum Beispiel 30 Jahre lang gesperrt wird, liegt die Sperrfrist in Luxemburg bei 50 Jahren. Beim secret fiscal sogar bei 100 Jahren. Das ist eine Sperrfrist, die Sie selbst im letzten Jahr, noch vor den Chamber-Wahlen, kritisiert haben. Deshalb meine Frage: Gibt es Aussichten darauf, dass man die Sperrfristen noch einmal überdenkt?
S.T.: Es gibt ja auch Kriterien, wie sie für Forschungszwecke aufgehoben werden können. Aber natürlich, man kann darüber nachdenken, nach einer gewissen Zeit, wenn wir Erfahrungswerte haben. Aber da brauchen wir einen Konsens. Und da stoßen wiederum verschiedene Interessen aufeinander. Ich persönlich bin der Meinung, dass die historische Recherche sehr wichtig ist, um zu verstehen, wer wir sind. Wir sprechen sehr viel über Identität. Was ist die Luxemburger Identität? Das lässt sich ausreichend nur beantworten, wenn darüber richtig gearbeitet werden kann. Eine noch größere Transparenz in den Archiven würde uns sicherlich nicht schaden. Aber das Gesetz ist noch relativ neu. Und es ist nicht vorgesehen, dass ich es zeitnah verändere. Klar ist andererseits, dass wir nach ein paar Jahren evaluieren, wie viele Anträge wir bekommen haben, wo es problematisch ist, welche Sperrfristen geeignet sind und welche es nicht sind. Und dass wir dann noch einmal in aller Ruhe darüber diskutieren.
Zum Abschluss noch zwei Fragen. Wenn ich über die erste Frage mit Leuten in Luxemburg spreche, werde ich oft belächelt, aber ich meine sie vollkommen ernst. Gibt es eine Chance darauf, dass noch in dieser Legislaturperiode Luxemburg wieder am Eurovision Song Contest (ESC) teilnehmen wird?
S.T.: Das liegt ja nicht an mir. Soweit ich das überblicke, sind es ja die Fernsehstationen, die das organisieren.
Das ist zwar richtig. Aber da das Kulturministerium – neben dem Medienministerium – doch sicherlich der Ansprechpartner für RTL wäre, können Sie ja zumindest die Frage beantworten, ob es Pläne bei RTL gibt, das zu tun. Oder andersrum: Gibt es von Seiten des Kulturministeriums ein Interesse am ESC, oder ist das uninteressant?
S.T.: Es ist nicht meine allererste Priorität, weil ich denke, wir haben sehr viel damit zu tun, uns so aufzustellen, dass die Künstler*innen optimal nutzen können, was wir strukturell anbieten. Und wir haben sehr viel Arbeit vor uns, wir sind dabei, den Kulturentwicklungsplan wirklich abzuarbeiten. Sodass wir das jetzt nicht in Angriff nehmen. Die Idee hinter dem ESC finde ich wirklich toll. Und ich habe das als Kind immer angesehen. Aber die Entwicklung gefällt mir immer weniger. Es ist mittlerweile so ein Hyper-Event geworden.
Nun, es ist halt ein Moment, in dem ganz Europa gemeinsam vor dem Fernseher sitzt. Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Hätten Sie für die Feiertage einen Buch-Tipp für die forum-Leser*innen?
S.T.: Für alle, die es nicht kennen: Saša Stanišić, Herkunft. Ein fantastisches Buch. Ich kann es nur jedem wärmstens empfehlen. Ein weiteres Buch, das mich unglaublich begeistert hat, ist der Debüt-Roman der irischen Schriftstellerin Sally Rooney, Conversations with Friends. Das ist eine tolle junge Schriftstellerin, die ein wunderbares Generationenporträt vorgelegt hat. Und natürlich auch das Buch von Elise Schmit: Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen.
Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Das Interview fand am 14. November 2019 statt, die Fragen stellte HM.
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