Literarische Wildfänge

Aspekte des nature writing zwischen gestern und heute

Das im 19. Jahrhundert in den USA entstandene nature writing ist ein literarisches Genre, das die Natur in den Mittelpunkt stellt und uns dazu bringt, den Platz, den der Mensch in ihr einnimmt, zu hinterfragen. 

Das nature writing ist in seiner ursprünglichen Essenz untrennbar mit der amerikanischen Kultur und Geografie verbunden. Im Zentrum des nature writing steht das Konzept der wilderness, im Gegensatz zur Idee der Zivilisation. Der Begriff der wilderness entstand in den USA und bezeichnet die wilde Natur, deren Weiten für den Einzelnen, der sie erobern oder sich mit ihr auseinandersetzen möchte, Gefahren mit sich bringen. Dieses Verhältnis des Menschen zur Natur ist typisch für die angelsächsische Gesellschaft, wie ein 1964 erlassenes Bundesgesetz zum Schutz der Natur zeigt. Dieses Gesetz definiert wilderness gesetzlich als „einen Ort, an dem das Land und seine Lebensgemeinschaft nicht durch den Menschen behindert werden und der Mensch selbst nur ein vorübergehender Besucher ist“. Diese Definition beinhaltet eine kolonialistische Komponente, da hier die Präsenz indigener Kulturen ausgeblendet wird. In dieses Deutungsfeld fügen sich literarische Pioniere wie Hermann Melville, James Fenimore Cooper oder Jack London ein. Ein Meilenstein der amerikanischen Dichtung, Walt Whitmans Sammlung Leaves of Grass (1855) ist ebenfalls dem nature writing zuzuordnen. Als wichtigster früher Vertreter des nature writing wird allgemein Henry David Thoreau (1817-1862) angesehen. Mit Walden, or Life in the Woods (1854) wird Thoreau die Urheberschaft des nature writing zugeschrieben.

© Philippe Reuter / forum

Das nature writing trägt in seinem Inneren eine doppelte Botschaft: die Schönheit der wilden Natur zu besingen und die Gesellschaft vor dem drohenden Verschwinden derselbigen zu warnen. Die zweite Botschaft ist auch deshalb so wichtig, weil die Geschichten des nature writing nicht nur die Rückkehr des Menschen in seinen natürlichen Lebensraum illustrieren oder die Gefährlichkeit und Schönheit der Natur verherrlichen sollen; das nature writing versteht sich auch als engagierte Literaturgattung, die sich bemüht, die vom Menschen angerichteten Verwüstungen aufzuzeigen. Diese Themen im Spannungsfeld der ökologischen Krisen, philosophischer Verweisung und detaillierten naturalistischen Beobachtungen werden meisterhaft von dem amerikanischen landscape writer Barry Lopez (1945-2020) aufgegriffen; so zum Beispiel in seinen beiden Hauptwerken Arctic Dreams und Horizon, wo er sich nicht scheut, die großen Fragen der menschlichen Existenz in eine de-anthropozentrisierte Perspektive zu setzen: „Die Landschaft vermittelt einen Eindruck von absoluter Beständigkeit. Sie ist nicht feindlich. Sie ist einfach da – unberührt, still und vollständig. Sie ist sehr einsam, doch die Abwesenheit jeglicher menschlicher Spuren gibt einem das Gefühl, dass man dieses Land versteht und seinen Platz darin einnehmen kann.“

Ebenfalls aus dem englischsprachigen Raum stammen die Perspektiven von Annie Dillard (*1945) und Nan Shepherd (1893-1981). Erstere ist bekannt durch ihr Hauptwerk Pilgrim at Tinker Creek, wie Thoreaus Walden, ein „meteorologisches Tagebuch [ihres] Geistes“ (in ihren eigenen Worten), eine Meditation und ein Sachbuch über eine intimere Sicht auf die Welt. Im Alter von 29 Jahren gewann Dillard für Pilgrim den Pulitzer-Preis, und das Buch gilt nach wie vor als eines der besten Naturerzählungen. Dillard ist eine Mystikerin: Was sie auszeichnet, ist ihr Wunsch, das Heilige und Göttliche entlang eines Baches in den Wäldern von Virginia zu sehen. Sie beobachtet ihre eigene Art des Sehens auf poetische, wissenschaftliche und spirituelle Weise: „Ich war mein ganzes Leben lang eine Glocke gewesen und hatte es nie gewusst, bis ich in jenem Moment hochgehoben und angeschlagen wurde.“2

Das nature writing trägt in seinem Inneren eine doppelte Botschaft: die Schönheit der wilden Natur zu besingen und die Gesellschaft vor dem drohenden Verschwinden derselbigen zu warnen.

Den Klang dieser Berufung vermag auch Anna „Nan“ Shepherd vernommen haben, in ihren unzähligen Streifzügen durch die harschen Granitzüge der Cairngorm Mountains in Schottland. The Living Mountain ist ihre Meditation über hohe und heilige Orte: Ein Spaziergang in die Berge hinein statt auf sie hinauf, dort wo ihre (meist) männlichen Counterparts dem Lockruf der Gipfeleroberungen nicht widerstehen. Hier verharrt sie in den kargen Talgründen und erfährt das große Ganze durch kleinste Sinneserfahrungen, die in ihrer Intensität und Körperlichkeit schon fast erotisierend zu nennen sind. Sie schreibt: „Oft gibt sich der Berg am vollständigsten, wenn ich kein Ziel habe, sondern nur losgezogen bin, um mit dem Berg zu sein, wie man einen Freund besucht, mit keiner anderen Absicht, als mit ihm zu sein.“3 Shepherd war eine Ortskundige, die tief in die Cairngorms, die östlichen Highlands von Schottland, eintauchte. Sie schwamm in Bächen, beobachtete wilde Tiere und schlief im Freien – ein tiefes Engagement, das sie in leuchtender Prosa beschreibt. The Living Mountain wurde während des Zweiten Weltkriegs geschrieben, als Shepherd oft „stravaigin“ ging – ein schottisches Wort für wandern. Aus unbekannten Gründen ließ sie das Manuskript fast 40 Jahre lang in einer Schublade liegen. Es wurde erst spät in ihrem Leben, 1977, veröffentlicht.

Eine Naturgeschichte des Menschen

Derweil die Amerikaner nature writing exklusiv der Non-Fiction zuordnen, öffnet sich das Genre in anderen Sprachräumen auch der Lyrik, Romanen und Sachbüchern, mit dem Risiko, dass der Begriff nature writing zu einem Schlagwort verkommt, unter welchem Werke recht unterschiedlicher Faktur und Ansprüche vermarktet werden, frei nach dem Bonmot Nature sells. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, in diesen Sumpfgebieten der Publizistik nach der seltenen Pflanze Ausschau zu halten. So feiert in Frankreich etwa der Roman Et vous passerez comme des vents fous Achtungserfolge bei Literaturfestivals und Publikum. Clara Arnaud (*1986) beschreibt hierin die Spannungen inmitten einer Berggemeinschaft in den französischen Pyrenäen, wo Schafszüchter auf Naturschützer und Biologen stoßen. Der wiedereingeführte Braunbär symbolisiert hierbei die wilderness und stellt die Frage, inwieweit diese ihren Platz in den weitestgehend anthropogenisierten Bergregionen Europas hat. In Deutschland sind die Lyrikerinnen Marion Poschmann (*1969) und Esther Kinsky (*1956) feste Größen der Literaturszene. „Nature writing ist kein Trostpflaster für sinnentleerte Großstädter, die in einer idealisierten Natur jene Ursprünglichkeit und Wildheit wiederzufinden suchen, die ihrem Leben abhandengekommen sind. Nature writing ist vielmehr ein notwendiges Korrektiv zur technischen Epoche des Anthropozän“, stellt der Literaturwissenschaftler Jürgen Goldstein fest.4 Insbesondere Lyrik, wie die der beiden genannten Dichterinnen kann hierbei einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie uns Deutungsräume eröffnet, die unsere eigene Beziehung zur Natur und schlussendlich zu uns selbst widerspiegeln, vor dem Hintergrund aktueller Bedrohungen durch den Klimawandel: „Noch gestern betete ich Berge an / ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie / an mich, nach Hause, zur Erinnerung / an das Zerstörungswerk, das ich hier tat / ich taute Grönland auf mit meinem Blick / ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll / der Andacht überflog.“5 Schreiben über die Natur ist schlussendlich Schreiben über den Menschen.

In Luxemburg hat rezent die Servais-Preisträgerin Ulrike Bail (*1960) das Feld des lyrischen nature writing mit ihrem Band im halblichten geäst deines atems behutsam betreten. Ästhetische und sinnliche Erfahrungen im Walde zeichnen hier den Nährboden für eine zutiefst persönliche Erfahrung mit der Trauer. „in den wipfeln der buchen / die whatsapp von deinem tod / wie pocken tränen vernarbt / an der unterseite der blätter / treibsand und salz / in die wirbel der luft / schiebt der hund die schnauze / als wärst du noch da“.6 Eine Trauer, die aus der persönlichen Sphäre austritt und sich wie ein Pilzmyzelium im Waldboden verbreitet und die Hoffnung nährt, dass auch der Mensch seinen Platz (wieder)finden kann: „Trost entsteht, wenn man wieder lernt zu sehen, zu benennen, wahrnimmt, für sich selbst einen Ort findet“.7 Dieser Ort ist manchmal eben dieses dünnbesiedelte Feld, das punktuell von einem weiteren Servais-Preisträger bestellt wurde: in Giele Botter dekliniert Nico Helminger die Vielschichtigkeit seiner Heimat, den erzschwangeren Landschaften des Differdinger Minettebeckens, wo nichts mehr ist, wie es einmal war und doch, „il reste les noms, noms en formes de calebasses, d’hématites brunes et de marnes micacées“.8

Schreiben über die Natur ist schlussendlich Schreiben über den Menschen.

Auch wenn das nature writing im hiesigen Literaturbetrieb ein eher marginales Dasein fristet9, reichen seine Ursprünge doch bis in die Nachkriegszeit zurück. Auf seinen Wanderungen durch das Großherzogtum10 lässt sich Carlo Hemmer (1913-1988) immer wieder auf Betrachtungen ein, die im weiteren Sinne durchaus dem Geiste des nature writing entsprechen. Noch offensichtlicher ist die Beschäftigung mit der Metaphorik der Natur im Werk von Lex Jacoby (1930-2015), so zum Beispiel dem ebenfalls mit dem Servais-Preis ausgezeichnetem Band Wasserzeichen. Stadt und Land, Zivilisation und Natur, Entfremdung bilden hierin die Dualität, in deren Spannungsfeld sich die einzelnen Aspekte dieses Textes einfügen: „klein und unansehnlich, aber schon mit allen Runzeln des Alters in Borke und Stamm […] Hier hatten Kenner einen Baum im Wachstum gehemmt.“11 Die von Menschenhand verkrüppelte Bonsaikiefer wird damit zum Symbol der Entfremdung von Mensch und Natur, ein wiederkehrendes Thema auch des nature writing.

Das Gelände lesen

Die rezente Renaissance des deutschsprachigen nature writing als medienwirksames Schlagwort schlägt sich aber auch in der Luxemburger Literatur nieder: So wurde Bernd Marcel Gonner 2021 der Deutsche Preis für nature writing für seinen Essay Sediment und Sedum verliehen. Gonner (*1966), Luxemburger von väterlicher und Böhme von mütterlicher Seite, lebt im ländlichen Baden-Württemberg auf einem Hofgut und erinnert hiermit durchaus an den Archetypus des nature writer amerikanischer Prägung, der sich aus der Gesellschaft weitestgehend zurückzieht: Er schreibt nicht nur über die Natur, nein, sein Schreiben ist schlussendlich nichts anderes als die schriftgewordene Erfahrung der Natur, die er durch seine Tätigkeit als Landschaftspfleger tagein tagaus erlebt. So überrascht es denn auch nicht, dass eines der zentralen Motive seines Werkes der Trockenrasen ist, wie er typisch für die mageren Muschelkalkböden des oberen Taubertals ist, der Heimat des Autors, sozusagen sein persönliches Walden: „Die Landschaft ähnlich – verwandt, verschwistert, verschwippt, -schwägert – der meiner Kindheit und Jugend im Mittleren Taubertal. Nur, dass das Tal hier oben enger ist, zwischen bequemem Villenpool und halb klemmiger Mietshausbadewanne, und die Hügel flacher. Erst bei Rothenburg der Canyon: Steilabfälle, Sägeschnitte in die Muschelkalkhochfläche, eine Spitzkehre jagt die nächste, drunten im Grund geht man gut irr. Der Fluss Bausch und Bogen.“12

Das zeitgenössische nature writing erlebt demnach in seinem Streben nach Naturerfahrung und Befreiung von (zumindest vermuteten) zivilisatorischen Fehlentwicklungen, trotz aller auch berechtigter Kritik an der Authentizität des Konzeptes, eine stetige Erneuerung, und wird zugleich inklusiver und vielfältiger in seinen Themen und Biografien: „Es sind noch Lieder zu singen, jenseits der Menschen.“13


Robert Weis (geb. 1980 in Esch-sur-Alzette) ist Naturwissenschaftler, Autor und Verleger von Lyrik-Bänden.


1 Barry Lopez, Arctic Dreams, New York, Knopf Double Day, 1986. Aus dem Englischen übersetzt durch den Autor dieses Beitrages.

2 Annie Dillard, Pilgrim at Tinker Creek, New York, HarperCollins, 1974. Aus dem Englischen übersetzt durch den Autor dieses Beitrages.

3 Nan Shepherd, The Living Mountain, London, Canongate, 1977. Aus dem Englischen übersetzt durch den Autor dieses Beitrages.

4 Jürgen Goldstein, Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing, Berlin, Matthes & Seitz, 2019.

5 Marion Poschmann, Nimbus, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 2020.

6 Ulrike Bail, im halblichten Geäst deines atems, St. Ingbert, Conte Verlag, 2023.

7 Esther Kinsky, Schiefern, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 2020.

8 Nico Helminger, „Giele Botter“, in: ders., Abrasch, Differdange, Editions Phi, 2014.

9 Erwähnenswert wären hier auch noch der Lyrikband Flo(ts) von Florient Toniello (Editions Phi, 2015) und der Essay Quallen. Ein Portät von Samuel Hamen (Matthes & Seitz, 2022).

10 Carlo Hemmer, Besinnlich-kritisches Luxemburger Wanderbuch, Mit Photographien von Marcel Schroeder, Luxemburg, 1974.

11 Lex Jacoby, „Bonsai“, in: ders., Wasserzeichen, Luxemburg, Editions des cahiers luxembourgeois, 1995.

12 Bernd Marcel Gonner, Sediment und Sedum. Ein Essay, Ludwigsburg, Killroy Media, 2021.

13 Paul Celan, Fadensonnen, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 1968.

 

 

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