Luxemburgisch zwischen Variation und Normierung

Ein Einwurf

Dem Luxemburgischen geht es derzeit gut.1 Die Sprache erfreut sich wachsender Beliebtheit und die Nachfrage nach Sprachkursen steigt kräftig; auch nimmt ihre Präsenz in der Öffentlichkeit zu, sei es auf Schildern oder Plakaten, auf Webseiten oder in der Werbung. Darüber hinaus hat sich das Luxemburgische in den letzten Jahren zu einer Schreibsprache entwickelt, die für alle Arten von Kommunikationsanlässen angemessen ist, von Facebook-Posts bis hin zu wissenschaftlichen Arbeiten – auch wenn sie noch nicht in allen Domänen gleich stark vertreten ist. Es gibt also aktuell kaum Grund anzunehmen, die Sprache sei gefährdet oder werde durch die starke Präsenz des Französischen im Land zurückgedrängt, wie dies verschiedentlich getan wurde. Dass und in welchem Ausmaß das Luxemburgische eine lebendige Sprache ist, zeigen auch die vielfältigen Ressourcen, auf die Sprecher.innen zurückgreifen, um sie weiterzuentwickeln: Neben den Dialekten mit ihren regionalen Eigenheiten in Aussprache und Wortschatz kommen eine Reihe weiterer Quellen hinzu, welche die Vielfältigkeit der Sprache kennzeichnen. Dazu gehören etwa

  • der hohe Anteil an (neuen wie bereits integrierten) entlehnten Varianten aus dem Deutschen, Französischen und Englischen;
  • jugendsprachliche Elemente mit Anleihen in verschiedenen Sprachen (z.B. Serbokroatisch oder Jenisch);
    durch anhaltenden Kulturkontakt mit dem Portugiesischen und Italienischen entstandene Formen;
    individuelle Vorlieben in der Schreibung des Luxemburgischen (durch weitgehende Regelunkenntnis in der Bevölkerung);
  • sogenannte ‚freie‘ Variation, also das Nebeneinander von mehreren Varianten zur Bezeichnung derselben sprachlichen Funktion (z.B. Pluralformen wie „Busser“ / „Bussen“ für „Busse“), für die kein offensichtlicher Grund vorliegt.

Möglicherweise sind auch deshalb selbst unter Menschen mit Luxemburgisch als Erstsprache Diskussionen darüber, „wie man denn auf Luxemburgisch sagt“, häufig zu beobachten. Ein Grund hierfür liegt sicher in dem Umstand, dass das Luxemburgische – anders als die meisten Nationalsprachen – über keine vollständig ausgebaute Norm (auch Hoch- oder Standardsprache genannt) verfügt, die Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Stil verbindlich regelt. Noch nicht.

Eine Sprache im Umbruch

Die Vielfalt des Luxemburgischen befindet sich nämlich gerade an einem entscheidenden Punkt ihrer gesellschaftlichen Entwicklung.2 Die Sprache erfährt eine (soziokulturelle wie linguistische) Aufwertung, die zu Verschiebungen im öffentlichen Diskurs ebenso wie im komplizierten Gleichgewicht der Mehrsprachigkeit im Land führt. Auch wenn der teilweise schwer erträgliche Sprachpopulismus abgeflaut zu sein scheint, sind die Folgen einer politischen Instrumentalisierung des Luxemburgischen im Chamber-Wahlkampf 2018 derzeit allzu sichtbar. Erstmals hat Luxemburg eine offizielle Sprachenpolitik, die mit einem Fördergesetz samt Aktionsplan, einem Sprachkommissar und Zentrum für das Luxemburgische neue sprachenpolitische Institutionen geschaffen hat, die klar in Richtung eines strukturellen Ausbaus weisen. So sieht das Gesetz unter anderem eine Normierung des Luxemburgischen vor, und der Conseil Permanent de la Langue Luxembourgeoise hat jüngst eine neue Fassung der offiziellen Orthographie ausgearbeitet, die unter anderem Variantenschreibungen reduzieren soll. Dazu gibt es Bestrebungen, die Sprache stärker in Schule und Erwachsenenbildung zu fördern – alles deutet also in Richtung einer Entwicklung des Luxemburgischen als hochsprachliche Norm.3

Diese Entwicklungen sind verständlich, bringt doch der wachsende Gebrauch des Luxemburgischen als (öffentliche) Schriftsprache praktische Erfordernisse mit sich, z.B. eine allseitig nachvollziehbare Rechtschreibung und Grammatik – gerade für Sprachlerner.innen. Auch ist eine offizielle Sprachenpolitik ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zur vorherigen Laissez-Faire-Haltung der Regierung. Zugleich jedoch stellt sich damit die Frage, wie und nach welchem Vorbild denn das Luxemburgische weiter ausgebaut und normiert werden soll? Derzeit scheinen viele Vorhaben eine klassische hochsprachliche Norm anzustreben, d.h. eine Standardisierung von Schreibung, Grammatik, Wortschatz und – mittelbar – Aussprache mit geringer Variantentoleranz, alles eben, was eine ‚richtige‘ Standardsprache braucht. Das neue Zenter fir d’Lëtzebuerger Sprooch, in dem die Wörterbuchstelle Lëtzebuerger Online Dictionnaire aufgegangen ist, wird diesem Ziel Vorschub leisten. Und auch das Institut für luxemburgische Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität hat an diesen Entwicklungen (ungewollt) Anteil: So wird dort derzeit mit großem Aufwand Variation im gesprochenen Luxemburgischen mittels der Crowdsourcing-App Schnëssen erhoben;4 aus den Ergebniskarten und -diagrammen lassen sich Rückschlüsse auf aktuellen Sprachwandel und „dominante“ Formen in Aussprache, Wortschatz und Grammatik ziehen – die wiederum leicht als Grundlage einer Normierung dienen könnten.

Um diesen Veränderungen nachzugehen, möchte ich zunächst einige Motive der aktuellen Entwicklungen offenlegen (ohne dabei den unerquicklichen sprachpopulistischen Diskurs wiederzukäuen), um dann in einem zweiten Schritt Merkmale sprachlicher Normen zu diskutieren. Daran anschließend wird zu fragen sein, ob und wie denn eine Normierung des Luxemburgischen möglich wäre, die eben nicht in eine klassische hochsprachliche Norm mündet.

Sprachen, Normen und Komplexe

Zunächst also zu den Motiven. Der sprachliche Perfektionismus vieler Luxemburger.innen ist hinlänglich bekannt: Man spricht ordentliches Französisch (und ist ja auch bei jeder Gelegenheit stolz auf die eigene Mehrsprachigkeit), vermeidet selbiges aber möglichst, aus schlichter Angst, Fehler zu machen. Man schreibt im Alltag problemlos Luxemburgisch, ohne die offiziellen Regeln zu kennen, und meint sich doch immer häufiger dafür rechtfertigen zu müssen, nicht ‚korrekt‘ schreiben zu können. Einzig das Deutsche löst unter den offiziellen Sprachen kaum emotionale Reaktionen aus – was vor allem daran liegt, dass die Sprache in der Praxis kaum noch gesellschaftliche Bedeutung hat (außer in wenigen traditionellen Domänen wie der Presse und der Schule).

Hinter der Diskrepanz zwischen dem praktischen Können (Sprechen, Schreiben) und der Bewertung dieses (eigenen wie fremden) Könnens lauert das, was im öffentlichen Diskurs zumeist als sprachlicher „Minderwertigkeitskomplex“ bezeichnet wird: Man wünscht sich Anerkennung für das eigene Können, bewertet es aber zugleich als nicht gut genug, um der eigenen Normvorstellung zu entsprechen, und entwertet in der Folge dieses Können – mit den benannten Folgen. Ausgangspunkt und wesentliches Hemmnis für diesen Umstand ist der erlernte Normhorizont für sprachliche und kulturelle Modelle, der sich bislang an den ‚großen‘ Nachbarkulturen Deutschland und Frankreich ausrichtet. Besonders das Französische erweist sich in diesem Zusammenhang als problematisch, weil die Sprache in den Schulen noch immer vorrangig als ‚strikte‘ Norm unterrichtet wird, die Fehler sanktioniert, statt erfolgreiche Kommunikation im Alltag zu fördern.

Und dieser strikte Normhorizont überträgt sich ähnlich auf das Luxemburgische. So entsteht derzeit ein (individuelles wie gesellschaftliches) Bewusstsein für Normativität im Schreiben, das heißt ein Bedürfnis nach ‚richtiger‘ Schreibung und Grammatik. Das zeigt sich beispielsweise am Korrekturverhalten, also dem Beanstanden von ‚falschen‘ Schreibungen auf Facebook, RTL.lu, Werbeflyern oder Straßenschildern,5 oder eben an den eingangs erwähnten Alltagsdiskussionen über sprachliche Varianten. Es zeigt sich aber auch daran, dass Lerner.innen des Luxemburgischen selbst auf fortgeschrittenem Niveau vermehrt korrigiert werden, etwa wenn sie code-switchen, also Varianten aus anderen Sprachen im Luxemburgischen verwenden. Solche „Auf Luxemburgisch sagt man“-Korrekturen gegenüber Menschen, die man nicht für vollkompetente Sprecher.innen hält, gehören zum Repertoire einer schleichenden Normierung von Sprachpraxis.

Nun ist es nicht prinzipiell problematisch, wenn eine Sprachgemeinschaft eine normative Vorstellung der eigenen Praxis entwickelt, für gewisse Bereiche (etwa Schule oder Verwaltung) sind solche Entwicklungen sogar nötig und hilfreich. Das Wie einer solchen Normierung allerdings kann schnell problematisch werden, etwa wenn wie in Luxemburg ein Modell sprachlicher Normativität kopiert wird, das sich für andere Sprachen entwick-
elt hat (Deutsch, Französisch) und über die Schule auch hier Geltung beansprucht, das aber weder für Luxemburg und seine komplexe Mehrsprachigkeit noch für das Luxemburgische mit seiner reichhaltigen Variation passend sein muss. Und das zudem nicht zwangsläufig ist. So existiert mit Norwegen ein prominentes Gegenbeispiel für Normvorstellungen, welche die Variation selbst zum Standard erheben: Das Norwegische kennt gleich zwei (variantentolerante) geschriebene Standards, das am Dänischen orientierte Bokmål sowie das Nynorsk, das auf den norwegischen Dialekten fußt, zudem gibt es keine normierte Aussprache; Sprecher.innen verwenden im Gespräch einfach ihre je regionalen Dialekte.6

Merkmale sprachlicher Normativität

Befragt man die wissenschaftliche Literatur zu sprachlichen Normen, stößt man auf eine Reihe an Merkmalen, die diese kennzeichnen.7 Dazu gehören in erster Linie

  • die Kodifizierung in Wörterbüchern, Grammatiken und Sprachlehrwerken;
  • die Einlagerung in Institutionen, etwa durch Gesetze, und Vertretung durch Autoritäten wie Akademien (Académie française) oder Gremien (Rat für deutsche Rechtschreibung);
  • eine weitgehende Invariabilität mit Ausnah­men im Wortschatz (und eingeschränkt in der Aussprache);
  • eine stilistische Differenzierung nach Gebrauchs­anlässen und -domänen;
  • eine Hierarchisierung von erwünschten (‚richtigen‘) und abweichenden (‚falschen‘) Varianten;
  • eine überregionale Geltung und öffentliche Verwendung, etwa in formellen Situationen (z.B. durch Nachrichtensprecher.innen);
  • die schulische Vermittlung und der damit verbundene Vorbildcharakter gegenüber anderen Sprech- und Schreibweisen.

Diese Merkmale prägen die klassische Vorstellung sprachlicher Normativität, wie sie in den meisten Diskursen vorherrscht und die auch in Luxemburg die Rahmenbedingungen für den weiteren Ausbau der Sprache bestimmt. Sieht man allerdings ein wenig genauer hin, so zeigt sich schnell, dass es eine Reihe weiterer Merkmale von Normen gibt, die diese ebenso prägen, sich aber von der klassischen Vorstellung entfernen – und die für das Luxemburgische in besonderer Weise charakteristisch sind.

Die Virtualität der Norm: Sprachliche Normen bleiben, auch wenn sie kodifiziert und institutionell verankert sind, bis zu einem gewissen Grad virtuell. So erreicht außer trainierten Sprecher.innen in Funk und Fernsehen kaum jemand die Aussprachenorm des Deutschen, und auch die strikten Vorgaben zur Vermeidung englischer Lehnwörter in Frankreich werden von kaum jemandem eingehalten. Dies gilt ebenso für die Schreibung, die offiziell ohnehin nur für Vertreter.innen staatlicher Institutionen gilt: Wer nicht als Beamter oder Lehrerin arbeitet, kann schreiben, wie er oder sie möchte. In Luxemburg deuten die Ergebnisse aus der Schnëssen-App darauf hin, dass Sprecher.innen über eine recht große Variantentoleranz verfügen, das heißt Variation im Luxemburgischen wird zwar bemerkt, aber nicht zwangsläufig als falsch oder nicht angemessen bewertet (was auch mit der Abwesenheit einer offiziellen Norm zusammenhängt) – außer natürlich bei Sprachlerner.innen.

Die Permeabilität der Norm: Selbst wenn das ausdrückliche Ziel sprachlicher Normierung in einem weitgehend invarianten Standard besteht, erweisen sich die meisten Normen in der Praxis als durchlässig. Im Bereich des Wortschatzes sind Standardsprachen ohnehin flexibel, das zeigt etwa das regelmäßige Update des deutschen Duden mit neuen Wörtern, aber auch in anderen Bereichen wie Rechtschreibung (Anpassungen durch Reformen), Grammatik (Ausbreitung neuer Formen wie „ich erinnere das“ statt „ich erinnere mich daran“), Stil („Guten Tag“ oder „Hallo“ statt „Sehr geehrte Damen und Herren“ als Anredeform in formellen E-Mails) oder Soziopragmatik (Markierung von Gender mit * oder _ im Deutschen) sind selbst Standardsprachen von Wandel gekennzeichnet. Für Luxemburg gilt dies umso mehr: Angesichts der eingangs erwähnten vielfältigen Quellen für Variation und Innovation ist das Luxemburgische eine in besonderem Maße plastische Sprache, die beständig neue Elemente integriert und hervorbringt, seien es neue Lehnwörter, grammatische Elemente oder individuelle Schreibvarianten.

Die Praktikabilität der Norm: Sprachliche Normen müssen, trotz (oder gerade wegen) der stilistischen Differenzierung und Unterscheidung von ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Varianten, die sie hervorbringen, praktikabel bleiben. Eine strikte Norm, die alle Aspekte ihrer Verwendung exakt regelt, im Alltag aber von Sprecher.innen nicht umgesetzt werden kann, hilft niemandem weiter. Oberste Maxime von Kommunikation ist die erfolgreiche Bewältigung des Alltags, die sprachlichen Mittel hierzu und ihre ‚Richtigkeit‘ sind demgegenüber letztlich sekundär. Ziel einer jeden Norm sollte deshalb ihre Rückführbarkeit auf die (bzw. Anwendbarkeit in der) Praxis sein. Gerade in Luxemburg erweist sich die klassische Vorstellung sprachlicher Normativität als schwierig: Wo fast alle Sprecher.innen mehrsprachig – und nicht in allen Sprachen gleich kompetent – sind,8 sind auch Phänomene wie Code-Switching unvermeidlich. Dahinter verbirgt sich aber gerade kein fehlerhaftes Sprechen, sondern vielmehr eine erfolgreiche kognitive Anpassung an die praktischen Erfordernisse eines mehrsprachigen Alltags.

Die Legitimität der Norm: Auch wenn Normen in der Regel hohes soziales Prestige zukommt, sei es durch Verwendung in formellen Situationen (Nachrichten) oder staatlichen Institutionen (Schule), betrifft ein entscheidender Punkt im Zusammenhang mit sprachlicher Normativität die Frage, wie Normen gesellschaftlich legitimiert werden. Man unterscheidet hier Modelle wie etwa das deskriptive Vorgehen der Duden-Redaktion bei der Aufnahme neuer Wörter vom eher präskriptiven Vorgehen der Académie française bei der Regulierung des Französischen. Ebenso kann man Normen dahingehend befragen, welche ideologische Motivation ihnen Geltung verschafft, ob ihnen also ein rationales Modell zugrunde liegt, das Standardsprachen lebensweltliche Universalität und soziale Neutralität zuschreibt, oder aber ein romantisches Modell, das demgegenüber die identitären und sozial hierarchisierenden Aspekte von Normen betont.9 In Luxemburg erleben wir derzeit gewissermaßen beides: zum einen die politische Aufladung des Luxemburgischen als Symbol einer ‚nationalen Identität‘, zum anderen die praktische Rolle der Sprache als Medium der Integration.

Welche Norm für das Luxemburgische?

Was lässt sich nun aus der Analyse von Motiven und Merkmalen sprachlicher Normativität für Luxemburg folgern? Wie lassen sich das hohe Ausmaß an Variation, der Wunsch nach sprachlicher Normierung, das problematische Vorbild ‚strikte Norm‘ und die spezifisch luxemburgische Sprachpraxis pragmatisch vereinen? Oder einfacher: Was für eine Norm passt zum Luxemburgischen? Diese Frage lässt sich kaum letztgültig beantworten, weil Normen (zwangsläufig) historisch wandelbar sind. Eine derzeit hilfreiche Antwort müsste dennoch Argumente für folgende Teilfragen liefern, die der besonderen Sprachensituation Luxemburgs geschuldet sind: Wie lässt sich das Luxemburgische normieren, ohne

a) die Plastizität der Sprache ebenso wie ihre vielfältigen Quellen für Variation und Innovation zu beschneiden?
b) strikte Modelle von Normativität zu kopieren, die sprachliche Reinheit über lebensweltlichen Nutzen stellen?
c) die praktische Funktion der Sprache als Integrationsmittel zugunsten identitärer Motive hintanzustellen?

Sinnvoll erscheint mir vor diesem Hintergrund die Entwicklung einer toleranten Norm,10 die regionale und Schreibvarianten ebenso zulässt wie entlehntes Vokabular oder kontaktbedingte Formen. Gerade in einer ‚Gesellschaft der Sprachlerner.innen‘ wie Luxemburg, in der das Wachstum der Sprachgemeinschaft wesentlich von Migration getragen wird, liegt im innovativen Potenzial von Variation eher eine Chance als ein Risiko. Auch wenn keine Norm ohne kodifizierte Regeln und eine gewisse Invarianz auskommt, bietet Luxemburg die spannende Möglichkeit, die Grundlagen für die Normierung des Luxemburgischen direkt aus der Alltagspraxis der Sprecher.innen zu gewinnen statt aus den Vorstellungen von Experten-Gremien und Sprachaktivist.innen.

Natürlich stünde eine solche flexible Norm in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den praktischen Anforderungen an eine Standardsprache. Allerdings zeigt das Beispiel Norwegen, dass keineswegs Chaos oder Sprachverfall zu befürchten wären. Im Gegenteil erweist sich die vielfältige Variation dort als stete Quelle sprachlicher Dynamik, ohne größere gesellschaftliche Spannungen zu erzeugen. Zudem böte eine tolerante Norm die Möglichkeit, die vor allem im schulischen Kontext erlernten, im Alltag allerdings kaum hilfreichen Vorstellungen von ‚richtigem‘ und ‚falschem‘ Sprechen (und Schreiben) zu hinterfragen. Richtiges Sprechen ist nämlich wie gesagt vor allem solches Sprechen, das eine erfolgreiche Bewältigung des Alltags ermöglicht.

Auch das Argument, Luxemburgisch müsse, um als ‚vollwertige‘ Sprache anerkannt zu werden und als Mittel kultureller Selbstbehauptung zu einer ‚nationalen Identität‘ beizutragen, eine ähnlich strikte Norm entwickeln wie etwa das Deutsche oder Französische, lässt sich leicht entkräften. Wäre es nicht ebenso eigenständig, eine neue und spezifisch luxemburgische Vorstellung sprachlicher Normativität zu entwickeln, die von der charakteristischen Sprachenvielfalt ausgeht und Variation weniger als Hindernis denn als Chance begreift? Diese wäre quasi Spiegelbild der hiesigen Multikulturalität, die Luxemburg zu einem besonderen Lebensort macht.

Natürlich ist der Wunsch nach stärkerer Orientierung durch sprachliche Normierung nachvollziehbar, bis zu einem gewissen Grad ist er sogar nötig, und zwar in dem Maße, wie sich das Luxemburgische als Mittel der Alltagskommunikation in allen Domänen gesellschaftlicher Praxis zunehmend entfaltet. Verwaltungen brauchen Schreibkonventionen, die ihrer staatlichen Autorität Ausdruck verleihen, und auch Lerner.innen freuen sich über konsistente Regeln im Spracherwerb.11 Andererseits müssen Regeln in allen Sprachen erlernt werden, und in einer mehrsprachigen Gesellschaft sind die meisten Sprecher.innen ohnehin mit dem Nebeneinander verschiedener Regelsysteme vertraut. Eine tolerante Norm für das Luxemburgische könnte von dieser mehrsprachigen Kompetenz profitieren und dabei – auch wissenschaftlich – etwas Neues entstehen lassen.

Es wäre schlicht schade, wenn in Luxemburg die Chance zur Entwicklung einer flexiblen und positiven Norm für das Luxemburgische verspielt würde, einer Norm, die Variation nicht tadelt, sondern fördert, Durchlässigkeit nicht eindämmt, sondern ausbaut, die von der Praxis lernt, anstatt sie zu belehren. Gerade in einer kleinen und heterogenen Sprachgemeinschaft mit hoher mehrsprachiger Kompetenz erscheint eine solche Norm möglich, weil sie vom praktischen Können der Sprecher.innen getragen wird, nicht vom bloßen ‚Kennen‘ der Expert.innen. Zudem wäre eine solche tolerante Norm etwas, das eigenständig und dabei erkennbar luxemburgisch ist. Damit würde sie – über ihre praktische Funktion hinaus – auch mehr für die kulturelle Selbstbehauptung des Landes leisten als das bloße Kopieren klassischer Normmodelle in der Hoffnung auf internationale Anerkennung.

 

 

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