- Gesellschaft, Politik
Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Bildung und Betreuung
Einblicke aus einem Luxemburger Forschungsprojekt und Perspektiven fur die zukunftige Praxis
Sprache(n) in der frühkindlichen Bildung und Betreuung
Mehrsprachigkeit ist in Luxemburg ein Thema, das nicht nur einige wenige angeht, sondern das den Alltag aller in Luxemburg lebenden und arbeitenden Menschen zutiefst prägt. Dabei richtete sich die Aufmerksamkeit bisher vor allem auf die Herausforderungen der Mehrsprachigkeit – nicht zuletzt im Zusammenhang von Diskussionen um die andauernde Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Luxemburger Bildungssystem. Neben dem sozioökonomischen Hintergrund und dem Geschlecht spielt insbesondere der sprachliche Hintergrund der Schülerinnen und Schüler nach wie vor eine entscheidende Rolle für den Bildungserfolg.1
Der enorme Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung in den letzten Jahren war entsprechend auch von bildungspolitischen Motiven wie einer frühen Sprachförderung und einem Ausgleich unterschiedlicher sozialer und sprachlicher Voraussetzungen bereits vor dem Schuleintritt getragen. Besonders den staatlich konventionierten Einrichtungen2 kam der Auftrag zuteil, „das Luxemburgische als alltägliche Umgangssprache und als Ausdruck einer gemeinsamen Identität“ zu pflegen und zu fördern.3 Darüber, wie in der Alltagspraxis der Kindertageseinrichtungen mit der sprachlichen Diversität tatsächlich umgegangen wird, war bis vor Kurzem allerdings nur recht wenig bekannt, geschweige denn wissenschaftlich belegt. Genau an diesem Punkt setzt mein im Folgenden vorgestelltes Forschungsprojekt an.Mehrsprachigkeit und frühe Bildung – ein ethnographisches Forschungsprojekt
Bei der Forschung handelt es sich um mein von 2011 bis 2015 an der Universität Luxemburg durchgeführtes Promotionsprojekt, in dem ich über vier Jahre lang ethnographische Beobachtungen in drei staatlich konventionierten Einrichtungen durchgeführt habe.4 Mein Forschungsinteresse galt dabei vor allem den Wechselbeziehungen zwischen „offizieller“ Sprachenpolitik auf der einen Seite und konkreten alltäglichen Sprachpraktiken auf der anderen Seite. Wie begegnet die erzieherische Praxis den an sie herangetragenen Erwartungen und konstruiert dabei – auch mittels der Sprachverwendung – ihr ganz eigenes Verständnis von „Förderung“, „Bildung“‚ „Pädagogik“?
Dabei hat sich bereits früh herausgestellt, dass sich die alltägliche Praxis der Sprachverwendung in den
Einrichtungen wesentlich komplexer gestaltet, als es in den pädagogischen Konzepten und programmatischen Außendarstellungen den Anschein hat. Während dem Konzept nach meist Luxemburgisch als allgemeine Umgangssprache deklariert und damit nach außen hin sichtbar gemacht wird, hört die in Luxemburg so alltägliche und von einem Großteil der Kinder und Fachkräfte gelebte Mehrsprachigkeit natürlich an den Türen der Einrichtungen nicht einfach auf. In den Gesprächen zwischen Personal und Eltern, in den Kinderbüchern und Informationsmaterialien, in der Eingewöhnungsphase gerade neu hinzugekommener Kinder – und natürlich auch unter den Kindern selbst – hört und sieht man eine Vielzahl an Sprachen, Sprachvarianten und anderen, auch non-verbalen, Kommunikationsmitteln. Wenn es um die gemeinsame Verständigung und die Gestaltung des alltäglichen Miteinanders geht, werden mehrsprachige Ressourcen durchaus zugelassen und sind teilweise sogar unerlässlich. Anders verhält es sich aber, wenn gegenüber der Notwendigkeit des gegenseitigen Verstehens auch Aspekte der gezielten Förderung und der Erreichung pädagogischer Ziele in den Vordergrund rücken. Dies möchte ich mit zwei Beobachtungsbeispielen verdeutlichen.
„Wat fir eng Faarf ass dat?“
Das erste Beispiel stammt aus einer konventionierten Crèche in Luxemburg-Stadt, die die Förderung des Luxemburgischen als allgemeiner Umgangssprache in ihrem Konzept verankert hat. „Beim täglichen Morgenkreis sammeln sich die Kinder auf Stühlen und Podesten im Halbkreis um einen bunten Teppich
herum. Vor ihnen sitzt der Erzieher Pedro, der den heutigen Kreis leitet. Nachdem sie das Begrüßungslied gesungen haben, kündigt Pedro an, wie es weitergeht: ‚Haut maachen mir Faarwen.‘ Er ruft nacheinander einzelne Kinder auf, lässt sie zu sich auf den Teppich kommen und zeigt ihnen ein farbiges Stück Papier. Dazu fragt er jedes Mal: ‚Wat fir eng Faarf ass dat?‘ Nachdem sie geantwortet haben, sollen die Kinder das Papier auf die passende Stelle des Teppichs legen, der ebenfalls nach Farben aufgeteilt ist. Beim Antworten und Zuordnen bekommen sie auch immer Unterstützung von den anderen Kindern, die den Namen der Farbe rufen und auf die richtige Stelle zeigen. Als Max (2 ½ Jahre) an der Reihe ist, antwortet dieser leise ‚bleu‘. Pedro nickt: ‚Jo, bleu. An wéi heescht et op Lëtzebuergesch?‘ Andere Kinder rufen ihm zu: ‚Blo!‘ Max wiederholt seine Antwort. Der Laut liegt irgendwo zwischen ‚bleu‘ und ‚blo‘, worauf Pedro laut vorspricht: ‚Blo!‘“
Obwohl die Fachkräfte in Gesprächen mir gegenüber stets betonen, dass Sprachförderung und Sprachenlernen weitestgehend implizit und ungesteuert im Alltag „passieren“, greifen doch alle beobachteten Einrichtungen immer auch auf solche stärker „sichtbaren“ Sprachförderformate zurück. Nach meiner Interpretation dienen diese Aktivitäten allerdings weniger der wirklichen Förderung von Sprache (kommt es doch hier – bis auf einzelne Wortäußerungen – kaum zu einem intensiveren sprachlichen Austausch) als vielmehr der Darstellung eines bestimmten Verständnisses von pädagogischer Praxis. Dieses orientiert sich an schulischen Frage-Antwort- Routinen und einem Konzept formalen Lernens, das gegenüber der aktiven Konstruktionsleistung der Kinder stärker die passive Reproduktion der von den Erwachsenen vorgegebenen Inhalte betont. Die formalisierte Struktur erlaubt es den Fachkräften, das von den Kindern erwartete „Wissen“ abzufragen und damit den Erfolg ihrer eigenen Förderpraxis sichtbar zu machen, die sich im Übrigen – auch dies zeigt das Beispiel – nicht nur auf die Kenntnisse der Farben sondern auch auf die Fertigkeiten im Luxemburgischen bezieht. Dabei antworten die Erzieherinnen und Erzieher hier nicht nur auf die (so wahrgenommenen) Erwartungen seitens der Eltern und der Bildungspolitik, die sich auf die Wirksamkeit und „outcomes“ pädagogischer Praxis richten, sondern reproduzieren auch ihr eigenes implizites und habitualisiertes Verständnis von „Lernen“ und „Bildung“, welches sie sich zumeist in ihrer Schulzeit angeeignet haben. Die sonst so alltägliche Mehrsprachigkeit wird in solchen Formaten eher ausgeschlossen und dem normativen Ziel einer einsprachigen Förderung untergeordnet. Dass diese unbewussten Schemata jedoch auch den Umgang mit anderen Sprachen prägen können, soll im zweiten Beispiel veranschaulicht werden. Hier handelt es sich um dieselbe Einrichtung, die ein Jahr später ihr Konzept etwas abgewandelt hat und nun neben dem Luxemburgischen auch Französisch und Deutsch in konkrete Sprachförderaktivitäten einbezieht.
„Am Nachmittag macht die Erzieherin Rebecca eine Aktivität mit einigen älteren Kindern (3-4 Jahre). Es geht darum, die Namen der Farben auf Luxemburgisch und auf Französisch sagen zu können. Sie nimmt dazu Buntstifte, versammelt die Kinder auf dem Teppich um sie herum und erklärt, dass sie ein Spiel spielen werden. ‚Ech soen dFaarwen eng Kéier op Lëtzebuergesch an eng Kéier op Franséisch.‘ Sie hält einen Buntstift in die Höhe und fragt: ‚Wat fir eng Faarf ass dat?‘ Die Kinder antworten im Chor mit dem entsprechenden luxemburgischen Wort. Dann fragt Rebecca: ‚An wéi seet een op Franséisch?‘ Nun herrscht Stille. Rebecca gibt selbst die Antwort: ‚Blanc.‘ Die Kinder wiederholen im Chor: ‚Blanc.‘ Rebecca bildet einen ganzen Satz daraus: ‚En français, c’est un crayon blanc.‘ Und dann nochmal auf Luxemburgisch: ‚Dat ass e wäisse Bläistëft.‘ So wiederholt sich die Szene mehrere Male, bis die ersten
Kinder anfangen, unruhig zu werden. […] Später beim Freispiel kommt Rebecca auch noch einmal auf die Farben zurück. Lian, Beni und Finn spielen mit einer blauen Decke. Sie fragt die Jungen, welche Farbe die Decke hat, was Lian auf Luxemburgisch beantwortet. Bei der Frage nach dem französischen
Wort kann sich allerdings keiner der Jungen mehr daran erinnern. Rebecca wiederholt also nochmal: ‚bleu.‘“
Auch hier dominieren die gewohnten Muster formalen Lernens – nur geht deren „Logik“ in diesem Fall nicht wirklich auf. Konnten sich die Kinder zuvor noch auf im Alltag erworbenes Wissen stützen, um die Aufgaben zu erfüllen, fehlt ihnen nun der Bezug zur alltäglichen Sprachpraxis. Es stellt sich bei ihnen wie bei der Erzieherin eine gewisse Enttäuschung ein – sie kommt zu dem Schluss, dass die Kinder das
einfach ‚noch nicht können‘. Statt die multilingualen Ressourcen der Kinder einzubeziehen, wird so ein defizitärer Blick gestützt. Erst durch die kontinuierliche Begleitung und gemeinsame Reflexion im Team konnten solche Handlungsmuster und Defizitorientierungen schrittweise aufgebrochen werden. Dies führte schließlich zur Lockerung des Konzepts und zu der Einsicht, die Förderbemühungen weniger auf den erwarteten „Output“ der Kinder und mehr auf die Qualität des sprachlichen „Inputs“ der Erzieherinnen und Erzieher zu richten.
Fazit und Perspektiven für die zukünftige Praxis
Obwohl die Einrichtungen frühkindlicher Bildung und Betreuung immer mehr als Orte „non-formaler Bildung“ gedacht werden5, zeigt sich, dass in der Praxis auch andere Orientierungsmuster unbewusst
handlungsleitend sein können. Ein wirkliches Umdenken geschieht nicht allein aufgrund veränderter
programmatischer Vorgaben, sondern bedarf ebenso einer bewussten Reflexion der bestehenden Praktiken und der ihnen zugrunde liegenden institutionellen Logiken. Diese Einsicht betrifft nicht nur die Umsetzung eines non-formalen Bildungsverständnisses, sondern richtet sich an jegliche Bestrebungen zur Veränderung und Weiterentwicklung der frühpädagogischen Praxis. Somit lassen sich aus meiner Forschung auch Schlussfolgerungen für die derzeitigen politischen Entwicklungen rund um die „plurilinguale frühe Bildung“ ableiten. Dabei wird auch von offizieller Seite immer mehr von einsprachigen Normen und Erwartungen abgelassen, Mehrsprachigkeit soll stärker als Ressource anerkannt und die Partnerschaft mit den Familien soll weiter ausgebaut werden.
Für die Realisierung solcher Absichtserklärungen sind aus meiner Sicht allerdings einige Hinweise zu bedenken, die einen erfolgreichen institutionellen Wandel zwar nicht garantieren aber doch begünstigen
können. Zum einen scheint es, dass eine zu starke Fokussierung auf die Aspekte der Förderung und der Schulvorbereitung auch einer ungewollten „Verschulung“ der frühkindlichen Bildung Vorschub leisten kann. Daher wäre es wichtig, die Fachkräfte und Einrichtungen in diesem Prozess angemessen zu begleiten und durch entsprechende Aus- und Weiterbildungsstrukturen sowie Informationsangebote aktiv zu unterstützen. Zum anderen sollte sich so eine fachliche Begleitung dann auch nicht allein auf den Aspekt der sprachlichen Förderung beschränken, sondern diesen als einen Teil des Gesamtpakets der non-formalen Bildung betrachten, welches eben auch Fragen der pädagogischen Haltung, des Bildes
vom Kind und der Reflexion der eigenen Praxis umfasst. Dabei wird schließlich auch deutlich, dass eine gelingende und qualitativ hochwertige frühe sprachliche Bildung eben nicht nur in die Verantwortung spezieller „Sprachförderkräfte“ fallen oder in vereinzelt angebotenen „Sprachförderaktivitäten“ stattfinden kann, sondern dass sie das ganze pädagogische Team und den gesamten sprachlichen Alltag betrifft.6 Hier lassen sich bereits in vielen Einrichtungen beispielhafte Praktiken beobachten, an die sich anknüpfen lässt und die es in Zukunft bewusst zu reflektieren, auszubauen und auszutauschen gilt.
1 Hadjar, A./Fischbach, A./Martin, R./Backes, S., 2015, „Bildungsungleichheiten
im luxemburgischen Bildungssystem“ In:
MENJE-SCRIPT/Université du Luxembourg (Hrsg.), Bildungsbericht
Luxemburg 2015. Band 2: Analysen und Befunde, Luxemburg:
MENJE & UL, S. 34-56.
2 Rund ein Drittel der Einrichtungen für Kinder unter vier Jahren
verfügt über eine sogenannte „Konvention“ – einen rechtlichen Vertrag
mit dem Luxemburger Staat, der die öffentliche Bezuschussung
des Betreuungsangebots (insbesondere der Personalkosten) regelt.
Siehe: Achten, M./Horn, N./Schronen, D. (2009). „Kindertageseinrichtungen“
In: H. Willems/G. Rotink/D. Ferring et al. (Hrsg.), Handbuch
der sozialen und erzieherischen Arbeit in Luxemburg. Band 2,
Luxemburg: Saint-Paul, S. 691-698.
3 Majerus, M. (2009). „Ziele der Maisons Relais“ In: Ministère de la
Famille et de l’Intégration/Entente des foyers de jour/Syndicat des
villes et communes luxembourgeoises/Université du Luxembourg
(Hrsg.), Maisons Relais pour Enfants: Das Handbuch, Luxemburg: Le
Phare, S. 27-35.
4 Seele, C. (2015). Multilingualism and Early Education. An Ethnography
of Language Practices and Processes of Institutionalisation
in Luxembourgish Early Childcare Settings. Dissertation, Université
du Luxembourg.
5 SNJ – Service national de la jeunesse (2013). Non-formale Bildung
im Kinder und Jugendbereich. Lernen im außerschulischen
Kontext, Luxembourg: MFI/SNJ.
6 Seele, C. (2015). „Sprachförderung und Mehrsprachigkeit in der
frühen Kindheit. Ergebnisse eines Modellprojekts in luxemburgischen
Kindertageseinrichtungen“ In: MENJE (Hrsg.), Beiträge zur
plurilingualen Bildung, Luxemburg: MENJE, S. 17-67.
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