Menschen(un)würdige Arbeit in der Textilbranche
Wegwerfartikel Mode
Abgesehen vom Summen der riesigen Ventilatoren der Lüftungsanlage und einem dumpfen, unaufhörlichen Stampfen ist es eigentlich still. In der mit grellem Neonlicht beleuchteten Lagerhalle stehen sechs etwa 30 Meter lange Tische, an denen junge Frauen in farbigen Saris sich maschinenartig voran arbeiten. Ein ätzender Geruch von Farbe und Lösungsmitteln hängt in der Luft. Es überrascht mich zu sehen, dass die farbigen Schriftzüge, die man bei uns überall auf den Kleidungsstücken sieht, von Hand gefertigt sind. Irgendwie war ich davon überzeugt, dass dies Maschinenarbeit sei. Es ist pure Fließbandarbeit: etwa 5 Sekunden pro T-Shirt, auf jedem Tisch ein anderes Motiv. Tausende von T-Shirts, tagein tagaus, und das nur in dieser Fabrikhalle in einem Vorort von Dhaka, Bangladesch.
Die Schablone mit dem Schriftzug wird in einen Holzrahmen gespannt, mit energischen Bewegungen wird die Farbe mit einer Art Spachtel 3 bis 4 Mal über die Schablone gestrichen, bevor es zum nächsten T-Shirt geht. Neben jeder Arbeiterin mit Schablone steht eine zweite mit einem Föhn, die jedes Mal im Takt für ein paar Sekunden die Aufdrucke trocknet. Niemand spricht. Niemand trägt Schutzmasken oder Handschuhe. Der Vorarbeiter ist ein Mann, die Angestellten fast alle Frauen. Einige sehen nicht viel älter aus als 13 Jahre. Kinderarbeit gibt es offiziell nicht, ein Schild am Eingang weist darauf hin. Trotz großer Fortschritte ist Kinderarbeit noch immer ein Problem. Eine Studie von ODI (Overseas Development Institute) fand heraus, dass Kinder in Slums in Dhaka durchschnittlich 64 Stunden pro Woche arbeiteten – viele in Zulieferunternehmen, die mit den weltweit beliebtesten Marken verbunden sind.
Jeden Tag bei Dämmerung findet eine Art Massenmigration statt. Tausende von Frauen laufen in ihren farbigen Saris am Straßenrand entlang, um in ihre Hütten in den Slums zurückzukehren. Rund 80 Prozent der etwa vier Millionen Textilarbeiter in Bangladesch sind Frauen. Die meisten von ihnen stammen aus ländlichen Gebieten und kamen alleine oder mit ihren Familien in die Hauptstadt, um Arbeit zu finden. Nach Angaben der Weltbank strömen jedes Jahr bis zu einer halben Million Landflüchtlinge nach Dhaka, um dort zu arbeiten. So erhöht sich die Anzahl der städtischen Armen expansiv. Seit Bangladesch 1971 die Unabhängigkeit erklärt hat, hat sich die Einwohnerzahl der Stadt auf rund 20 Millionen vervierfacht. Bis zum Jahr 2050 sollen es mehr als 35 Millionen sein.
Nachdem sie in Dhaka angekommen sind, leben die meisten in gemieteten Wellblechhütten. Wie in einem feudalen System sind die Firmenbesitzer oftmals mit den Vermietern verwandt oder arbeiten eng mit ihnen zusammen. Dies erweckt den Eindruck, dass der Alltag der Arbeiter bis ins letzte Detail strukturiert, organisiert und kontrolliert wird. In jeder Wellblechhütte von etwa 2 mal 3 Metern leben mehrere Familienangehörige oder Bekannte. Die Bewohner mehrerer Behausungen teilen sich eine offene Küche und eine Sanitäreinrichtung. Während des Monsuns steht das Wasser in den Gassen knöchelhoch. Dengue-Fieber ist weit verbreitet.
Wir begleiten einige Arbeiterinnen in ihre Behausungen. Ein etwa 14-jähriges Mädchen mit leerem Blick und Baby auf dem Arm steht vor ihrer Hütte im Regen und starrt uns an. Ihr Kind schreit. Doch sie zeigt keinerlei Reaktion. Mein erster Gedanke ist, dass sie unter Drogeneinfluss steht. Drogen sind zu einem allgegenwärtigen Problem geworden, vor allem um die langen monotonen Arbeitstage zu überstehen. Viele der Arbeiterinnen arbeiten 6 Tage die Woche, manchmal mehr als 12 Stunden am Tag für unterdurchschnittliche Löhne, ohne geschützten Umgang mit Chemikalien. Gesetzliche Leistungen wie Sozialversicherungen existieren in der Regel nicht. Unterdrückung von Gewerkschaften, Kinderarbeit, sexuelle Belästigung oder auch die Verweigerung von bezahltem Mutterschutz sind an der Tagesordnung. Mit 30 Jahren werden viele Arbeiterinnen entlassen, da sie körperlich am Ende sind.
Ein Prozess mit weitreichenden Folgen
Mode ist mehr als Bekleidung – sie ist Ausdruck von Identität, sozialer Zugehörigkeit und Kultur. Leider hat auch dieser ästhetische und kreativ-schöpferische Bereich unseres täglichen Konsums eine dunkle Seite. Die weltweite Textilproduktion hat sich zwischen 2000 und 2015 verdoppelt und Kleidung ist längst zu einem Wegwerfartikel geworden. Derzeit werden jährlich mehr als hundert Milliarden Kleidungsstücke hergestellt. Jeder Luxemburger kauft im Jahr durchschnittlich 60 Kleidungsstücke und 30 Prozent der Kleidungsstücke im Kleiderschrank werden nie getragen. Dieser ungebremste Konsum hat verheerende ökologische und soziale Folgen.
Jedes Mal, wenn wir ein Kleidungsstück kaufen, beteiligen wir uns an einer Produktionskette mit weitreichenden Folgen, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Zulieferketten beschäftigen zahlreiche Arbeiter auf allen Produktionsstufen. Die Bekleidungs-, Textil- und Schuhindustrie ist unglaublich arbeitsintensiv. Es wird geschätzt, dass weltweit mehr als 60 Millionen Menschen in dieser Industrie beschäftigt sind. Die Herstellung von Textilien umfasst den komplexen Prozess des Erzeugens von Rohtextilmaterial, das Spinnen zu Fasern, das Weben und das Färben. Die Textilproduktion trägt aufgrund der damit verbundenen hohen Treibhausgasemissionen und der Verunreinigung von Luft- und Frischwasservorräten in hohem Maße zur Umweltverschmutzung bei. Der Herstellungsprozess umfasst das Schneiden, Nähen und Veredeln eines Kleidungsstücks. In den letzten 30 Jahren hat sich die Produktion hauptsächlich in Entwicklungsländer verlagert, vorwiegend nach Asien, auf der Suche nach billigen Arbeitskräften. Heute stammen mehr als 70% der Textil- und Bekleidungsimporte der EU aus Asien.
Die Ankunft großer Kleidermarken in Entwicklungsländern wurde zunächst mit der Hoffnung auf mehr Arbeitsplätze und der Emanzipation von Millionen Arbeiterinnen begrüßt. Textilexporte machen fast vier Fünftel der Exporte Bangladeschs aus und tragen zu mehr als 10% des BIP bei. Bangladesch ist trotzdem noch immer eines der ärmsten Länder der Welt, in dem ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebt. Viele Textilarbeiter müssen unter Sweatshop (Ausbeutungsbetrieb) -ähnlichen Bedingungen schuften. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) gibt es weltweit fast 21 Millionen Menschen, die Opfer von Zwangsarbeit in der Bekleidungs- und Textilindustrie werden. Das Problem taucht in den globalen Medien aber nur dann auf, wenn es wie im Jahr 2013 zu schweren tödlichen Unfällen wie dem Rana Plaza in Bangladesch kommt. Dank verschiedener Initiativen wurden seitdem die Arbeitsbedingungen verbessert und theoretisch müssen bestimmte Sicherheits- und Gesundheitsstandards umgesetzt werden. Die Umsetzung dieser Maßnahmen stößt in der Praxis allerdings schnell an ihre Grenzen. Die Mehrheit der Textilarbeiter in Bangladesch verdient bei weitem nicht den Lohn, der benötigt wird, um eine Familie mit Unterkunft, Nahrung und Bildung zu versorgen. Laut dem Asia Floor Wage benötigen alle Textilarbeiter in Asien eine Lohnerhöhung, um die Grundbedürfnisse ihrer Familien decken zu können – einschließlich Unterkunft, Essen, Bildung und Gesundheitsversorgung.
In vielen asiatischen Ländern liegt der Mindestlohn unter dem für die Grundbedürfnisse des Arbeitnehmers und seiner Familie erforderlichen Mindestlohn. Nach Angaben von Asia Floor Wage deckt der Mindestlohn nur 19 Prozent der Grundbedürfnisse eines Arbeitnehmers in Bangladesch ab. Seit Rana Plaza und den daraus resultierenden Verbesserungen der Arbeitsbedingungen sowie einer Erhöhung des Mindestlohns ist die Angst bei vielen groß, dass die großen Firmen jetzt nach Äthiopien oder in andere Billigländer übersiedeln könnten. Auf dem Textilmarkt ist der Preis leider oft noch das zentrale Kaufkriterium und die Maximierung des Gewinns ein zentraler Bestandteil zahlreicher Unternehmensstrategien, die weiterhin möglichst günstig produzieren wollen.
Handeln trotz Überwältigung
Nach Arbeitsende erzählt eine Arbeiterin mir, dass sie stolz ist, arbeiten zu können und für ihre Familie zu sorgen. In ihrem Heimatdorf hätte sie nie regelmäßig bezahlte Arbeit finden können. Der Mindestlohn wurde vor kurzem erhöht, reicht aber noch immer nicht, um alle Kosten zu decken. In Bangladesch ist die Angst groß, dass mit verbesserten Bedingungen die großen Firmen in billigere Produktionsländer abreisen werden. Die Kleidungsindustrie in Bangladesch zu boykottieren scheint deshalb nicht die Lösung zu sein. Mit zunehmendem Bewusstsein für Nachhaltigkeit gibt es Hinweise darauf, dass Verbraucher bereit sind, mehr für nachhaltige Textil- und Bekleidungsartikel zu zahlen. Eine rezente Umfrage der TNS-ILRES und des Conseil Supérieur pour un Développement Durable (CSDD) zu Nachhaltigkeitsfragen hat gezeigt, dass die große Mehrheit bereit ist, mehr Geld auszugeben, wenn die Produkte aus fairem Handel stammen. Jeder Verbraucher kann einen Beitrag leisten und zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie beitragen. Wir Verbraucher können auch den ökologischen Fußabdruck unserer Garderobe erheblich reduzieren, indem wir weniger einkaufen und die Lebensdauer unserer Kleidungsstücke verlängern. Ein erster Schritt wäre, sich der Notwendigkeit seiner Einkäufe bewusst zu werden und auf qualitativ hochwertige Waren, anstatt auf billige und kurzlebige Kleidung zurückzugreifen. Kleidung und Textilartikel, die Fair-Trade-Kriterien erfüllen und einen umweltfreundlichen Herstellungsprozess respektieren (GOTS-Zertifizierung = Global Organic Textile Standard) gibt es immer mehr in Luxemburg. Indem wir immer wieder das Management unserer Lieblingsgeschäfte nach Herkunft und Herstellungsbedingungen des Produkts, das wir kaufen möchten, befragen, tragen wir auch zu einem allmählichen Bewusstseinswechsel bei.
Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ist es wichtig anzuerkennen, dass Arbeit ein Menschenrecht ist und dass Beschäftigung den Lebensstandard, die gesellschaftliche Wertschätzung und soziale Integration eines Menschen beeinflusst. Statt billiger Herstellung mit sozialen und umweltbelastenden Folgen brauchen wir Decent Work – menschenwürdige Arbeit – um die ambitionierte Zielsetzung für nachhaltige Entwicklung SDGs zu erreichen und gleichzeitig zu unterstützen. Decent Work umfasst eine vertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen einschließlich Einkommen, Sicherheit und sozialem Schutz, sowie das Recht der Menschen, sich zu organisieren und an Entscheidungen teilzuhaben, die Auswirkungen auf ihr Leben haben. Weiterhin steht der Begriff „Menschenwürdige Arbeit“ für Integrität, Chancengleichheit und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Die gesamte Produktionskette der Bekleidungsindustrie muss nicht nur menschenwürdige Arbeit garantieren können, sondern auch nachhaltiger werden. Zu den Kriterien für eine nachhaltige Entwicklung zählen Umweltschutz, Recyclingkapazität, Energieeinsparung, Gesundheit und Sicherheit sowie soziale Absicherungen. Die Politik muss den Rahmen setzen, um dies in komplizierten Lieferketten zu erreichen. Da der politische Wille nur langsam voranzuschreiten scheint, ist es umso wichtiger, dass der Verbraucher sich seines Handelns bewusst wird. Obwohl die Arbeits- und Herstellungsprozesse in anderen Teilen der Welt stattfinden und wir im Alltag nicht direkt damit konfrontiert werden, können wir mit unserem Konsumverhalten indirekt zu einer positiven Veränderung in unserer globalisierten Welt beitragen.
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