Metropolisierung oder die zweite Häutung der Stadt

Der Begriff der Metropole kennzeichnet üblicherweise große Städte, die durch die Kombination von hoher Bevölkerungszahl, wirtschaftlicher Stärke und kultureller Ausstrahlung geprägt sind. Parallel dazu werden in jüngster Zeit auch kleinere Standorte beachtet, die relativ rasch gewachsen sind. Als Erklärungsansatz dient hier der Prozess der „Metropolisierung“. Luxemburg ist idealtypisch dafür.1

In seiner voluminösen Studie über die Verwandlung der Welt im langen 19. Jahrhundert behandelt der Historiker Jürgen Osterhammel auch die internationalen Prozesse der Urbanisierung.2 Die Entwicklung der Städte erhielt zu jener Zeit entscheidende Impulse durch die Hochindustrialisierung. Die Konzentration der Produktionsfaktoren (neben Kapital war das insbesondere Arbeitskraft) ging einher mit einer Konzentration der Wohnbevölkerung, vor allem durch internationale Migration. Dieser Prozess sollte zu einem bis dahin nicht gekannten Wachstum der Städte führen. Großstädte wie Berlin oder insbesondere London galten an der Wende zum 20. Jahrhundert auch als europäische Metropolen, oder Mutterstädte, wenn nicht Weltstädte.

Bereits zu jener Zeit waren die Metropolen neben ihrer Position als herausragender Wirtschaftsstandort zweitens auch durch ihre besondere Ausstattung mit kulturellen Einrichtungen geprägt. Überregional bedeutsame Museen, Theater und Opernhäuser gehören daher zu dieser Ausstattung. Da gute Erreichbarkeit für eine solche Entwicklung zwingend erforderlich war und immer noch ist, sind Metropolen in der Regel an den überregionalen Transport angebunden. ‚Global cities‘ waren immer auch Küsten- und Hafenstädte. Die Versorgung eines großen Hinterlandes, die sogenannte ‚Gateway‘-Funktion, gilt als drittes wichtiges Merkmal von Metropolen. Schließlich beherbergen sie, viertens, vielfach auch Regierungsfunktionen.

Globale Urbanisierung…

Diese jüngeren globalen Verstädterungsprozesse werden seit den 1980er Jahren sehr intensiv beforscht. John Friedmanns These von den ‚World Cities‘3 sowie Saskia Sassens Arbeit zu den ‚Global Cities‘4 legten den Grundstock für eine Forschungstradition, die den Blick weg von den Nationalstaaten und hin zu den Metropolen lenkte. Sie wurden zunehmend als Befehls- und Kontrollzentren der globalen Ökonomie betrachtet. Lagen diese Metropolen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre hinein primär in der alten Welt des Westens (sieht man von Tokio ab), dann hat die explosionsartige Entwicklung von China, Indien sowie Südostasien neue Metropolen hervorgebracht, die das Portfolio der globalen Verstädterung heute anführen.

Globalisierung, der technische Fortschritt auf dem Gebiet der Telekommunikation sowie der nahezu ubiquitäre Ausbau der Infrastrukturen haben diese Entwicklung erst möglich gemacht. Zugleich hat sich globale Urbanisierung stetig verändert: Der Aufstieg des Dienstleistungssektors hat es ermöglicht, dass über die prototypischen Global Cities (zunächst New York, London, Tokio) hinaus eine größere Zahl von Städten in die Weltwirtschaft integriert wurde, teilweise auch abseits der alten Zentren. Anwaltskanzleien, Unternehmensberatungen, Ingenieurbüros und eine große Zahl weiterer höherwertiger Dienstleistungen sowie Forschungseinrichtungen sind die Schlüsselsektoren. Im Schlepptau der Tertiärisierung entstand mit dem Finanzmarkt ein völlig neues Wirtschaftssystem, das zum Treiber der globalen Ökonomie wurde. Den Vorteilen ökonomischer Ballung folgend, bildeten sich lokale Knotenpunkte in Metropolen wie New York City, London, Frankfurt am Main, Hongkong oder Singapur.

… jenseits der alten Zentren

Globale Urbanisierung hat die lokalen Standortvor- und -nachteile neu gewichtet. In der neuen Geografie der weltweiten Ökonomie sind es nicht mehr nur die Metropolen an sich, die wirtschaftliche Stärke und kulturelle Bedeutung konzentrieren, sondern zunehmend auch kleinere Standorte, die sich erstaunlich schnell auf der globalen Landkarte positionieren konnten. Dieser Prozess der Metropolisierung heißt nicht, dass diese Städte sich glaubwürdig mit dem Emblem der Metropole schmücken können. Es geht um eine Transformation, die auch unser Bild des Städtischen verändert. Im Zuge der Indus­trialisierung hatten sich Städte als klar abgegrenzte Raumeinheit ins Umland ausgedehnt, oft organisch, oft sprunghaft. Dies wurde möglich durch das Schleifen der Stadtmauern und die Erlangung kommunaler Autonomie, später durch Ausbau der Infrastruktur und Vergesellschaftung des Automobils. Suburbanisierung war die erste Häutung der europäischen Stadt. Metropolisierung produziert nun eine internationale Stadt, den globalen Netzknoten – als Konsequenz einer vertikalen, international getriebenen Urbanisierung.

Die zweite Häutung der Stadt.

In den Städten selbst ist dieser Prozess gut zu identifizieren: Metropolisierung ist zuerst Internationalisierung, da die relevanten Dienstleistungszweige global agieren und auf vielsprachiges, hochqualifiziertes Personal angewiesen sind. Sie erzeugt zweitens eine Stadt der Beschäftigten und Unternehmen – einen Ort der Büros, nicht der Wohnhäuser. Wirtschaftliche Spezialisierung konstituiert einen Immobilienmarkt, der sich primär auf die Anforderungen der metropolitanen Zielgruppen (global vernetzte Unternehmen, Beschäftigten) richtet, auch wenn die Grund besitzende Bevölkerung daraus eine hohe Globalisierungsdividende ziehen kann. Metropolisierung bringt drittens eine Stadt der Bewegung hervor, da der stetige ‚flow‘ von Personen, Gütern, Währungen oder Ideen konstituierend für diesen Standorttyp und seine ökonomische Basis ist.

Métropole Luxembourg?

Bezogen auf diese Merkmale wird klar, dass der Prozess der Metropolisierung auch Luxemburg überformt hat.5 Das Land bzw. seine Hauptstadt sind überdurchschnittlich international, sie beschäftigen ungewöhnlich viele Erwerbstätige im Vergleich zur Wohnbevölkerung, und dies alles wurde nur durch die Etablierung wirtschaftlicher und politischer Beziehungen über die Grenzen des Landes hinaus ermöglicht. Das zugrunde liegende Phänomen der Vernetzung Luxemburgs mit anderen, auch entfernt gelegenen Standorten hat Alonso bereits 1973 als borrowed size (geliehene Größe) bezeichnet, als Funktionsspezialisierung und Bedeutungsüberschuss kleiner Länder, ausdrücklich auch am Beispiel der Benelux-Länder.6 Der stetige Einstrom von Personen (Berufspendler, Zuwanderer), Gütern (Luftfracht) oder Finanzen ist Ausdruck dieses neuen Typus von Stadt. Er wird in der Literatur auch als relationale oder extrovertierte Stadt bezeichnet. Sie ist das Scharnier zwischen Globalisierung und lokaler Ebene.

Diese Urbanisierung nach dem Muster small but global hat Luxemburg großstädtische Attribute verliehen, ohne dass es aus sich heraus eine Metropole darstellen würde. Im Windschatten der großen Stadtregionen haben kleinere Standorte den Vorteil überschaubarer Strukturen und kurzer Wege zu Entscheidungsträgern – das „Ökosystem“, in dem jede/r jede/n kennt. Dies macht die Umsetzung von Innovationen manchmal leichter und schneller möglich als in großen Metropolen oder föderalen Staaten. Small but global hat schließlich auch Vorteile für die Bewohner, die hochklassige Kultur in der Maßstäblichkeit einer Fahrradstadt genießen können, oder eben eine Vielzahl exzellenter Restaurants, die eine Stadt vergleichbarer Größenordnung sonst nicht bieten könnte.

Schattenseiten

Es gibt indes auch Schattenseiten dieser Entwicklung. Echte Metropolen hatten in der Regel Zeit, Raum und Ressourcen, um Wachstum zu absorbieren und sich zu ordnen bzw. um die damit verbundenen Konflikte zwischen alt und neu zu lösen. Metropolisierung kleiner Städte verläuft dagegen oft erratisch und drückt dem Territorium sehr dezidiert einen Stempel auf. Entsprechende Paradoxien und Konflikte fordern die Stadt- und Landesplanung auch hierzulande heraus: Der rasant steigende Bedarf an Büroflächen kreiert in großem Stil gebaute Inseln, regelrechte Enklaven, an deren „Integration“ sich die Stadtplanung noch Jahrzehnte später abarbeiten muss. Der Mangel an Wohnraum ist evident, je mehr Arbeitsplätze der Finanzplatz, Unternehmenszentralen und die europäischen Institutionen bieten. Spätestens wenn Luxus­apartments als Anlageobjekt auf den Markt drängen, deutet sich eine neue Stufe des Verwertungsrennens an, das erschwingliches Wohnen zur Illusion macht. Dies ist einerseits eine direkte Konsequenz des großen Entwicklungsdrucks, der auf dem Territorium lastet; andererseits wird dieser Effekt durch die spekulative Vorhaltung von Boden, die Dominanz kommerzieller Entwickler sowie komplexe Prozeduren in der Planung verstärkt.

Mit Blick auf die Umwelt kommen neben der Landnahme für die Expansion der Bauflächen vor allem steigende Verkehrsprobleme in Betracht (flows). Das Grenzpendleraufkommen stellt nur die eine Seite der Medaille dar; die vielen Binnenverkehre mit Luxusfahrzeugen sind die andere Seite – nach Angaben der Regierung machen allein Schulwegtransporte zu Spitzenzeiten fast ein Drittel aller Kfz-Fahrten aus. Allerdings hat Ferne scheinbar Vorrang vor Nähe: So kann man bis zu zehn Mal pro Werktag nach London und drei bis vier Mal nach Genf fliegen. Bahnreisen in benachbarte Großstadtregionen oder Metropolen wie das Ruhrgebiet, nach Frankfurt am Main oder Brüssel dauern dagegen gefühlt immer noch so lange wie zu Vorkriegszeiten.

Schließlich kann schneller Wandel auch zu mentaler Überforderung führen. Wo Wirtschaft, Gesellschaft und gebaute Umwelt sich radikal ändern, da sind soziale Spaltungstendenzen nicht weit, ebenso wie latente Identitätskonflikte. Die Beschwörung von Heimat und Vergangenheit kann das Wohlstandsparadies daher ebenso irritieren wie ökonomische Risiken durch Abhängigkeit von außen (post-Globalisierung). Das Dilemma ist indes real: Man kann nicht per „geliehener Größe“ an die Spitze des globalen (!) Sozialprodukts klettern, aber zugleich tradierte Verhältnisse und Besitzstände konservieren.

Metropolisierung gestalten?

Die komplexen Voraussetzungen und Effekte der Metropolisierung zu gestalten, ist extrem schwierig. Die extrovertierte Stadt entwickelt sich räumlich weitgespannt und zeitlich hochverdichtet, was jede Planung herausfordert. Zum einen stimmt der funktionale Raum nicht mit den Grenzen des politisch-administrativen Raums überein. Dieses Phänomen hinterlässt ein politisches Vakuum, sowohl international in der Großregion wie auch national: Der de facto-Stadtstaat muss sich mit ca. 100 Gemeinden über das Bauen einigen. Zum anderen erfordert rasches Wachstum die Synchronisation von baulicher Entwicklung und planerischer Strategie, so wie die Infrastruktur­politik Neubau, Ausbau und Instandhaltung oft parallel betreiben muss.

Die nachholende Urbanisierung des ländlichen Luxemburg bestand bisher vor allem aus der fragmentierten Planung von Einzelprojekten sowie großen Vorhaben an neuen Standorten. Strategien im engeren Sinne sind kaum existent, Staat und Gemeinden stehen sich in vielen Urbanismusfragen gegenseitig im Weg. Boden wurde zur Ressource der privaten Mehrwertproduktion, und Grundbesitzkonzentration ist nur eine von mehreren Barrieren einer ausgeglichenen Entwicklung. „Steuerung“ würde hier robuste Visionen, politischen Wagemut und kommunikative Kompetenz erfordern, situiert in einem offenen, streitfähigen Planungssystem.7 Dies ist aber schwer zu entfalten, wenn alle Kapazität in den Nachholbedarf bei Wohnen, Infrastruktur und Mobilität fließen muss. Und die Vorstellung zusätzlichen Wachstums lässt einen in diesem Licht erst recht erschaudern.

Metropolisierung bringt relationale oder extrovertierte Städte hervor – als einen sperrigen Sonderfall der Stadtentwicklung. Dieser ist mit Standardrezepten des Urbanismus nicht kurierbar. Trotzdem könnte es einen Bedarf an ideeller Blutzufuhr von außen geben, zumal man diesem Städtetyp nachsagt, dass er durch eine „introvertierte“ Governance regiert wird. Jenseits vieler Details wäre es zentral, die Balance zwischen Leben und Arbeiten, Wohnen und Wertschöpfung, Weltmarkt und Lokalem neu zu justieren. Nur dann hätten Ambitionen in Richtung einer nachhaltigen Raumentwicklung eine seriöse Basis. Auf diese Weise könnte Metropolisierung vielleicht auch die Entwicklung eines urbanen Lebensgefühls ermöglichen, ohne dass man die negativen Folgen großer Metropolen fürchten muss.

Diese Überlegungen sind u.a. in dem durch den FNR/Fonds National de la Recherche finanzierten vergleichenden Forschungsvorhaben GLOBAL entstanden, über das demnächst ausführlicher publiziert wird.

  1. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, München, C.H. Beck, 2009.
  2. John Friedmann, „The world city hypothesis“, in: Development and Change 17 (1986), 1, S. 69-83.
  3. Saskia Sassen, The Global City, Bd. 2, Princeton/Oxford, Princeton University Press, 1991.
  4. Fernand Fehlen, „Global City im Kleinformat“, in: forum 384, Mai 2018, S. 13f.
  5. William Alonso, „Urban Zero Population Growth“, in: Deadalus (1973), 109, S. 191-206.
  6. Markus Hesse, „Gouvernementalität – die ‚Steuerung der Steuerung‘“, in: forum 350, April 2015, S. 23-25.

 

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