Musik: Teil des kulturellen Gedächtnisses Luxemburgs
Obwohl sein Titel es vermuten lassen könnte, handelt es sich bei diesem Band nicht um eine Doppelbiografie von zwei vernachlässigten luxemburgischen Komponistinnen. Die Zielsetzung der Herausgeberinnen ist nicht primär, Leben und Werk von Helen Buchholtz und Lou Koster vorzustellen. Vielmehr wird der bisher wenig beachtete Forschungsgegenstand der Luxemburger Musikwissenschaft situiert. In diesem Sinne wirft der Band eher Fragen zu einer zeitgemäßen, gender-sensiblen Erforschung der musikalischen Vergangenheit Luxemburgs auf, als dass er eine Kategorisierung von archivierten, aber nicht aufgearbeiteten künstlerischen Erzeugnissen liefert. Hierin liegt sein unbestreitbarer Wert. In Luxemburg, wo ein Großteil der Literatur, die sich an ein breites Publikum wendet, auf der Grundannahme beruht, dass Luxemburg trotz seiner ‘Kleinheit’ Wertvolles vollbracht hat, sind die Fragestellungen der Herausgeberinnen erfrischend und äußerst willkommen. Für Roster und Unseld sowie für die Forscher und Studierenden, die zu diesem Band beigetragen haben, gibt es kein ‘trotz‘ und kein explizit qualitatives Werturteil. Vielmehr stellen sie sich die gemeinsame Frage: „Wie kann es gelingen, eine Musikkultur in den Blick zu nehmen, die bislang kaum betrachtet wurde?“ (9). Diese grundsätzliche Öberlegung, die in Luxemburg von disziplinübergreifendem Wert ist, macht Komponistinnen in Luxemburg für alle kulturell Interessierten, Wissenschaftler sowie Studierende zu einer unbedingt empfehlenswerten Lektüre.
Der Band nähert sich seinem Gegenstand, indem er vier eng zusammenhängende Themenfelder umreißt: Erstens erörtert er die Entwicklung der nationalen und kulturellen Identität in Luxemburg, zweitens bespricht er die Relevanz von Gender in der musikalischen Analyse, drittens diskutiert er verschiedene Kulturbegriffe und die ideologische Schwelle zwischen Kitsch und Kunst, und viertens präsentiert er die Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses sowie die durch Gender beeinflussten Praktiken der Archivierung und Nachlassverwaltung. Hierbei erwägen die Autoren die Bedeutung von zeitgenössischen akademischen Forschungspraktiken für den Luxemburger Kontext und stellen sich somit der unumgänglichen Hinterfragung des eigenen Standpunktes.
Der vorliegende Band entstand im Kontext eines „mehrstufigen Forschungs- und Lehrprozesses“, der seit 2009 in Zusammenarbeit des Cid-femmes (seit 2014 Fraen an Gender), der Universität Luxemburg und der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg stattfindet. Er zeigt, dass die wissenschaftliche Kooperation von internationalen Forschern (in diesem Fall etablierten Akademikern, Nachwuchsforschern sowie Studierenden) durchaus sehr nützliche Ergebnisse verschaffen kann. Zudem liefern Roster und Unseld für jedes der vier Themenfelder des Bandes einen hilfreichen Kommentar, der den Forschungsstand der respektiven Felder umreißt und ihre Relevanz für die Untersuchung der vom Cid-femmes seit 2000 und 2003 archivierten Nachlässe von Helen Buchholtz und Lou Koster beleuchtet.
Die Herausgeberinnen eröffnen den Band mit einer Verortung des Luxemburger Kulturbetriebes und seiner historischen Fundiertheit. Sie liefern zwei überzeugende Gründe für den späten Beginn musikwissenschaftlicher Forschung in unserem Land: zum einen die Zweifel an der Bedeutung der eigenen kulturellen Produktion und zum anderen die „Inkompatibilität“ der „Musikgeschichte Luxemburgs als Forschungsgegenstand“ mit „traditionellen ästhetischen Kategorien“ (19). Roster und Unseld argumentieren, dass die Scheu oder das bewusste Desinteresse, mit der Luxemburg in der Vergangenheit an Avantgarde-Musik heranging, in der Tradition der Musikkritik des 20. Jahrhunderts als „Modernitätsverweigerung [,] reaktionäre Rückständigkeit, Konservatismus und Regressivität“ gedeutet wird und deshalb „einer weiteren Betrachtung nicht würdig“ ist (19). Folglich begann man sich auch in Luxemburg ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die „Asynchronität“ der eigenen Musikproduktion „zu schämen“ (19). Das intergenerationelle Autorenkonsortium hat sich zum Ziel gesetzt, diese „Kunstabwertung“ (19) zu unterbinden: „Statt Traditionelles zu konstatieren, wäre es spannender, der Frage nachzugehen, warum diese ästhetische Entscheidung, so und nicht anders zu komponieren, in Luxemburg getroffen wurde und in welchen Beziehungen sie zum gesellschaftlichen Kontext steht“ (20). Durch diese kruziale Fragestellung könne man der „doppelten Marginalisierung“ (21) entgegenwirken, die Luxemburger Komponistinnen erfuhren und erfahren.
Bei der Erforschung der luxemburgischen kulturellen Produktion im Allgemeinen ist es unerlässlich, die philosophisch-ästhetischen Traditionen (vor allem) des angrenzenden Auslandes in Betracht zu ziehen. So basiert Nina Noeske ihre „Fragen an eine luxemburgische Musikgeschichte“ auf einer Analyse von „Meistererzählungen zwischen Deutschland und Frankreich“ (27). Sie schlussfolgert, dass für die Position der luxemburgischen komponierenden Frau „keine passende Erzählung“ existiert und diese sowohl durch ihre Nationalität, die weder der deutschen noch der französischen Sensibilität komplett entspricht, als auch durch ihr Geschlecht, das sie außerhalb des deutschen „prototypischen Genies“ positioniert, im Abseits steht (34). Gemäß der Selbstreflexivität der vorliegenden interkulturellen Forschungsarbeit untersucht Sonja Kmec die Zeitlichkeit eben dieses Denkens, indem sie das Konzept der Interkulturalität, wie es heute verstanden wird, und das der von Batty Weber 1907 beziehungsweise 1909 formulierten `Mischkultur‘ „kulturtheoretisch einordnet“ (55). Sie folgert, dass beide Konzepte ihre Prämissen teilen und sich national orientierten „Prozessen der Differenzkonstruktion“ (55) entgegensetzen. Nicole K. Strohmann historisiert die Entwicklung von Qualitätsurteilen in der Kunst und bemerkt, dass traditionell der „Musikanalyse immer auch — sei es ungewollt und unbewusst — geschlechtsbezogene Setzungen inhärent sind“ (71). Sie unterstützt eine „gendersensible Sichtweise“ (78), die „Lebenskontexte und sozialgeschichtliche Kontexte des Komponierens“ (79), wie Bildung, Karriereverläufe und berufliche Erwartungen, in Erwägung zieht und essentialistische Spekulationen über „spezifisch weiblich oder männliche Schreibweisen“ eliminiert.
Kerstin Schäffer und Danielle Roster liefern kulturhistorische Interpretationen von Lou Kosters Vertonungen. Schäffer sieht Kosters musikalische Umsetzung von Nikolaus Welters Der Geiger von Echternach als „nationale Tat“ (85), durch die die Komponistin sich selbst „unvergessen“ (109) machen wollte. Sie illustriert die Variationen, die diese Legende sowie die heute UNESCO-geschützte „Springtanzmelodie“, über die Jahre angenommen haben und beweist, dass Koster sie als „geeignete Grundlage für eine Komposition hielt, die über das Sujet fest mit Luxemburg verbunden werden konnte“ und die „sie selbst damit Teil einer populären, identitätsstiftenden Kultur werden ließ“ (100). Roster zeigt, dass Kosters Vertonung (1959) von Marcel Noppeneys Le Prince Avril (1907) ihr ein „Spiel mit Texten und Geschlechterbildern“ ermöglichte (111). So verwandelt die Komponistin Noppeneys symbolistische Idealisierung der Kindheit in „[zartfühlende] Liebe und Liebesbangigkeit“ (131). Diese „sinnliche Leichtigkeit“ steht laut Roster „in größtem Widerspruch zum Gehalt der Originaltexte“ und zeugt für eine selbstbewusst agierende Künstlerin.
Annkatrin Babbe und Maren Bagges Beitrag über das Liedschaffen von Helen Buchholtz basiert auf dem vorangegangenen Artikel von Matthias Tischler, der die „Dispositive des Kitsch-Diskurses“ (155) darlegt. Kitsch steht in direktem Verhältnis zu Massen-
konsum und -geschmack und ist, so Tischler, ein „Säkularisierungsphänomen“, denn „in dem Maße wie die Heilsversprechen der Religion brüchig wurden, stieg der Bedarf am sinnlichen Schein einer heilen Welt“ (158). Wie Babbe und Bagge aufzeigen, wählte Buchholtz oft Gedichte als Vorlage, die aus heutiger Sicht als kitschig gelten könnten; so z.B. Werke, die „Liebe, Sehnsucht, Natur, Nacht, Vergänglichkeit und Tod“ (168) thematisieren, u.a. von Willy Goergen (1867-1942), Lucien Koenig (1888-1961), Nikolaus Welter (1871-1951) und Anna Ritter (1865-1921). Die Autorinnen glauben, dass die Emotionalität und Sinnlichkeit von Buchholtz’ Kompositionen zu ihrer Marginalisierung beigetragen haben, da die analysierten Texte Und um die Holzbank duftete der Flieder und O bleib bei mir „in ihrer Zeit als weibliche Musik gelesen und daher von der Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurden“ (183). Wenn auch heute diese Lieder „durchaus als kitschig empfunden werden können“ (183), so wehren sich Babbe und Bagge strikt gegen eine „Etikettierung“ im Wertesystem „Kitsch oder Kunst“, da das Ziel der Musikgeschichtsschreibung sein sollte, „Lücken aufzudecken“ (184) und eine inklusive Kanonisierungspraktik zu etablieren.
Im letzten Teil des Bandes, der sich mit der Wichtigkeit von Archivierungspraktiken für das kulturelle Gedächtnis befasst, bespricht Gesa Finke Aleida Assmanns Konzepte von Speicher- und Funktionsgedächtnis und macht klar, dass „ohne erinnerungskulturelles Handeln […] kein kulturelles Gedächtnis“ entstehen kann (202). Musikarchive arbeiten eng mit Nachlassverwaltern zusammen. Letztere waren in der Vergangenheit meist Witwen, so dass die Werke und auto/biografischen Dokumente von Musikerinnen, die, wie der Beitrag von Li Gerhalter und Georg Schinko zeigt, von essenzieller analytischer Bedeutung sind, oft verschollen sind.
Die Beiträge der Studierenden gewähren Einblick in die aktive wissenschaftliche Beschäftigung mit den beiden Nachlässen. So analysiert Johann Cox einen Notiztext aus den 1890er Jahren, der Helen Buchholtz zugeschrieben werde könnte. Romina Vittore verfolgt die Korrespondenz zwischen Ed Ettinger und Helen Buchholtz und Yulia Motovilova unterstreicht die feministischen Aspekte von Batty Webers Operette An der Schwemm und Kosters Vertonung derselben.
Komponistinnen in Luxemburg ist ein hervorragend zusammengestellter Band mit Vorbildcharakter. Das intergenerationelle luxemburgisch-deutsch-österreichische Konsortium hinterfragt, wie Musik wirkt, die aus ihrem nationalen Kontext losgelöst wird, und zeigt, dass sich die luxemburgische Musik- und Kulturwissenschaft etabliert hat. Der Band wird von einer CD mit den besprochenen Stücken begleitet. Während die ersten beiden CDs mit Werken von Koster und Buchholtz (Lieder von Lou Koster und Helen Buchholtz 2003, Der Geiger von Echternach 2010) in Luxemburg (Cid/CNA) erschienen, wurden sie, trotz positiver Rezeption im Inland, nur wenig im Ausland bekannt gemacht. Für sein neuestes CD-Projekt, das im November vorgestellt wird, hat der Cid/Fraen an Gender mit einem angesehenen ausländischen Label gearbeitet. Lou Koster — Mélodies françaises wird vom französischen Label AR RÉ-SÉ herausgebracht. Die Herausgabe dieser Werke hat zwei wichtige Funktionen: Zum einen erleichtert sie dem Luxemburger Publikum den Zugang zur eigenen Kultur, und zum anderen sorgt sie dafür, dass Luxemburg in einem internationalen Repertorium präsent ist.
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