„Nation ist eine ‚vorgestellte Gemeinschaft“
Vier Fragen an Sonja Kmec, Professorin für Kulturwissenschaften und Geschichte an der Uni.lu
359_KMEC Gibt es eine Luxemburger Nation?
Sonja Kmec: Klar gibt es eine Luxemburger Nation. Die Frage ist nur, was man darunter verstehen will. In der Verfassung von 1919 ist festgelegt: „La puissance souveraine réside dans la Nation“ (art. 32). Die Nation wird allerdings nicht genauer definiert. Ist damit das Wahlvolk – die Wählerinnen und Wähler gemeint? Ist die Mitgliedschaft vererbbar? Wenn ja, auf welche Weise, etwa juristisch auf Kinder von Staatsangehörigen (Staatsnation)? Kann man sie sich auch verdienen – wie eingebürgerte Spitzensportler – oder sie gar käuflich erwerben? Oder gibt es gar noch andere Kriterien? Eine gemeinsame Abstammung (Blutsgemeinschaft)? Eine geteilte Geschichte, Sprache, Religion und Kultur (Kulturnation)? Wenn ja, welche Sprachkompetenzen? Welche kulturelle Eigenschaften? Starrsinn (oder sind das nur die Öslinger?), „vun der Long op d’Zong“ (oder sind das nur die Minetter?) Oder sollte man bei der Suche nach der Nation auf eine gemeinsam gewollte Zukunft setzen (Willensnation)?
Eine Nation ist keine nach objektiven Kriterien klar definierte Gemeinschaft, sondern – nach Max Weber – eine „vorgestellte Gemeinschaft“. Sie hat von vornherein subjektiven Charakter und bildet eine Wertsphäre, der man sich und andere zurechnet – oder nicht. Als Denkfigur hat die Nation aber durchaus sehr reale Konsequenzen: Man kann für die Nation in den Krieg ziehen, für sie sterben, aber auch in ihrem Namen verurteilt werden oder Steuern zahlen.
Kann man heutzutage von einer festgelegten Luxemburger Identität sprechen?
Kennen Sie zwei Luxemburger, die identisch sind? „Identität“ ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften ein sehr umstrittener Begriff, denn er ist vieldeutig. Er bezeichnet sowohl die Selbst- wie die Fremdzuschreibung. Natürlich kann man diese festlegen und behaupten, sie würden sich nicht verändern und seien auf ein Kollektiv übertragbar. Das machen wir ja eigentlich alle, wenn wir von „den Migranten“ reden, etwas für „typisch Mann“ befinden oder erklären: „Meine Generation denkt da anders“. Wir erzeugen Gruppenidentitäten, meist in Abgrenzung zu anderen. Das dient der Selbstbehauptung und der Suche nach Verbündeten, kann aber auch zu Stigmatisierung und Abkapselung führen. Was die Luxemburger Identität angeht, so versteht jeder Luxemburger etwas anderes darunter und definiert sie zudem unterschiedlich, je nachdem wo er gerade ist und mit wem er sich darüber unterhält.
Könnte es sich beim sogenannten „Nationalgefühl“ lediglich um eine politische Konstruktion handeln? Wie ist die Entwicklung dieser Selbstwahrnehmung im historischen Kontext zu bewerten?
S.K.: Nationalgefühl ist nicht nur das Resultat einer Indoktrinierung der Bevölkerung „von oben“. Es kann sich durchaus auch gegen die Machthaber richten. So erboste sich Ludwig XV. im Jahre 1766 darüber, dass die Nation neu definiert wurde, und zwar gegen den Monarchen: „Les droits et les intérêts de la nation, dont on ose faire un corps séparé du monarque, sont nécessairement unis avec les miens et ne reposent qu’entre mes mains.“1
Das allererste Mal, dass von einer „Luxemburger Nation“ im politischen Sinne gesprochen wird, ist 1789 im „Manifeste de la nation luxembourgeoise“. Auch dieser, im Kontext der Brabanter Revolution entstandene, Text richtete sich gegen den Herrscher, Joseph II. Allerdings fand er keine große Verbreitung und wird auch von Historikern äußerst selten zitiert, wohl weil er einem Wesensmerkmal der Luxemburger widersprach, das lange Zeit betont wurde: die „fidélité monarchique“.
Im Luxemburger Fall hat sich der Staatsapparat vor dem Nationalgefühl entwickelt. Diese Entwicklung „de l’État à la nation“ – wie bereits in den 1930er Jahren von Nicolas Margue und in den 1980er von Gilbert Trausch postuliert – ist allerdings nicht linear. Die „Durchstaatlichung“, welche den Zentralstaat ins Dorf bringt,2 setzt bereits unter napoleonischer Herrschaft ein. Sie geht einher mit einer Nationalisierung, die sich allerdings noch nicht auf eine luxemburgische Nation bezieht. Unter der Herrschaft des Hauses Oranien-Nassau kommt die Idee einer luxemburgischen Nation erst dann auf, als es darum ging das belgische Zugehörigkeitsgefühl zu bekämpfen und ihm etwas entgegen zu setzen. So entwickelt Gouverneur Willmar 1830 das Konzept einer spezifisch luxemburgischen Nation, die dem König-Großherzog treu ergeben ist.3 Erst in den 1870er finden sich Belege dafür, dass größere Teile der Bevölkerung sich als „luxemburgische Nation“ wahrnehmen. Auch das ist noch kein Startschuss für eine gradlinige Entwicklung: Das Nationalgefühl gewinnt oder verliert an Ausdrucksstärke und Zustimmungsgrad je nach politischem und wirtschaftlichem Kontext.
Betonen möchte ich, dass es vor dem Ende des 18. Jahrhunderts keine Quellenbelege für eine Luxemburger Nation gibt. Die Provinzialstände vertraten zwar die Interessen des Herzogtum Luxemburgs, sahen dieses aber als Herrschaftsbereich, nicht die Bevölkerung als eine (wie auch immer definierte) Nation. Wenn von Nation die Rede war, dann von der deutschen, da Luxemburg Teil des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ war. Dies wird später von der nationalsozialistischen Geschichtsforschung instrumentalisiert, um zu zeigen, dass Luxemburg kulturell „deutsch“ sei. Von Luxemburger Historikern hingegen wird nach dem Krieg das „Partikularbewusstsein“ des Provinzialrats betont. Beides kann man quellenmäßig belegen; eine Kontinuität daraus abzuleiten, halte ich allerdings für abwegig.
Stellt die Nation ein für das Funktionieren eines Staats unentbehrliches Element dar?
S.K.: Für einen Staat sicherlich nicht. Die Frage ist, ob Nation als Integrations- und Differenzierungsform für eine moderne Demokratie unabdingbar ist. Das behaupten manche Politikwissenschaftler, andere berufen sich auf den Verfassungspatriotismus und finden, dass dieser auch eine Basis für harmonisches Zusammenleben und gegenseitigen Respekt bieten kann. Allerdings fehlt der Verfassung die metaphysische Ebene, der quasi sakrale Charakter, welcher der Nation beigemessen wird. Die Frage, die sich seit der Aufklärung immer dringlicher stellt ist, ob die Menschen Vernunftwesen sind, denen es einleuchtet, dass sie aufeinander angewiesen sind, oder ob sie einer „Integrationsideologie“ bedürfen, einer Religion oder einer „Ersatzreligion“ wie dem Nationalismus oder dem Kommunismus um sich als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen. Ist Letzteres der Fall, werden die Menschen, die „andersgläubig“ sind, bzw. jene, die der Nation nicht angehören oder die sich nicht anpassen, aus der Solidargemeinschaft ausgestoßen. Ist die Nation nicht identisch mit dem Staatsvolk, sind Konflikte und der Kampf um Privilegien vorprogrammiert.
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