„Prince weiß, wo Esch ist, aber Europa weiß es nicht.“
Interview zur Kandidatur der Stadt Esch und der Südregion als europäische Kulturhauptstadt mit der Escher Bürgermeisterin Vera Spautz, Ralph Waltmans („Service Culture“ der Stadt Esch) und Andreja Wirtz („Service développement économique, tourisme et relations internationales“ der Stadt Esch)
Die Stadt Esch möchte ihre Kandidatur stellen, um Europäische Kulturhauptstadt 2022 zu werden.Welches sind die Gründe für diese Kandidatur?
Vera Spautz: Der Süden Luxemburgs hat ein enormes Potenzial, das aber nicht bekannt ist. Dies fiel mir verstärkt bei den Planungen rund um die Uni auf. Als die Studierenden kamen, um sich die Stadt anzusehen, wurde schnell klar, dass wenig Bewusstsein dafür besteht, was der Süden eigentlich ist. Für die, die Esch nicht kennen, handelt es sich um eine Stadt, die schmutzig und kriminell ist und in der Menschen überfallen werden. Hier kann die Kandidatur einen klaren Image- wechsel einleiten. Gerade in Bezug auf Naherholungsgebiete und Tourismus haben wir wirklich etwas zu bieten. Und mit dem Potenzial aller Gemeinden zusammen sind wir in der Lage, das Ganze zu stemmen.
Ralph Waltmans: Wenn von Luxemburg die Rede ist, denken manche im Ausland wahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Stadtstaat handelt. Uns geht es jedoch darum zu zeigen, dass es nicht nur die Hauptstadt gibt, in der sich alles um Banken und Geld dreht. Vielleicht ist das richtige Luxemburg gar nicht die Hauptstadt, sondern etwas wie der Süden, also ein Ort, an dem man wirklich zusammenlebt. Und auch wenn sich die europäischen Institutionen in der Hauptstadt befinden, sind wir ebenso der Nabel oder das Zentrum Europas wie die Stadt Luxemburg. Hemingway war hier, Sting war hier, Prince weiß, wo Esch ist, aber Europa weiß es (noch) nicht.
Vera Spautz: Wir hätten uns übrigens auch getraut zu kandidieren, wenn die Hauptstadt ihre Kandidatur ebenfalls gestellt hätte.
Andreja Wirtz: Obwohl im Vorfeld schon ähnliche Initiativen stattgefunden haben, wirkt diese Kandidatur jetzt schon wie eine Art Beschleuniger. Nun heißt es: Jetzt oder nie! Das dynamisiert den Veränderungsprozess natürlich und schafft eine andere Bereitschaft – wir leben die Kandidatur.
Nur eine einzelne Stadt darf die Kandidatur stellen, Sie sprechen jedoch von der Süd- region. Was ist die Südregion für Sie?
Vera Spautz: Erste Diskussionen fanden im Verband der Pro-Sud Gemeinden statt und die Gespräche kommen gut voran. Es ist wichtig, dass wir eine kollektive Vision dafür entwickeln, dass wir gemeinsam eine Region darstellen und dass nicht jeder alleine in seiner Ecke bleiben kann.
Andreja Wirtz: Zudem haben wir ja noch das Groupement européen de coopération territoriale (kurz: GECT Esch Belval), das aus den vier großherzoglichen Gemeinden Esch, Sanem, Schifflange und Mondercange besteht sowie, auf der französischen Seite, aus der Communauté de communes du pays haut Val d’Alzette, der Région Lorraine und den Conseils départementaux de Moselle et de Meurthe-et-Moselle. Eine jener Achsen, auf denen wir hier arbeiten, ist folgende: „faire vivre ensemble des communautés actuellement seulement voisines“. Wir haben auch Kooperationen mit Städten aus der französischen und belgischen Grenzregion, aber das würde diesen Rahmen sprengen. Es soll ja nicht zu einer Wiederholung von 2007 kommen, daher beschränken wir uns auf das, was wir den „périmètre identitaire“ nennen.
Wie sehen Ihre Erwartungen auf der künstlerischen Ebene aus? Beabsichtigen Sie Raum für alternative Projekte zur Verfügung zu stellen? Vor zwanzig Jahren musste sich die Kulturfabrik diesen Raum zum Teil gegen den Widerstand der Gemeinde erstreiten.
Vera Spautz: Esch war immer ein kreatives Laboratorium und wir sind oft weiter- gekommen, auch wenn wir nicht unbedingt (finanziell) unterstützt wurden. Die Gebäudebesetzungen, die es in Esch gab (Kufa, ehemaliges Jugendhaus) waren sicherlich interessant, aber ich hoffe, dass es heute nicht mehr soweit kommen muss (lacht). Wir möchten derartige, kreative Räume anbieten, können dies aber nur beschränkt tun, da immer noch Arcelor Mittal die meisten freien Terrains besitzt. Auf die Preisvorstellungen dieser Firma können wir nicht eingehen.
Welche Rolle können Prozesse wie die Ausarbeitung des sogenannten nationalen „Kultur- entwécklunsgplang“ spielen?
Vera Spautz: Da steckt Entwicklungs- potenzial drin. Denn Ziel einer europäischen Kulturhauptstadt müsste auch sein, lokal und unter Implikation aller vorhandenen Schwächen voranzukommen. Der Süden hat jede Menge Kulturinstitutionen, aber die hohe Arbeitslosigkeit sowie die Wohnungsproblematik dürfen nicht unbeachtet bleiben. Das alles zu verbinden, ist ja das eigentlich Spannende – die Realität anerkennen und herausfinden, was man über den Weg der Kultur in diesen Bereichen bewegen kann…
Ralph Waltmans: Außerdem muss man bedenken, dass das Ganze auch schief laufen kann. Aber der Prozess ist so oder so wertvoll. Allein der Kontakt mit den anderen, lokalen Akteuren bringt uns weiter, denn wir lernen uns teilweise erst heute kennen.
In einem früheren Interview mit forum sprachen Sie davon, dass Sie beim Begriff der „sozialen Selektivität“ eine Gänsehaut bekämen. Wie wollen Sie vorgehen, um der sozialpolitischen Realität im Süden gerecht zu werden und ein Programm für das Jahr 2022 zu entwerfen, das sich nicht nur an eine gesellschaftliche Gruppe wendet?
Vera Spautz: Wir haben nicht auf diese Kandidatur gewartet, um uns diesem Thema zuzuwenden. Man nehme das Beispiel der Kulturfabrik, die ein wunderbares Programm in Kooperation mit der französischen Gemeinde Villerupt im Rahmen des italienischen Filmfes- tivals macht, oder auch das Urban Art Projekt, das unter anderem in Kooperation mit dem Lycée Belval stattfindet. Zudem spielt die Kommunikation innerhalb und zwischen den diversen Kultur- institutionen eine wichtige Rolle, wenn man dieser Form der sozialen Selektivität entgegenwirken möchte.
Ralph Waltmans: Wir legen bei der Durchführung des Projekts sehr großen Wert auf den partizipatorischen Aspekt. Wir halten uns zwar jetzt noch bedeckt, aber kurz vor der Abgabe wollen wir mit unserem Konzept an die Öffentlichkeit gehen und gerade mit jenen den Dialog suchen, die vielleicht noch nie etwas mit dem ganzen Kulturbereich zu tun hatten, und sie nach ihrer Meinung fragen.
Wie groß kann der Spielraum der Partizipation sein, wenn Sie erst kurz vor der Abgabe des Antrages den Kontakt suchen?
Ralph Waltmans: Beim Antrag handelt es sich um einen standardisierten Vorgang. Wir sehen ihn als wertvolle Übung, bei der wir aber streng auf die Einhaltung der Deadlines achten müssen. Wir hoffen, dass wir bis Mitte April ungefähr 90% des Gerüsts stehen haben, um dann in der Folge „Feedback“ einzuholen. In einem zweiten Schritt werden wir, falls wir das Label erhalten, die Bevölkerung noch beispielsweise durch Wettbewerbe mit einbinden.
Vera Spautz: Die Bevölkerung muss dahinter stehen, sonst müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, Geld aus dem Fenster zu werfen. Wir werden nicht einfach so ein neues Theater bauen und teure Musikgruppen einladen oder gar Pavillons errichten, die nach zwei Jahren wieder abgerissen werden. Und was man auch bedenken muss, ist, dass nächstes Jahr Gemeindewahlen stattfinden. Wir wissen ja nicht, wer dann die Verantwortung trägt. Deswegen dürfen hier keine Ideen zusammengetragen werden, die nur einige Politiker im Kopf hatten – die Konzepte müssen stattdessen breit getragen werden.
Dies bringt uns zur Frage der Planungs- sicherheit…
Ralph Waltmans: Durch die Gründung eines Vereins schaffen wir ein unabhängiges Gremium, in dem die Mitglieder durch ihre Funktion und nicht durch ihren Namen vertreten sind.In der Presse ist zu lesen, dass Sie sich 80% staatliche Unterstützungen erhoffen. 2007 hatte der Staat 67% der Kosten getragen.
Vera Spautz: Mit mir hat bislang kein Journalist über dieses Thema gesprochen, aber ich kann diese Zahl nur befürworten. Ein Wert unter 67% wird kaum in Frage kommen, wir sind schließlich ein Ballungs- gebiet. Der Süden ist nie verwöhnt worden in Bezug auf staatliche Unterstützung, weder bei kulturellen noch anderen Projekten. Übrigens hat uns die Stadt Luxemburg dankenswerterweise schon Unterstützung auf der Planungsebene angeboten.
Und wie sehen Ihre Erwartungen auf der wirtschaftlichen Ebene aus?
Vera Spautz: Wir planen nicht in den Himmel, also werden sicher keine 50 neuen Hotels gebaut oder ähnliches. Wir kommen aus der Krise und sind Richtung Wissensstadt mit einer Universität unterwegs. Das muss in den Köpfen, also auch bei den Geschäftsleuten ankommen, denn sie können davon nur profitieren.
Der Escher Kulturschöffe Jean Tonnar sprach in einem Wort-Interview von einer „neuen Ära“ im Kontext der Kandidatur der Stadt Esch. Ist das nicht zu weit gegriffen?
Vera Spautz: Die Stadt Esch ist seit vielen Jahren dabei, sich zu verändern. Die Uni bedeutet in unserer Geschichte auch einen wichtigen Wendepunkt. Dadurch bestärkt, stellen wir die Kandidatur nach dem Motto: Wir haben in zehn Jahren das eine geschafft, jetzt schaffen wir das andere auch.
Ralph Waltmans: Wenn die Kandidatur nicht das Potenzial zu einem historischen Wendepunkt hätte, bräuchten wir sie nicht zu stellen. Kulturhauptstadt wird man einmal und man bleibt es für immer. Lille ist unser großes Vorbild. Während bei uns auf Schildern groß „Müllertal“ steht, steht dort „Capitale européenne de la culture“. Zudem arbeiten wir auch mit dem gleichen Expertenteam, das Mons und Lille bei der Konzeption und Planung unterstützt hat. Jene Städte, bei denen es nicht zu einem positiven Moment kam, sind beispielsweise Paris oder Berlin. Die Städte hingegen, die im Vorfeld ein negatives Image hatten, konnten am stärksten von ihrem Kulturjahr profitieren.
Vera Spautz: Dementsprechend haben wir perfekte Startbedingungen!
Danke für das Gespräch!
(Das Interview wurde am 20.1.2016 von Anne Schaaf und Raymond Weber geführt.)
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