Resilienz als neue Zielvorgabe

Einführung ins Dossier

In der Nach-Corona-Welt müssen wir uns vom idyllischen Konzept der nachhaltigen Entwicklung verabschieden. An ihre Stelle tritt als Zielvorgabe Resilienz, d. h. die Fähigkeit von Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft, tiefgreifende Veränderungen und Umbrüche zu bewältigen.

Regierungen auf der ganzen Welt haben im Frühjahr 2020 angesichts der Ausbreitung einer neuartigen Virusinfektion eine Hälfte der Menschheit für einige Wochen in Zwangsquarantäne geschickt und die Weltwirtschaft zum Stehen gebracht. Damit ist auf einen Schlag eine Situation von welthistorischer Strahlkraft entstanden, vergleichbar mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und wahrscheinlich wirkmächtiger als der 11. September 2001 oder die Finanzkrise von 2008 und 2009. Die Zukunft scheint wieder völlig offen zu sein, das kapitalistische Weltsystem gerät ins Stocken, Hoffnungen auf einen Neuanfang und Ängste vor dem völligen Zusammenbruch mischen sich im privaten Gespräch und im öffentlichen Diskurs.

Die Zukunft ist offen

Seit 2003 war die Weltgemeinschaft vor dem Ausbruch einer großen Epidemie gewarnt: SARS1, MERS, H1N1 und Ebola lieferten die Generalprobe, Literatur und Filmindustrie die passenden Bilder in unseren Köpfen. Und trotzdem: Es brauchte die Toten von Bergamo, um Maßnahmen zu rechtfertigen, die vordem schlichtweg unvorstellbar waren. Nach ungläubigem Staunen angesichts der Situation in Wuhan und wochenlangem Abwarten aus Rücksicht auf Karnevalsfeiern und Skiferien beschlossen die europäischen Regierungen Mitte März die Einsetzung von Notstandsgesetzen und verfügten einen mehr oder weniger radikalen Stopp des öffentlichen Lebens. Die Staaten, die anfangs versuchten, einen anderen Weg zu gehen, stehen mittlerweile vor sozialen und medizinischen Katastrophen. An ihrer Spitze die USA, Großbritannien und Brasilien.

Die Zukunft ist ungewiss. Zuerst einmal in medizinischer Hinsicht. An die rasche Entwicklung eines sicheren Impfstoffes, der in gigantischen Mengen produziert und von einem Großteil der Weltbevölkerung angenommen werden müsste, glauben nur Berufsoptimist_innen. Die Ausgangsbeschränkungen haben das Problem nicht gelöst, sondern aus sanitärer Sicht unsere Gesellschaften nur dorthin zurückgebracht, wo wir vor zehn Wochen waren – d. h., die Zahl der Neuansteckungen ist wieder auf dem Niveau, auf dem Gesundheitsbehörden materiell in der Lage sind, bei nahezu allen Infektionsfällen die Kontakte zu identifizieren und die betreffenden Personen in Quarantäne zu schicken.

Die wochenlange Reduzierung aller gesellschaftlichen Aktivitäten war jedoch so erfolgreich, dass an Herdenimmunität (wenn dies denn jemals ein sinnvolles Konzept gewesen wäre) nicht zu denken ist. Trotzdem ist das neuartige Coronavirus mittlerweile so weit über den Erdball verbreitet, dass es laut WHO wohl nicht mehr ausgerottet werden kann. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, rüstige Alte, Vorerkrankte und Hochbetagte, sie alle, die in den letzten zehn Wochen wegen der mehr oder weniger eingehaltenen Ausgangssperren nicht an COVID-19 erkrankt sind, werden auf ihrem zukünftigen Lebensweg womöglich doch irgendwann mit dem Virus konfrontiert werden.

Genau wie in den 1980er und 90er Jahren mit HIV verändert sich heute mit COVID-19 vor unseren Augen das, was es bedeutet, Mensch zu sein. Neue Verhaltensmuster spielen sich ein und werden weltweit zur Norm: Die soziale Kontrolle im öffentlichen Raum verschärft sich, Begrüßungsformen vereinfachen und vereinheitlichen sich, unsere Einstellung gegenüber Gesichtsmasken und -schleiern wandelt sich. Viele individuelle Verhaltensweisen werden nur noch im privaten oder semi-privaten Bereich möglich sein. Die Auswirkungen auf sexuelle Promiskuität und Jugendkultur sind nicht abzusehen. Daneben brechen ganze Kultursparten weg, die eine dichte Versammlung von Zuschauermengen voraussetzen, und an ihre Stelle treten digitale Ausdrucks- und Konsumformen, deren Geschäftsmodelle und künstlerische Bedeutung noch keiner einschätzen kann (vgl. zu einer neuen digitalen Kultur-Plattform das Gespräch mit Serge Tonnar in diesem Dossier).

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist die Zukunft ungewiss. Einer Kaskade an Konkursen, hoher Arbeitslosigkeit und einer vorübergehenden Explosion der Staatsverschuldung könnte schon nächstes Jahr ein Wirtschaftswachstum von 5 bis 8 % gegenüberstehen. Der Einbruch von 2020 hätte dann eine weitere Bereinigung und Konzentration der Märkte zur Folge gehabt; viele kleine und mittlere Unternehmen in Transport, Handwerk, Handel, Gastronomie und Industrie, die schon vor der Krise kaum rentabel oder der digitalen Transformation aus dem Wege gegangen waren, werden aufgeben müssen (vgl. den Text von Michel-Edouard Ruben in diesem Dossier zur wirtschaftlichen Ausgangslage Luxemburgs).

Mit Verwunderung haben die oft wegen ihrer Liquiditätsengpässe gescholtenen privaten Haushalte feststellen müssen, dass selbst viele große, gewinnträchtige Unternehmen kaum länger als zwei Monate ihre Angestellten bezahlen können, ohne dafür Staatshilfen zu beantragen. In der New Economy-Zeit als Cashcows für ihre Eigner_innen konzipiert, wollen diese dann in Krisenfällen weder Kapital nachschießen noch auf Dividenden verzichten. Stattdessen erfolgt sofortiger Rückgriff auf den Staat, also auf die Finanzkraft der Gemeinschaft. Die warmen Appelle unserer Chambre de Commerce, der gebeutelten Wirtschaft vorrangig beizustehen und ein finanzkräftiges Rettungspaket nach dem anderen zu schnüren, folgen bekannten Routinen. Gewinne privatisieren, Schulden vergemeinschaften, ansonsten keine zukünftigen Steuern, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts nicht zu gefährden (zum Thema Steuergerechtigkeit vgl. den Text von Jean-Sébastien Zippert in diesem Dossier). Doch kein Staat, auch nicht der luxemburgische, kann während Monaten 70 % der Wirtschaft alimentieren.

Während des confinements musste sich der Staat das Stillhalten der in der Privatwirtschaft beschäftigten Bevölkerung und der vielen Interessengruppen erkaufen, doch in den nächsten Monaten wird er langsam und häppchenweise Teile der Wirtschaft in den Konkurs entlassen. Denn weltweit sieht es nicht so aus, als ob sich die Dinge schnell einpendeln würden, und Luxemburg ist keine Insel – trotz der derzeitigen AAA-Einstufung. Die Gefahr besteht, dass der aktuellen Krise und dem Aufschwung im kommenden Jahr (in Form eines U) ein ganzes Jahrzehnt der Stagnation folgen wird (das gefürchtete L), in dem die entwickelten Industriestaaten unter deflationären Risiken, Bevölkerungsabnahme, ausufernden Gesundheitsausgaben, Rückgang des Welthandels und den Folgen des Klimawandels leiden werden.

Luxemburg ist ein risikobehaftetes Territorium auf einem fragilen Kontinent. Die Abhängigkeit von den Grenz­gän­ger_in­nen, deren Zugang zum Staatsgebiet nicht mehr automatisch gesichert war, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, die aufkommenden Fragen zur Lebensmittelsicherheit und der erschwerte, überteuerte just-in-time-Zugang zu medizinischem Material, all das hat uns schmerzlich vor Augen geführt, wie verwundbar das Land ist, wenn die EU scheitert und die umliegenden Nationalstaaten das Zepter wieder in die Hand nehmen.1

Auch Europa steht sehr alleine da, aufgegeben von den USA und immer noch ohne gemeinsames Projekt. Damit geht auch für Luxemburg eine Epoche der Selbstverständlichkeit zu Ende. Was soll jetzt werden? Wie sich vorbereiten auf das, was kommt?

Gefahren für Luxemburg

Vor 15 Jahren hatte ich einmal mit Mil Jung, dem damaligen Direktor des Service information et presse, eine Liste der Risiken erstellt, auf die sich das Land langfristig vorbereiten müsste, wenn es ernsthafte Vorsorge treffen wollte und sich nicht nur auf seinen legendären Pragmatismus verlassen würde. Die damals versammelten Punkte scheinen mir immer noch aktuell:

  1. Scheitern der europäischen Integrationsbemühungen aufgrund einerseits der unterschiedlichen Zielvorstellungen zwischen Atlantiker_innen und Kontinentaleuropäer_innen und zwischen Nord- und Südeuropäer_innen sowie andererseits eines Rückgangs der Akzeptanz des neoliberalen Entwicklungsweges, mit dem die EU identifiziert wird;
  2. Ausbruch einer Pandemie und anschließender Zusammenbruch des Gesundheitssystems durch das Wegbleiben der Grenzgänger_innen;
  3. Zusammenbruch der Biodiversität durch den langfristigen Einsatz von Giftstoffen;
  4. Klimawandel und grundlegende Veränderungen im Wasserhaushalt des Landes;
  5. soziale Verwerfungen aufgrund eines unausgeglichenen Wachstums oder wegbrechender Steuereinnahmen;
  6. schwerwiegender Störfall in Cattenom.In den letzten 15 Jahren sind zwei weitere bedeutende Gefahren hinzugekommen, die aber wenig spezifisch für Luxemburg sind:
  7. Cyberterrorismus und Cyberkriminalität, durch die Teile des Internets und die Stromversorgung lahmgelegt werden könnten,
  8. sowie Populismus und Rechtsextremismus, d. h. die zunehmende Akzeptanz von autoritären, rückwärtsgewandten politischen Angeboten.

1. An der Misere der EU2 trug Luxemburg zumindest bis 2013 eine gewisse Mitschuld, denn das selbst nach der Finanzkrise von 2008/2009 weitergeführte Steuerdumping insbesondere durch Luxemburg, Irland und die Niederlande führte dazu, die Glaubwürdigkeit der EU in den großen europäischen Nationalstaaten zu untergraben. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Luc Frieden versuchte Finanzminister Pierre Gramegna ab 2014, Luxemburg schrittweise aus der Rolle des Parias herauszuholen. Und tatsächlich stehen wir in dieser Hinsicht heute sehr viel sicherer und stabiler da: Luxemburg wird trotz seiner weiterbestehenden Eigeninteressen als Teil der Lösung einer gerechteren weltweiten Unternehmensbesteuerung angesehen und nicht mehr nur als Teil des Problems.

Heute stellt jedoch der an Borniertheit grenzende Mangel an Engagement Luxemburgs im unmittelbaren Grenz­gebiet3 ein Risiko dar. Luxemburg ist existenziell davon abhängig, dass jeden Tag über 200.000 Menschen zur Arbeit ins Großherzogtum pendeln und die mühsame Verkehrssituation in Kauf nehmen (vgl. zur Grenzregion den Beitrag von Félix Martins und Cédric Sangaletti in diesem Dossier). Im Gegenzug müsste sich das Land in irgendeiner Weise verantwortlich zeigen für die Lebensqualität in jenen Gemeinden, die zwar außerhalb der Landesgrenzen liegen, in denen aber ein Teil der Schicksalsgemeinschaft lebt, welche die Prosperität unseres Gemeinwesens erwirtschaftet. Das irrationale Beharren auf die nationalen Grenzen als Kriterium für finanzielle Teilhabe und kommunale Dienstleistungen hat sich angesichts der gegenseitigen Abhängigkeiten überlebt. Hier ist auf Seiten der Luxemburger Autoritäten erst ein ganz langsamer Mentalitätswandel zu beobachten.

2. Luxemburg hat sich 2006 einen Pandemieplan4 gegeben, der dann vergessen, d. h. weder aktualisiert, überprüft noch in Übungen getestet wurde. Im Februar/März 2020 musste vieles aus dem Stand neu überdacht werden, Strukturen und Prozesse, Ressourcen und Kompetenzen waren innerhalb von Tagen zu entwickeln und zu bündeln. Dass das gelungen ist, grenzt an ein Wunder und zeigt die enormen Vorteile eines kleinen Landes bei der Bewältigung einer derartigen Krise. Die vorhandenen finanziellen Ressourcen spielten sicherlich eine Rolle, aber erklären nicht alles.

3. Der Zusammenbruch der Biodiversität5 ist weit fortgeschritten, ohne dass es im öffentlichen Bewusstsein angekommen wäre. Die Maßnahmen im Bereich Umwelt- und Naturschutz tragen wahrscheinlich sogar noch dazu bei, dass sich Politik und Bevölkerung in Sicherheit wähnen. Nachdem ein guter Teil der Insekten nicht mehr da ist, verschwinden jetzt Vögel und Amphibien. Bei der Reform der Landwirtschaft, maßgebliche Mitverursacherin des Artensterbens, haben wir 20 Jahre verloren und befinden uns in einer völlig verfahrenen Situation. Die industrielle Landwirtschaft, die in Abhängigkeit von der Nahrungsmittelindustrie die Interessen von Bauern und Bäuerinnen, Konsument_innen und Natur ignoriert, müsste eigentlich in einem finanziellen und sozialen Kraftakt zerschlagen werden.

4. Auch bei der Bekämpfung des Klima­wandels6 haben wir in Luxemburg 20 Jahre verloren (und die Beteiligung der Grünen an der Regierung hat daran auch nichts ändern können). Der aktuelle Krisenplan der Regierung (Neistart Lëtzebuerg) zeigt, dass die Zeichen der Zeit immer noch nicht wirklich erkannt wurden. Die Gelder dürften jetzt nicht nur ein bisschen in Wärmeschutzmaßnahmen von Häusern gelenkt werden, sondern müssten massiv in die Umgestaltung von Wirtschaft und Produktion fließen. Die Gelegenheit ist da, um staatliche Unterstützung an Innovation und Klimaschutz zu koppeln, statt einfach den energetischen Irrsinn der Vergangenheit staatlicherseits weiter zu finanzieren. (Auf die Dringlichkeit eines echten Kampfes gegen den Klimawandel macht Dominique Bourg in unserem Dossier aufmerksam.)

Übrigens: Jeder kann gerade in Echtzeit beobachten, wie die luxemburgischen Buchen- und Eichenwälder auf die Trockenheit reagieren, die sich auf Dauer installiert: Die über 100 Jahre alten Bäume im Grünewald und in den Stadtparks verdorren und sterben – einer nach dem anderen…

5. Auch im sozialen Bereich7 hat sich die Situation durch das Wachstum und die Wohlstandsentwicklung der letzten 15 Jahre nicht verbessert, was hauptsächlich der Entwicklung der Wohnkosten geschuldet ist. Die Politik (außer in der Stadt Luxemburg) hat im Prinzip zwar eingesehen, dass sie diesen Bereich nicht mehr einem Oligopol aus Grundstücksbesitzer_innen und Bauentwickler_innen überlassen sollte. Doch das den Gemeinden und dem Staat zur Verfügung stehende Bauland und die Kapazitäten zur Fertigstellung von Wohnraum sind im Verhältnis zum Bedarf so gering, dass an eine Entspannung der Situation nicht zu denken ist. Statt disparate Maßnahmen müssten Staat und Gemeinden hier eine kohärente, langfristige Strategie für den öffentlichen sozialen Wohnungsbau formulieren, was einem regelrechten Kulturwandel gleichkäme.

6. Für den Fall einer Havarie in Cattenom8 (das größte und mit Abstand unsicherste Atomkraftwerk Frankreichs liegt in unmittelbarer Nähe zur luxemburgischen Grenze) stehen mittlerweile weit entwickelte Notfallpläne zur Verfügung, die u. a. eine komplette Räumung des Südens des Landes vorsehen. Ein jederzeit einsatzbereites nationales Krisenzentrum ist in Senningen eingerichtet. Parallel dazu hat sich die luxemburgische Regierung unter Umweltministerin Carole Dieschbourg seit 2013 konsequent auf europäischer Ebene gegen den Ausbau der Atomenergie gewehrt und gegenüber Frankreich und Belgien auf eine Abschaltung bzw. Sicherung der Atomkraftwerke gedrängt, die in unmittelbarer Nähe zu Luxemburg liegen. Unglaubwürdig wird diese Politik nur dadurch, dass die heimische Industrie trotz allfälliger staatlicher Beihilfen immer noch ohne Schwierigkeiten Atomstrom beziehen kann und dadurch der konkurrenzlos billige, nationale Strommix mit einem Anteil von über 10 % Atomstrom keineswegs vorbildlich ist.

Diese Risikoanalyse lässt sich weiter aktualisieren: Insbesondere die Unsicherheiten und Gefahren, die vom luxemburgischen Wachstumsmodell ausgehen, und die starke Abhängigkeit vom Finanzplatz sind in den letzten 15 Jahren von der Zivilgesellschaft ausgiebig thematisiert worden.

Weltweite Instabilität

Wie selten zuvor wurde in den letzten zehn Wochen weltweit in den Medien und Denkfabriken, unter Freund_innen und Feind_innen über die Zukunft spekuliert. Dabei waren viele Überlegungen von Wunschdenken geprägt. Doch in drei Punkten sind sich die Analysten einig:

  • Die Digitalisierung hat einen weiteren Schub erhalten (vgl. auch den Text von Joël Adami in diesem Dossier). Die Zukunft gehört den großen Plattformen und der künstlichen Intelligenz mit zum Teil radikalen Konsequenzen für Arbeitsmarkt, Sozialsysteme und politische Willensbildung – sowie für die psychologische Disposition der Individuen.
  • Globalisierung und Internationalisierung werden zum Teil zurückgefahren, und die Bedeutung der Nationalstaaten nimmt wieder zu. Parallel dazu haben die Staaten an Möglichkeiten gewonnen, ihre eigenen Bevölkerungen zu überwachen.
  • Die Vormacht der USA und mit ihr der Siegeszug des liberal-demokratischen Modells ist endgültig gebrochen, während die EU es immer noch nicht geschafft hat, sich als ernstzunehmender Akteur in Stellung zu bringen. Die internationale „Gemeinschaft“ hat sich als Mythos erwiesen, stattdessen installiert sich ein Systemwettbewerb zwischen China, Russland und den USA, in dessen Rahmen massiv und systematisch Desinformation betrieben wird, um Menschen zu desorientieren und gegen ihre eigenen Regierungen aufzuwiegeln. Selbst die Bereitschaft zum Krieg scheint bei den Großmächten wieder anzuwachsen.

Wenig diskutiert wurden hingegen die Schlüsse, die sich aus dem Lockdown und seinen Auswirkungen auf die Klimapolitik ergeben. Hier blieb das Niveau der Debatte seltsam unwirklich, auf der Ebene politischer Appelle und getrieben von gewissermaßen magischem Denken. Obwohl die Schlussfolgerungen auf der Hand liegen und nichts Gutes verheißen…

Der zweimonatige, synchrone Stillstand des öffentlichen Lebens und einer großen Palette wirtschaftlicher Aktivitäten in den größten Volkswirtschaften der Erde hat den weltweiten, menschengemachten CO2-Ausstoß für 2020 nach unterschiedlichen Berechnungen um bis zu 8 % im Verhältnis zu 2019 gesenkt – aber mit langfristig verheerenden sozialen Folgen. Wenn wir bis 2050 unseren CO2-Ausstoß nur um insgesamt 70 % reduzieren wollten (was zu wenig wäre zur Stabilisierung des Klimas), benötigten wir alle zwei Jahre einen weiteren Schock ungefähr dieser Größenordnung (ohne jeweils wieder auf das davorliegende Niveau ansteigen zu dürfen). Seien wir ehrlich: Das kann sich niemand wünschen und sicherlich keine Regierung durchsetzen, die wiedergewählt werden möchte. Die aktuelle Erfahrung zeigt: Eine freiwillige Reduktion menschlicher Aktivitäten zur Eindämmung des Klimawandels dürfte ausgeschlossen sein.

Was bleibt also zu tun? Wir wissen es im Grunde seit über zehn Jahren: Wir benötigen einen weltweiten CO2-Preis, der niedrig beginnt und jedes Jahr um 3 oder 4 % steigt. Die EU als weiterhin größter Verbrauchermarkt der Welt kann ohne weiteres eine solche CO2-Steuer an ihren Grenzen als Importzoll einführen und damit auch weltweit durchsetzen. Parallel dazu müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten massiv (in einer Größenordnung von jährlich rund 150 Milliarden Euro) in Grundlagen- und angewandte Forschung investieren, um Mittel und Wege zu finden, den Preis von erneuerbaren Energien und die Kosten von Speicherung und Verteilung weiter zu senken. Erneuerbare Energie muss rasch sehr viel billiger als fossile Energie werden und weltweit zur Verfügung stehen, was auch bedeutet, dass Patente und Technologien der Weltgemeinschaft gratis überlassen werden müssen. Das Überleben der Menschheit würde uns bei dieser Rechnung etwa 2 % des europäischen BIP kosten.

In der forum-Ausgabe 284, März 20099 haben wir dazu folgenden Vorschlag gemacht: „Die genuin europäische Antwort auf die Krise sollte ein eigenständiger Vertrag sein, der ähnlich wie der EGKS/CECA-Vertrag von 1952 (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) bzw. der EURATOM-Vertrag von 1958 (Europäische Atom-Gemeinschaft) sich eindeutig der Entwicklung einer Industrie bzw. der Lösung einer Problematik verschreibt. In diesem Falle bestünde die Aufgabe einer Europäischen Gemeinschaft für Klimaschutz, erneuerbare Energie und nachhaltige Entwicklung in der Entwicklung, Finanzierung und Umsetzung eines großen Investitionsprogramms in grüne Energieinfrastrukturen, also vor allem in den Ausbau alternativer Energiequellen mitsamt der dazugehörigen Netze und Speicherkapazitäten. Hinzu kommen Investitionen in Energieeffizienz sowie in Bodenschutz und Waldwirtschaft. Ziel sollte es sein, während der nächsten zehn Jahre in Form von Zuschüssen jährlich 100 Milliarden Euro für Investitionen bereitzustellen.“

Vorsorge für eine ungewisse Zukunft

Was bedeuten diese Entwicklungen für Luxemburg, als eines der europäischen Länder, das am stärksten von der Ära der Globalisierung profitieren konnte?

Bei der letzten Krise, jener von 2008/2009, die in erster Linie eine Finanzkrise war und sich erst danach zu einer Wirtschaftskrise ausweitete, hätte man darauf wetten können, dass Luxemburg angesichts seiner hohen Abhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten zu den globalen Verlierern gehören würde. Doch nachdem die USA unter Obama, die Europäische Zentralbank und die europäischen Staaten beschlossen hatten, das internationale Finanzsystem mit Geldern zu fluten, gehörte Luxemburg plötzlich wieder zu den Gewinnern. Die letzten zehn Jahre führten enorme Kapitalströme nach und über Luxemburg und erlaubten auch der hiesigen Finanzindustrie an der großen Umverteilung, bei der öffentliche Verschuldung in private Gewinne verwandelt werden, massiv mitzuverdienen, was die Staatseinnahmen des Großherzogtums von Rekord zu Rekord eilen ließ. Und vielleicht wird es wieder so kommen: Die Staaten nehmen nicht Dutzende, sondern Hunderte Milliarden Euro in die Hand, um einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern, und verschulden sich in einem Ausmaß, das bis vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Wir betreten auch in finanzpolitischer Hinsicht komplettes Neuland.

In einer Situation, die derart beispiellos ist und in der die Risiken und Gefahren sich gegenseitig derart überlagern, ist jedes Szenario denkbar. So müsste das Gebot der Stunde sein, Territorium, Gemeinwesen und Wirtschaft auf extrem instabile politische, soziale, wirtschaftliche und klimatische Verhältnisse vorzubereiten. Ehrlicherweise müssten wir uns jetzt auch vom Konzept der „Nachhaltigen Entwicklung“ verabschieden, das eine planvolle Bewältigung der Zukunft unter den Prämissen der Gegenwart anstrebte. Denn nichts deutet mehr daraufhin, dass der Kapitalismus in seiner derzeitigen Ausformung in der Lage ist, freiwillig die externalisierten Kosten des weltweiten Raubbaus an Menschen und Natur zu berücksichtigen. Klimawandel, Wassernotstand, Biodiversitätsverlust und die Häufung von Umweltkrankheiten lassen sich ganz offensichtlich nicht durch die unsichtbare Hand des Marktes aus der Welt schaffen. An die Stelle der Nachhaltigkeit tritt das Konzept der Resilienz, das die Zukunft als weit offen (und zum Teil auch als bedrohlich) wahrnimmt und darauf mit Agilität, Kooperation und Vorsorge reagiert. Resilienz ist ein zutiefst pragmatisches, faktenbasiertes Konzept, das sich die Zukunft nicht schönredet und zuallererst die Überlebensfähigkeit und Stärkung von Systemen in den Vordergrund stellt und nicht deren Wachstum (zu den im confinement digital organisierten Resilienz-Cafés vgl. den Beitrag von Norry Schneider in diesem Dossier).

Hilfreich wäre es, wenn politische Mandatsträger und Verwaltungen kurz innehalten würden und die Finalität ihres Handelns überdenken. Von der Zukunft her denken, hieße sich zu trauen, grundsätzliche Fragen nach dem Ziel dieses politischen Handelns zu stellen. Heutige Weichenstellungen aus der Perspektive der Zukunft zu überprüfen, zeigt Sackgassen, aber auch Möglichkeitsräume auf – und führt dann womöglich zu neuen Antworten. Dann könnte sich herausstellen, dass nicht steigender Wohlstand für einige Glückliche die ultimativen Ziele unseres Gemeinwesens darstellen, sondern die Steigerung von Wohlbefinden, Gesundheit, Sicherheit und Freiheit aller Menschen, für die unser Gemeinwesen verantwortlich ist (dass diese Verantwortlichkeit globale Dimensionen umfasst, zeigt Birgit Engel in ihrem Beitrag in diesem Dossier). Um einer solchen Erkenntnis eine Chance zu geben, bedarf es politischer Prozesse, die den üblichen institutionellen Rahmen sprengen, und es braucht ergebnisoffene gesellschaftliche Debatten. Angesichts der Gravität der Situation wäre es kein Luxus, die Frage nach der Weiterentwicklung und Stärkung unserer parlamentarischen Demokratie10 noch einmal zu stellen.

Auch in Luxemburg hat das Nachdenken über die Zukunft längst eingesetzt, viele Plattformen und Initiativen haben sich zu Wort gemeldet. Und auch das vorliegende Dossier möchte zu dieser Zukunftsdebatte einen Beitrag leisten. Es finden sich darin neben den schon angesprochenen Beiträgen noch Texte von Ines Kurschat zur Einschränkung der Pressefreiheit, Reflexionen von Hedwig E. de Laoreine zu unserem Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit und einen von Petra Stober geschriebenen Weckruf zur Bildungs-Situation. Die Redaktion von forum hat darüberhinaus versucht, konkrete Vorschläge und Forderungen zu entwickeln, die Luxemburg als Land und Gesellschaft auf die kommenden Umbrüche vorbereiten können. Sie finden diese 31 Vorschläge am Ende des Dossiers. Ihre Reaktionen sind unbedingt willkommen!

  1. Vgl. den Beitrag von Victor Weitzel in dieser Ausgabe.
  2. Vgl. forum 329, Mai 2013: Kernland Europas.
  3. Vgl. forum 390, November 2018: Terres communes.
  4. Vgl. Jürgen Stoldt, „Mors certa, hora incerta. Zur Einstimmung auf eine Pandemie“, in: forum 251, November 2005, S. 22-23.
  5. Vgl. forum 382, März 2018: Tierrechte und forum 401, Dezember 2019: Anthropozän.
  6. Vgl. forum 291, November 2009: 2 Grad.
  7. Vgl. forum 383, April 2018: Sozialer Zusammenhalt.
  8. Vgl. forum 347, Januar 2015: Cattenom.
  9. Vgl. Jürgen Stoldt, „Eine Europäische Gemeinschaft für Klimaschutz, erneuerbare Energie und nachhaltige Entwicklung“, in: forum 284, März 2009, S. 4-6.
  10. Vgl. forum 402, Januar 2020: Zukunft der Demokratie.

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