Es gibt keine erfolgreiche europäische Kulturhauptstadt. Entweder sind die triumphierenden Bilanzen ähnlich beschönigt wie nordkoreanische Erfolgsmeldungen über Atomtests; oder schonungslose Evaluierungen verschwinden im Rahmen der Wiederkehr zur kulturellen Normalität in einer Schublade.
Natürlich ist dieses Statement nun auch wiederum falsch, weil in vielen Bereichen durchaus Erfolge nachgewiesen werden können, die allerdings nie ohne Rückschläge bei anderen Zielsetzungen auskommen. Das liegt vor allem an den sehr unterschiedlichen Erwartungen, die verschiedene Interessensgruppen in dieses Event hineinprojizieren, von der Touristikwirtschaft über die Kunstszene bis hin zur breiten Bevölkerung.
Um also sechs bis zehn Jahre im Vorfeld eine erfolgversprechende Kulturhauptstadt zu planen, muss vor Ort zuerst ein Konsens darüber entstanden sein, mit welchem mittel- und langfristigen Output die betroffene Stadt und Region rechnen möchten. Dabei fallen die Ambitionen recht unterschiedlich aus: Für abgewrackte Industriemetropolen wie Glasgow, Lille oder Liverpool galt es, das Image von verfallenen Industrieklitschen und sozialer Misere abzustreifen und nach außen ein Bild des Phönix aus der Asche und der optimistischen Aufbruchsstimmung innerhalb der Bevölkerung zu vermitteln oder zumindest vorzugaukeln. Andere wiederum waren oder sind eher touristisch orientiert, und es gab auch welche, die einfach nur ein ausgedehntes Eventprogramm mit Freikultur für alle bieten wollten.
Der Fall Donostia-San Sebastian, neben Wroclaw in Polen eine der beiden diesjährigen Kulturhauptstädte, sticht besonders hervor: Nach Jahrzehnten eines vom Terror geprägten sozialen Umfelds reiht sich die Kulturhauptstadt 2016 in einen sorgfältig orchestrierten „plan estrategico“ bis 2030 ein, in dem die Kulturhauptstadt mit ihrem Motto „Für eine Kultur des Zusammenlebens“ nur eine Etappe in der Rückkehr zu einem geregelten und menschlichen Zusammenleben darstellen soll (siehe Beitrag über Donostia, S.30).
Das ist natürlich ein Glücksfall, denn besonders bei ehemaligen Hauptstädten, in denen die Dynamik stärker von den Entscheidungsträgern als von der eher skeptisch eingestellten, gemeinhin kulturfernen Bevölkerung getragen werden musste, wirkte sich die Diskrepanz zwischen oben und unten allzu oft fatal auf die Akzeptanz des Jahrhundertevents aus.
Luxemburg, die Dritte!
Kommen wir nun zur dritten Ausgabe der Kulturhauptstadt im Zwergstaat Luxemburg. Viele Kandidatenstädte aus anderen Ländern finden es dreist, dass das Großherzogtum durch den Mechanismus der zyklischen Vergabe des Titels an die Länder der EU, alle 15 Jahre, nun schon wieder in den Genuss des prestigeträchtigen Events kommt, und dies bei einer einzigen Stadt über 100000 Einwohner, während in anderen Ländern oft über 15 Groß- und Mittelstädte jahrelang und aufwendig um den Pokal konkurrieren.
Sei’s drum, aber Luxemburg muss 2022 keine Kulturhauptstadt haben! Es kann auch, von sich aus oder durch ein negatives Urteil der Jury, darauf verzichtet werden. Die Gretchenfrage, die sich für die Kandidatur von „Esch&Minett2022“ stellt, lautet also schlicht und einfach: wozu das Ganze?
Im Vergleich zur zitierten diesjährigen Kulturhauptstadt Donostia ist der Leidensdruck in Luxemburgs Südregion, bei allem Gejammer auf hohem Niveau, in keinem Fall vergleichbar. Im nationalen und regionalen Kontext besteht kaum Bedarf, neue Infrastrukturen zu bauen, von dringend notwendigen Räumen für die Kreativkultur einmal abgesehen. Das Programmangebot ist eher überschäumend und von überdurchschnittlichem Niveau, die örtlichen Kulturschaffenden sind generell gut im Spannungsfeld von Institutionen wie der Kufa, der Rockhal oder des „1535 °C“ eingebunden. Auch eine neue Alternativszene – Stichwort „Transition Minett“ – lässt aufhorchen.
Und doch besteht noch Luft nach oben, besonders was die Förderung der lokalen Kreativität angeht. Allerdings sollte diese kulturelle Stratosphäre besser von den Kulturschaffenden und der Bevölkerung selbst ausgelotet werden als von kurzfristig interessierten Politikern, die vielleicht zum Zeitpunkt des Geschehens nicht mehr im Amt sein werden (siehe wiederum Donostia).
Wie immer sie von wem gewertet wird, eine europäische Kulturhauptstadt hat stets ihre Sonnen- wie ihre Schattenseiten, im Vorfeld wie im tatsächlichen Kampfgetümmel. Eins ist ihnen gemein: Zu häufig werden enorme Potentiale nicht genutzt, weil sich in der blauäugigen Vorbereitungsphase allzu wenige Gedanken gemacht wurden, was denn nun der optimale Output der ganzen Operation sein sollte, sprich die Frage nach dem Danach.
Derzeit muss erst einmal abgewartet werden, wie die für Mai dieses Jahres zu präsentierende Kandidatur von „Esch&Minett“ oder „Esch&ProSud“ aussehen mag – oder wie auch immer das Geschöpf heißen wird. Ich möchte hier bewusst nicht auf Gerüchte über geheimnisumwitterte Machenschaften im Prozess der Vorbereitung eingehen. Auch ist es zu früh, das erste Papier, das von einer ausländischen Expertengruppe Ende Januar vorgelegt wurde, zu bewerten, da hier jeglicher Bezug auf lokale und regionale Eigenheiten fehlt: Da muss dringend eine Konsultationsphase vor Ort eingefädelt werden, anderenfalls wird die Kandidatur wie ein Ufo bei den ungläubig staunenden Eingeborenen und Eingewanderten des Minett-Parks landen.
Das sollte dann doch schon gesagt werden…
Diese Zurückhaltung verhindert nicht, dass ich aus meiner Erfahrung von 2007, sowie den Begegnungen und Beratungen mit nicht weniger als 22 Städten, die sich intensiv über ihre Kandidatur gebeugt haben, heraus einige vorsichtige Ratschläge in den öffentlichen Raum werfe.
Erst einmal ein positiver Ansatz: Eine Kulturhauptstadt, wie auch immer sie gestaltet sein mag, ist trotz des internationalen Drucks, der auch auf eher kulturfernen Akteuren wie der Wirtschaft oder der Tourismusbranche lastet – Stichwort „Nation Branding“ – vorzüglich dazu geeignet, Projekte, bei denen lange Zeit Stillstand herrschte, ungewohnt schnell wieder in Schwung zu bringen. Zwei Monate dauerte es 2006, um beide Rotunden für die Kulturhauptstadt 2007 bereit zu stellen, sieben Jahre benötigten die nicht gerade von Kultur beseelten Verantwortlichen danach, um sie widerwillig der Jugendkultur zurückzugeben. Doch ohne jenes „Kulturjahr“ würden weder die Rotunden noch die Hall Paul Wurth Kunst und Kreativität beherbergen. Industrielle Kathedralen, wie die Gebläsehalle in Belval oder die Stahlhalle in Düdelingen wären näher am Abriss als an der Perspektive einer postmodernen Nutzung. Also bietet 2022 die Gelegenheit, z.B. in Düdelingen das auf der Stelle tretende Projekt „NeiSchmelz“ aus der Stagnationsphase herauszureißen oder das eingeschlafene Potential der Gebläse-
halle in Belval endlich zu sichern und zu entwickeln sowie neue Rekonversions-
projekte in der Region auszuloten.
Im günstigsten Falle, wenn die Grundausrichtung dieser Kulturhauptstadt also nicht, wie 2007, eine von oben verordnete, politisch geprägte Übung wäre, sondern auf einem langatmigen, sorgsam durchdachten und kontrovers diskutierten Prozess gründen würde, böte sich die einzigartige Chance, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in der Region zu generieren und zu festigen. Denn ein solches steht zwar auf manchem Papier und füllt viele Sonntagsreden, doch im Alltag bleibt davon selten etwas zu spüren. Es geht auch um Selbstbewusstsein, als Kollektiv wie als Einzelne und Einzelner. Es kann ohne Übertreibung behauptet werden, dass die Kulturhauptstadt in Lille, hauptsächlich mit ihren „Maisons Folies“, ihren „Métamorphoses“ und anderen „mondes parallèles“ wesentlich zur Aufbruchsstimmung eines öden Ortes und einer deprimierten Bevölkerung beigetragen hat. Und das beschränkt sich nicht auf ein bloßes touristisches oder kommerzielles Branding, sondern muss sich tief in den Seelen der Bürgerinnen und Bürger einnisten.
Nun wird es sich bei der Kandidatur für die Kulturhauptstadt 2022 im Großherzogtum wieder um ein regionales Projekt handeln. Ein hehres, aber heikles Unterfangen. Bei ähnlichen Unternehmungen hat es in der Vergangenheit, hinter einer Fassade von „Eintracht im Thale“, fast überall stark geknistert, selbst im emblematischen Ruhrpott. Es ist deshalb überlebenswichtig, dass bei einem solchen Projekt die Diplomatie im Vordergrund steht. Entscheidend ist nämlich, dass jede Gemeinde nicht nur das Gefühl, sondern die Gewissheit bekommt, dass sie konkrete Vorteile aus ihrem Mitmachen ziehen wird und nicht nur einzahlt.
Sicherlich muss regionalen Zielsetzungen absolute Priorität eingeräumt werden, so z.B. auch der in unzähligen Seminaren vor Ort beschworenen Schaffung einer überregional erkennbaren Marke der Region „Minett“, die nicht nur auf einer Karte zu finden wäre, sondern auch im Selbstverständnis der BewohnerInnen und im Fokus innereuropäischer BesucherInnen. Dazu reicht es sicherlich nicht, einen Sommer lang auf renaturierten Schlackenhalden zu tanzen oder dröhnende Festivals zu organisieren. Bei der konkreten Umsetzung nachhaltiger Strategien muss endlich zu Potte gekommen werden. Doch auch lokale Partikularinteressen müssen vorab identifiziert und diskutiert werden, da anderenfalls, wie bei Gemeindesyndikaten so üblich, die eine oder andere Gemeinde vorzeitig auszusteigen geneigt sein wird.
Ach ja, da gibt’s, neben den geopolitischen Positionierungsstrategien der Politik, noch ein nicht unwichtiges Detail, nämlich das Programm der Kulturhauptstadt! Die EU muss immer wieder daran erinnern, dass es sich um ein europäisches Konzept handelt und nicht um ein „festival folklorique régional“, wie Michel Rocard ironisch moniert hatte. Von daher reicht es weder, mit lokalen Institutionen und Initiativen ein sympathisches Terroir-Programm auf die Beine zu stellen noch ein ready made Unterhaltungsprogramm aus dem Ausland zu importieren. Die generelle Zielsetzung der Kulturhauptstadt ist der positive Clash europäischer und lokaler Kulturen, was denn auch die Operation komplexer und teurer macht. Neben der unerlässlichen „grassroot“ oder partizipativen Komponente muss auch die professionelle und „high end“ Kunstszene Europas mit eingebunden werden. Am besten geschieht dies über Häuser und Initiativen, die gleichfalls im anspruchsvolleren Segment europäischer Kultur mitmischen, wie die Rockhal, die Kufa und das Zwillingshaus „opderschmelz“ und CNA.
Noch eine letztes, nicht unwichtige Herausforderung: die Organisation und die Finanzierung. Besonders letzterer Aspekt kann in Zeiten knapper Kassen den Städten und Regionen erst einmal Angst machen. Denn eine Kulturhauptstadt verschlingt im Vorfeld und im Jahr des Geschehens wesentlich mehr öffentliche Gelder als in einem normalen Jahr. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Kultur 2007 im Luxemburger Staatshaushalt 1,41% ausmachte, 2016 sind wir bei 0,87% angelangt und die Talfahrt scheint weiter zu gehen.
Dazu einige Eckwerte:
Zurzeit liegt das Standard-Budget einer Kulturhauptstadt bei 50-80 Mio.€, seit kurzem gelingt es Städten allerdings, die Juroren mit weniger Budget und mehr Inhalten zu überzeugen.
Weil die Südregion mit kulturellen Infrastrukturen eher gut ausgerüstet ist und auch mit Häusern aus der Hauptstadt zusammengearbeitet werden kann, wie diese das auch schon 2007 in Richtung Süden getan haben, kann das Gesamtbudget sicherlich auf 50 Millionen beschränkt werden.
2007 hatte der Staat, bei einem öffentlichen Input von 38 Millionen, 28 beigetragen, die Stadt Luxemburg 10. Die kandidierende Südregion müsste also mit dem Staat im Vorfeld eine Beteiligung zwischen 75 und 80% aus dem nationalen Kulturtresor aushandeln.
Verteilt man nun die restlichen 10 Millionen auf 4 Jahresetats und nach einem Schlüssel auf die 16 Gemeinden, so ist der Aufwand auch in den oft nicht so gut betuchten Gemeinden des Südens gut zu schultern, vorausgesetzt, Erfolgskriterien sind vorab etabliert und ex post zu evaluieren.
Zum Schluss noch ein guter Rat, den ich jeder Kulturhauptstadt mit auf den Weg gegeben habe: 5-10% des Gesamtetats sollten für die Weiterführung erfolgreicher neuer Projekte gehortet werden, damit die Aufbruchsstimmung nicht zusammenbricht und vielversprechende Initiativen austrocknen. Dies passierte nämlich nach 2007, als der Staat den für diese Nachhaltigkeit ab 2008 vorgesehenen Überschuss einfach einbehalten hatte. Das Tal des Jammers, was daraus folgte und noch besteht, kennen wir ja alle.
Der Weg ist das Ziel
Zum Erfolg einer Kulturhauptstadt gehört natürlich eine Organisationsform, die einerseits den Programmgestaltenden weitgehende Autonomie gewährt, zum anderen aber auch einen vernünftigen Umgang mit öffentlichen Geldern garantiert. Und die es nicht zuletzt dank diplomatischem Geschicks schafft, unterschiedliche Kirchturmpolitiken unter die große Hochofenglocke aus einem Guss zu bringen.
Es mag aber Mut machen, dass der finanzielle Rahmen und das Ausmaß an Investitionen nicht mehr so im Mittelpunkt des Interesses von Juroren stehen. Nunmehr wird, wie ein Mitglied der Jury für 2022 mir erst kürzlich versicherte, ein verstärktes Augenmerk auf zwei entscheidende Aspekte gelegt: auf die Partizipation, am besten ex ante, der Bevölkerung oder zumindest der Zivilgesellschaft und auf die Nachhaltigkeit.
Die frühe Einbindung breiter gesellschaftlicher Schichten verhindert, dass bestehende Problemzonen der Region einfach unter den Tisch gekehrt werden und sich „Die da Oben“ ungestört in Feierlaune bringen. Der für Esch zuständige Kulturschöffe Jean Tonnar hat dies von sich aus thematisiert, als er in einem Interview daran erinnerte, dass Herausforderungen wie die hohe Arbeitslosigkeit oder die Integrationsfrage sicherlich Teil des Hauptstadt-Projektes sein müssten – immerhin ein gutes Zeichen für ein bestehendes Problembewusstsein. Das müsste allerdings bis Mai auf dem berühmten „Terrain“ eine konkrete Umsetzung erfahren, aber unter Zeitdruck gelangen Fantasie und Kreativität wie wir wissen mitunter zu ungeahnten Horizonten.
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