- Kunst
Schönheit der Mehrdeutigkeit
Die Skulptur von Henri Laurens im Park Tony Neuman
Fast versteckt liegt der Park Tony Neuman in einer Ecke vom Limpertsberg, abseits von Restaurants, Geschäften, Yoga-Schulen. Vom Rollingergrund hochsteigend betritt man einen wunderschönen botanischen Garten im Kleinen. Antoine Neuman hat den Park in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts der Stadtbevölkerung zur Verfügung gestellt und damit ein Beispiel gegeben, wie man mit privatem Besitz sozial umgehen kann. Reichtum durch Teilen.
Seit über 30 Jahren besuche ich diesen Park, in dem mir eine Skulptur aus Bronze besonders gefällt. Wie aus dem Boden gewachsen – obwohl auf einem hässlichen Sockel aus Waschbeton stehend – und versteckt von sie umgebenden Bäumen und Büschen, zieht diese Figur meine Blicke auf sich: „Die große Musikerin“ von Henri Laurens. Eine Skulptur, die ich nie zu Ende schauen kann. Auch heute umrunde ich sie. Sie zeigt mir Facetten, die mehr und anders sind als „nur“ das Bild einer „großen Musikerin“. Die Vielfalt ihrer Ansicht hat etwas Irritierendes. Ich vermeine, mehr als nur einer Figur gegenüberzustehen.
Zeigt sie zum einen etwas in sich Gekehrtes, als würde sie in den Park hinein lauschen oder ihrer eigenen Musik zuhören, wird zum anderen die Lyra, das Instrument, das der Figur ihre musikalische Bezeichnung gibt, gleichermaßen zu einem Werkzeug, das die Welt bearbeitet, und zu einer Leiter nach oben für ihre tänzerischen Bewegungen. Es ist die Schönheit der Mehrdeutigkeit (Ambiguität), der Mut, gegensätzliche Posen auszuprobieren, was mich an dieser Figur in den Bann zieht.

Ähnlich der Skulptur von Henri Laurens, sind es oft Gegenstände der Kunst, die mich bei ihrem Anblick wie in einen Spiegel blicken lassen: Ich sehe mich der eigenen – oft ungelebten – Vielfältigkeit ausgesetzt, nicht zuletzt der Angst vor zu viel fremder Vielfalt um mich herum. Kann ich mich als alter, weißer, heterosexueller, christlicher, unbewaffneter Mann im Spiegel dieser Figur befragen lassen? Vielfältig und uneindeutig ist die Welt, wie alles Leben seit Anbeginn von, ja, von was und seit wann?
Inmitten des Parks vor der „großen Musikerin“ darf ich in Ruhe darüber nachdenken, was es bedeutet, in einer uneindeutigen, vielfältigen Welt zu leben, in der ich meine Eigenheiten bewahren oder aufgeben kann, Orientierung suche. Kopftuchdebatten, Waffenlieferungen, Mannsein, Genschere, Frausein, Nonbinärsein, Gastfreundschaft, Flugscham, Zugehörigkeit, Abgrenzung. Ich denke an die aufgeheizte Diskussion über Gendersterne. Sie sind Lichter am Himmel der Zeile, die in die Enge männlicher Sprache leuchten. Sie haben längst Eingang in die Sprache gefunden. Gendersterne können Wege weisen im sprachlichen Umgang zwischen allen Geschlechtern und Generationen.
Wie gut tut, bei all dem Lärm und der Flut von Bildern um mich herum, die Ruhe und Abgeschiedenheit im Angesicht dieser Skulptur. In Betrachtung der Musikerin lässt meine Geschäftigkeit endlich nach. Ich habe für Momente keine Meinung mehr. Still werden und sich vor der Figur finden. In vielfältiger Einfalt.
In einer Welt der Bilderflut ist es leichter gesagt als getan, Vielfalt auszuhalten. Sie versetzt uns in Zustände permanenter Bewegung. „Ein Zustand der Ambiguität ist mithin ein labiler. Bricht er zusammen, entsteht jedoch nicht zwangsläufig und sofort ein Zustand der Eindeutigkeit, weil nämlich sofort neue Ambiguitäten aufbrechen. Viel eher ist ein Taumeln von einer Ambiguität in die nächste die unausbleibliche Folge. Individuen und Gesellschaften täten gut daran, nach dem rechten Maß an Ambiguität zu streben.“1 Es kann nicht erstaunen, wenn das „erschöpfte Selbst“ (Alain Ehrenberg) in der Vielfalt an Möglichkeiten sich existentiell verfährt und schließlich an der Straße des Lebens nach einer deutlich abgegrenzten Parklücke sucht.
In ihrer schillernden Präsenz ist die Figur „Die große Musikerin“ für mich alles andere als beliebig. Sie ist keine Überforderung meiner Fähigkeit, Vielfalt, Mehrdeutigkeit, Ambiguität aufzunehmen. Sie bietet mir Halt. Wie könnte sie mich sonst seit Jahren ansprechen? Wie könnte sie es fertigbringen, dass ich immer wieder zu ihr zurückkehre und etwas an ihr entdecke, das ich auch in mir wiederzufinden glaube und dem ich durch meine Besuche wortlos antworten möchte. Ich verabschiede mich von der Figur und verlasse den Park zum Limpertsberg hin.
Winfried Heidrich ist katholischer Theologe, Klinikseelsorger und Kunsttherapeut.
1 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Reclam-Verlag, Ditzingen, 2018, S. 16.
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