Sonderfall oder Paradigma national­sozialistischer Herrschaft?

Marc Schoentgens Studie zur Praxis deutscher Herrschaft im besetzten Luxemburg 1940-1944

Man könnte es fast vergessen, auch wenn der Verfasser häufig genug darauf hinweist: Marc Schoentgens aus einer Dissertationsschrift hervorgegangenes Buch Arbeiten unter Hitler ist keine Gesamtdarstellung der vom Mai 1940 bis zum September 1944 andauernden deutschen Besatzungsherrschaft über das Großherzogtum. Vielmehr konzentriert sich Schoentgen auf die luxemburgische Schwerindus­trie, die Sozialpolitik als Element der Herrschafts­praxis und schließlich die Deutsche Arbeitsfront (DAF) als wesentliche Institution der Besatzung.

Die Fragestellungen der Arbeit greifen indes weit darüber hinaus: Schoentgens Interesse richtet sich darauf, wie die Menschen in Luxemburg die Jahre von 1940 bis 1944 erlebten, was es für sie bedeutete, für die und unter den Besatzern zu arbeiten. Aber auch die Stabilität der Besatzungsherrschaft rückt in den Fokus seiner Analyse. Die Arbeit fußt ganz überwiegend auf Quellen aus Luxemburger Archiven.

Schoentgen gliedert seine Arbeit in fünf große Kapitel. Zunächst wird die nationalsozialistische Sozialpolitik als Mittel deutscher Herrschaftspraxis analysiert, sodann die Zerschlagung der Luxemburger Gewerkschaften in den Blick genommen. Im dritten Kapitel konzentriert sich Schoentgen auf das Luxemburger Industriegebiet und dessen Bedeutung für die deutsche Herrschaft. Die darauf folgenden Kapitel „Die DAF in Luxemburg“ sowie „Arbeiten im Krieg“ bilden das Zentrum der Arbeit. Die Ergebnisse können wohl weitgehend Gültigkeit über das Fallbeispiel der Schwerindustrie hinaus beanspruchen.

Sehr detailliert arbeitet Schoentgen heraus, dass die deutschen Besatzer zunächst nicht allein auf Repression setzten, vielmehr die Luxemburger1 mittels Propaganda und sozialpolitischer Maßnahmen vom Nationalsozialismus und einer Zukunft im Deutschen Reich zu überzeugen versuchten – allerdings mit nur wenig Erfolg. Die Mehrheit der Beherrschten blieb skeptisch; kein Wunder, zielte die Besatzungspolitik doch auf eine rigorose Germanisierung und letztlich auf die Auflösung der Luxemburger Eigenstaatlichkeit. Deutlich wird indes auch, dass die deutsche Herrschaft im Kern auf Zwang, letztlich gar der Bereitschaft zur hemmungslosen Gewaltanwendung fußte. Dies zeigte sich bereits bei der Liquidierung der Gewerkschaften 1940/41, in besonderem Maße aber bei den Streiks Ende August, Anfang September 1942. Deren Ursachen lagen in der Erhöhung der täglichen Arbeitszeit im Luxemburger Bergbau auf neun Stunden, vor allem aber in der Einführung der Wehrpflicht. Die Streik­aktionen und die deutsche Antwort darauf stellen für Schoentgen den Wendepunkt dar. Zunächst überrumpelt von der Widerständigkeit der Luxemburger, reagierten die Deutschen drakonisch: 21 Streikende wurden hingerichtet, hunderte mit Gefängnis oder KZ-Haft bestraft. Da an der Niederschlagung der Streiks auch die Funktionäre der DAF beteiligt waren, verlor die Deutsche Arbeitsfront – bis dato eine wesentliche Säule der deutschen Besatzungsherrschaft – rapide an Ansehen, auch wenn es bis zur Befreiung noch zwei Jahre dauern sollte. 

Stellt Luxemburg zwischen 1940 und 1944 nun einen Sonderfall oder doch eher ein Musterbeispiel nationalsozialistischer Herrschaft dar? Schoentgen gelangt zu einem gemischten Urteil, will aber bei allen Eigenheiten (u. a. relativer Wohlstand der Bevölkerung, Versuch der Annexion) keinen Luxemburger Sonderfall erkennen, betont vielmehr das Paradigmatische von Herrschaftsstruktur und -praxis.

Das Problem Erfahrung

Was gibt es kritisch anzumerken? Nur wenig und allenfalls auf Details bezogen: Völlig zu Recht liegt ein Schwerpunkt von Schoentgens Arbeit darin, die Auswirkungen deutscher Besatzungsherrschaft auf die Beherrschten in den Blick zu nehmen. Bei allen Schwierigkeiten, die auf die gegebene Quellenbasis zurückzuführen sind, gelingt ihm dies immer wieder gut. Ob es hingegen überhaupt erreicht werden kann zu verdeutlichen, wie die Luxemburger die Besatzung „erlebten“, mag man aus einer wissenssoziologischen Perspektive heraus bezweifeln. Schoentgens Verständnis von „erleben“ ist ein alltagssprachliches. Sind dem Historiker nicht allein die „Erfahrungen“ im Sinne von verarbeiteten und interpretierten „Erlebnissen“ zugänglich?2 Jedenfalls tendieren weite Teile der neueren Forschung zu Kriegserfahrungen in diese Richtung. 

Zum Widerstand

Ähnlich verhält es sich mit der Frage, wie Handeln und Verhalten der Luxemburger einzuschätzen sind. Wenn Schoentgen angesichts der Streikaktionen des Jahres 1942 schreibt, der „Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus und die deutschen Besatzer habe bereits früher begonnen und sei in vielfältiger Form durchgeführt worden, z. B. auch durch Bummelei, so liegt dem eine recht weite Definition von „Widerstand“ zugrunde. Selbst wenn man es gar nicht für erstrebenswert hält, die eine gültige, ja unumstrittene Definition von Widerstand im Hinblick auf die nationalsozialistische Herrschaft zu konzipieren – der Rezensent hätte sich zumindest eine explizitere Reflexion der Problematik gewünscht.3 Für eine große Zahl der Menschen in Europa, die unter das Joch deutscher Besatzungsherrschaft fielen, muss es nach dem Fall Frankreichs im Mai 1940 und angesichts des Hitler-Stalin-Paktes bis Juni 1941 so ausgesehen haben, als sei die nähere Zukunft nationalsozialistisch – eine hohe Hürde für jeden Widerstand im engeren Sinne. Konnte es daher in diesem Zeitraum im Regelfall überhaupt um mehr als um Resistenz und um Selbstbehauptung gehen?4

Den Wert der Arbeit mindern diese Monita indes nicht. Die Lektüre ist nicht nur an luxemburgischer Geschichte Interessierten zu empfehlen, sondern auch denen, die sich generell mit den Facetten nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft in Europa befassen wollen.  

 

  1. Mit Ausnahme der als Juden Verfolgten.
  2. Vgl. Klaus Latzel, „Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen“, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1-30, v. a. S. 17ff.; Nikolaus Buschmann / Horst Carl, „Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung“, in: dies. (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn, Ferdinand Schöningh, 2001, S. 11-26.

  3. Vgl. aus der reichhaltigen Literatur nur Wolfgang Benz, Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler, München, C.H. Beck, 2019.

  4. Mit anderer Begründung betont auch Elisabeth Hoffmann den geringen Handlungsspielraum der Luxemburger, vgl. dies., „,Hochverrat am Dritten Reich‘. Formen des Widerstands der luxemburgischen Bevölkerung gegen das NS-Regime (1940-1944)“, in: forum 396 (Juni 2019), S. 48-51.

 

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