- Kultur
Statik, Schwerkraft und Gnade
Die Skulptur „Exchange“ von Richard Serra in Kirchberg
Seit 1996 steht im Kreisverkehr am Eingang des Viertels Kirchberg die große Stahlplastik Exchange des US-amerikanischen Künstlers Richard Serra. Wer Glück hat und eine rote Ampel erwischt, kann die mächtige Skulptur für kurze Zeit aus dem Auto heraus betrachten. Die Verkehrsinsel und die Tausenden Autos, die die Skulptur zur Arbeit in die Stadt umfahren, gehören zum Kunstwerk dazu.
Die Verbindung von Skulptur und städtischer Umgebung ist ein wesentlicher Bestandteil von Serras Kunstkonzept. Auch in Bochum und Dillingen stehen große Bauten von ihm auf Kreisverkehrsinseln. Serra kreiert einen gewollten Widerspruch: „Standortspezifische Skulpturen verlangen, dass wir unsere Verhaltensweise gegenüber dem Kontext neu orientieren“, erklärt der Künstler. „Die Skulpturen greifen in ihre Umgebung ein, so dass bisher unerkannte Zusammenhänge sichtbar werden. Das führt notwendig zu einem kritischen Hinterfragen der gewohnten Ortserfahrung.“1
Die Skulptur in Kirchberg heißt Exchange – Austausch. Nachdem der forum-Fotograf und ich sie aus mehreren Perspektiven ausgiebig aus der Ferne betrachtet haben, wollen wir das Bauwerk aus der Nähe sehen und anfassen. Es gibt keinen gesicherten Zugang, keinen Zebrastreifen und auch keine Zugbrücke zu dieser von einem mehrspurigen Asphaltkreisel umgebenen Stahlburg. Wir suchen uns die ungefährlichste Stelle aus und warten, bis eine Verkehrslücke uns den Übergang erlaubt.
Um uns herum bewegt sich der Fluss aus Autos. Ich bekomme eine Vorstellung davon, was Serra mit dem „kritischen Hinterfragen der gewohnten Ortserfahrung“ meint. Ort heißt hier: Straße. Straße heißt: Auto. Auto: kommen und gehen. Kommen und gehen: nicht bleiben. Nicht bleiben als Lebensweise.
Mit ausgebreiteten Armen lehne ich mich gegen die Skulptur, spüre den Rost, rieche den Stahl, sehe Spuren des Gebrauchs, wie in Bildern von Antoni Tàpies. Klopfe gegen das Eisen wie gegen Felsen. Stehe wie an einem großen Baum, umbrandet von Autos. Beim Blick in schwindelnde Höhe sehe ich, dass die einzelnen Teile der Skulptur oben miteinander verschweißt sind. Wenn das Serra wüsste.
Die Schweißnähte sprechen ihr Misstrauen gegenüber dem Künstler aus, denn die sieben einzelnen Platten sind unten in den Boden eingelassen. Auch wenn sie aussehen wie aneinander gelehnte Karten in einem Spiel mit ungewissem Ausgang: Statik, Schwerkraft und Gnade wirken hier ganz wie bei gotischen Kathedralen.

Wie unterschiedlich, ja, wie komplex und verwirrend vielfältig erfahre ich die Skulptur, wenn ich sie umrunde. Immer wieder sieht sie anders aus, hat viele Gesichter. Ihre sechs dreieckigen, spitz nach oben zulaufenden Eingänge führen in zwei nach oben hin offene Räume. Sechs Eingänge, welch großzügige Einladung zum Austausch. All das kann man aus der Ferne kaum wahrnehmen – erst recht nicht aus einem vorbeifahrenden Auto. Innen bin ich vom Verkehr abgeschlossen und geschützt, aber nicht abgeschnitten von der Außenwelt. Licht fällt in die beiden Räume. Oben in jedem der Räume ein quadratisches Fenster in den blauen Himmel. Wenn ich des Nachts hier wäre: „Der bestirnte Himmel über uns“, wie bei Immanuel Kant.
Ohne die Skulptur wäre der Kreisverkehr nur ein Platz, so wie ein Dorf ohne Kirche nur eine Ansammlung von Häusern wäre. Die einzelnen Autos bilden zusammen eine Arbeits- und Staugesellschaft. Ungewollt werden sie zur Kritik der verfehlten Stadt- und Mobilitätsplanung an derselben. Exchange „konstituiert das Öffentliche und macht es zu einem besonderen Raum“2, den der Einzelne nicht herstellen könnte. Wer die Skulptur besucht, kann es in besonderer Weise erfahren.
1 Armin Zweite, „Evidenz und Selbsterfahrung“, in: Ernst-Gerhard Güse (Hg.), Richard Serra, Stuttgart, Hatje Kantz Verlag, 1987, S. 20 f.
2 Hannah Arendt, Vita Activa, München, Piper Verlag, 2002, S. 62.
Winfried Heidrich ist katholischer Theologe, Klinikseelsorger und Kunsttherapeut.
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