Betrachtet man eine Karte von Luxemburg, so fällt es nicht weiter schwer, sich die Hauptstadt als pulsierendes Herz des Landes vorzustellen. Mit Blut versorgt wird es von der Aorta namens A3, die jeden Tag aufs Neue einen niemals versiegenden Strom an Arbeitskräften ins Zentrum pumpt, auch wenn der maßlose Produktivitätshunger für regelmäßige Blechgerinnsel auf sämtlichen Lebensadern sorgt. Die A3 mag die Hauptschlagader sein, die A6 ist als Arteria Brachialis für das main-d’œuvre allerdings kaum weniger wichtig. An dieser Asphaltader, die weitestgehend der alten Römerstraße von Orolaunum (Arlon) nach Augusta Treverorum (Trier) folgt, liegt – um in der Metapher zu bleiben – ein Hämangiom, ein Blutschwämmchen also, das den Namen Mamer trägt. Um diesen Ort soll es hier gehen.
Aber zunächst vielleicht ein paar erklärende Worte: Orte existieren nicht ohne Menschen, die sie benennen und sich zu ihnen in irgendeiner Weise verhalten. Eine unentdeckte Insel im Südpazifik ist kein Ort, bevor nicht ein vom Kurs abgekommener Europäer seine schmutzigen Stiefel in den weißen Sand gesetzt, eine Flagge in den Boden gerammt und dem unschuldigen Flecken Land den Namen des gerade amtierenden Herrschers oder seiner Frau oder irgendeines Heiligen gegeben hat. So erhält der Ort eine Identität. Menschen wiederum leben und gedeihen nur wirklich an Orten, ansonsten befinden sie sich in einem Zustand des Transits – aber darüber reden wir ein andermal. Ein Ort kann vieles sein: eine Straße, ein Theater, eine Kneipe, ein Wohnzimmer, ein Viertel oder eben auch ein Dorf. Diese Kolumne widmet sich dem Vermessen dieser Orte und der Menschen, die dort leben. Dabei greife ich schamlos auf Guy Debords Theorie des Umherschweifens zurück, mit welcher der französische Autor 1956 den Grundstein für die Psychogeografie gelegt hat, einer herrlich unspezifischen Disziplin an der Schnittstelle von Architektur, Kunst, Geografie, Psychologie, Geschichte und allem, was man der Melange sonst noch hinzufügen mag. Debord nahm in seinen Studien Paris unter die Lupe. Aufgrund von Bescheidenheit und Platzmangel setzt diese Kolumne ein paar Nummern kleiner an.
Weshalb ich mit Mamer beginne, will ich euch nicht vorenthalten. Mein Stiefvater besitzt ein Haus in der Rue Nicolas Flener, und meine erste Kindheitserinnerung besteht darin, dass ich der Nachbarskatze – sie hieß Jimmy – eine Schüssel mit Milch auf die Terrasse stellte. Ich war damals als Dreijähriger überzeugt, dass Jimmy zuhause nichts zu essen bekam und wir sie unbedingt füttern müssten. Was meine Mutter stillschweigend akzeptierte, und weshalb wir morgens um sechs Uhr geduldig zusammen auf die Katze warteten. Bis Jimmy eines Tages nicht mehr kam. Ansonsten erinnere ich mich noch an den Spielplatz schräg gegenüber unserer Haustür. Er war groß und von unfassbarer Hässlichkeit, und wenn meine Eltern mich abends von der Tagesmutter holten und nach Hause brachten, war er stets mein erster Anlaufpunkt.
Der Spielplatz ist immer noch da und immer noch hässlich. Er liegt auf einem schmalen Grünstreifen, der auf beiden Seiten von der Straße gesäumt wird, denn die Rue Nicolas Flener hat die Form einer sich langsam zuziehenden Schlinge, deren beiden Stränge sich nach Süden in eine Sackgasse verjüngen. Auf unserer Seite sind die Häuser zusammengewachsen, jeweils vier Einheiten bilden einen Reihenhausblock mit uniformer Fassade und freistehender Gussbetontreppe, Stil Beamtensiedlung. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen die Häuser dagegen einzeln, sie sind auch bedeutend größer und haben hinreichend individuellen Charakter, sodass sie dem Betrachter Rückschlüsse auf die Geschmacklosigkeit der Bauherren erlauben. Einem von ihnen war es nicht einmal peinlich, sein Anwesen mit einem spitz zulaufenden Turm zu schmücken, auf dessen grauem Dach tatsächlich ein Wetterhahn thront. Die Art und Weise jedenfalls, wie die Rue Nicolas Flener zwei Gehaltsklassen mit einem Grünstreifen voneinander trennt, auf dem zumindest der Nachwuchs sich auf Augenhöhe begegnen kann, hat etwas ungemein Demokratisches. Als ich am Samstagnachmittag hier entlang spaziere, ist der Spielplatz allerdings verwaist.
Nicolas Flener, der Namensgeber der Straße, war Autor volkstümlicher Theaterstücke, Schöffe in Mamer und Verfasser lokalgeschichtlicher Artikel im Luxemburger Wort. Wenn man so will, war er in Herkunft, Name und Geisteshaltung ein verkleinerter Nachkomme jenes Mannes, den Mamer prominent als „illustre Person“ auf der Website der Kommunalverwaltung präsentiert: Nicolaus Mameranus, geboren wohl als Nic Wagner im Jahr 1500, Kriegsschreiber und Hofpoet von Kaiser Karl V. Ihm hat man vor der Kirche sogar eine Statue errichtet, vermutlich als Dank dafür, dass er dem Kaiser das Geld für den Wiederaufbau Mamers aus der Tasche geleiert hat, nachdem der Herzog von Orléans das Dorf verwüstet hatte. Abgesehen von dieser Großtat war er ein erzkonservativer Katholik, eine kleinliche Beamtenseele, dessen überlieferte Schriften, allesamt in Latein, weder von geistiger Größe noch von literarischem Können zeugen. Sein Ruhm beruht deswegen wohl primär auf seiner Fähigkeit, sich nachdrücklich einzuschmeicheln – ein „Paltongszéier“ avant la lettre quasi.
Auf dem Weg zum Denkmal dieses Dorfhelden bestätigt sich eine Ahnung, die mich bereits bei den seltenen Gelegenheiten beschlich, als ich – anders als heute – Mamer motorisiert durchquerte: Der Ort besitzt keinen richtigen Kern. Der Bahnhof liegt am Rand des historischen Mamers, wo sich Kirche und Kommunalverwaltung zwar in relativer Nähe zueinander befinden, aber doch verhältnismäßig weit entfernt von der Areler Strooss, der Hauptverkehrsachse, die den Ort mehr schlecht als recht an den Rest des Landes anbindet und ihn gleichzeitig in der Mitte durchschneidet. An dieser liegt auch der Kinneksbond, der große Komplex bestehend aus Sporthalle, Grundschule und einem der größten Kulturzentren des Landes. Die weiterführende Schule, das Lycée Josy Barthel, hat man schließlich wohlweislich gleich außerhalb des Ortes platziert, samt eigenem Bahnhof, als fürchte man, die Jugend könnte aus Versehen noch etwas Lebenslust in die Straßen spülen. Diese Ghettoisierung der Schüler, die man bereits auf dem Campus Geesseknäppchen in der Hauptstadt erfolgreich erprobt hat, setzt die schäbige Wagenburgmentalität des „Mir wëlle bleiwe wat mir sin“ auch in der Landesplanung um.
Läuft man dann an der Mameranus-Statue vorbei, die übrigens mit erhobenem Finger ostentativ nach Paris deutet, dann gelangt man zum „Mamer Schlass“ – einem Gutshof, der aus einem Kompensationsbedürfnis heraus eigenmächtig in den Adelsstand erhoben wurde und der seit Beginn des bereits 21-jährigen Regnums von CSV-Bürgermeister Gilles Roth die Gemeindeverwaltung beherbergt. Dahinter liegt der Brill-Park, wo der geneigte Spaziergänger schließlich den dritten Nicolas von Mamer findet. Er teilt sich das von Will Lofy geschaffene Denkmal mit Luxemburgs berühmtestem Olympiasieger, Josy Barthel, und ist von allen Mamer Nics eindeutig der sympathischste: Nicolas Frantz, der Sieger der Tour de France von 1927 und 1928. Sein zweiter Sieg bescherte ihm Legendenstatus, denn nicht nur trug er das gelbe Trikot vom ersten bis zum letzten Rennen, er beendete eine Etappe auch auf dem Damenrad einer Zuschauerin, nachdem bei seinem Drahtesel der Rahmen gebrochen war. Wenn Mameranus den Luxemburger Konservatismus repräsentiert, dann spiegelt Frantz den lässigen Pragmatismus, mit dem man in Luxemburg gerne mal fünfe gerade sein lässt, solange der Laden läuft.
Die drei Nics haben abgesehen vom Namen eine Gemeinsamkeit: Sie sind alle tot. Diese Eigenschaft macht sie gewissermaßen mehr als alles andere zu den perfekten Ahnherren von Mamer, denn wenn man sich eines Eindrucks nicht erwehren kann, wenn man am Samstagnachmittag durch Mamer flaniert, dann ist es die generelle Abwesenheit von Leben. Selbst der Hobby- und Künstlermarkt, der an diesem Tag im Brill-Park stattfindet, dient bestenfalls als Anschauungsmaterial für die sterbende Dorfgemeinschaft, denn die wenigen Gäste, die im Schneckentempo zwischen den Ständen von Töpfern, Goldschmieden und Malern herumirren, erwecken zumindest optisch den Anschein, dass sie nicht mehr allzu lange unter den Lebenden weilen werden. Beunruhigend ist das maximal für Gilles Roth, gehen dem immer noch jungen Bürgermeister so doch die Wähler flöten. Aber insgesamt ist es ein friedlicher Schlaf, in den das Dorf zu gleiten scheint, als hätte es sich seinem Schicksal als Vorort der Hauptstadt gefügt, als letzte Ruhestätte für einstige Leistungsträger, die sich dank großzügiger Renten zum Sterben im entkernten Mamer niederlassen können, wo sich schließlich die Schlinge der Rue Nicolas Flener um ihren Hals legt und langsam zuzieht.
Wie Blutschwämmchen bei Kindern steht auch Mamer die schleichende Auflösung bevor, denn die sich ausdehnende Urbanisierung, die mittlerweils auch Strassen erreicht hat, steht bereits dicht vor der Tür. Mamer blüht das gleiche Schicksal wie der Nachbargemeinde im Speckgürtel: eine Transitgemeinde zu werden mit Nebenstraßen für Großverdiener, Rentner und Erben, deren gepflegte Vorgärten in den Cités an die Wege des Wiener Zentralfriedhofs erinnern. Denn wie sagte schon 2019 der LISER-Geograf Patrick Bousch: „Le vivre-ensemble ne se fait pas dans les villages, mais dans les entreprises. Ce qu’on voit dans les communes, ce n’est pas du vivre-ensemble, c’est du chacun pour soi, et Dieu pour tous.“ Ganz im Sinne des Humanisten Nicolaus Mameranus.
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