Von der Regierung des Großherzogs zur Regierung des Landes
Der Verfassungsentwurf stellt in erster Hinsicht eine Modernisierung des über 150 Jahre alten Verfassungstextes dar. Neben dem Kapitel zum Großherzog sind die Textpassagen betreffend die Regierung wohl am wesentlichsten umformuliert worden. Der neue Verfassungsentwurf macht Schluss mit den Referenzen auf das 19. Jahrhundert, dem Zeitalter, wo die Regierung noch von des Großherzogs Gnaden eingesetzt wurde, und spiegelt die politische Realität des 21. Jahrhunderts wider.
Ist es laut der geltenden Verfassung so, dass der Großherzog die exekutive Gewalt scheinbar allein ausübt (Art. 23), so wird im neuen Artikel 47 klargestellt, dass der Staatschef und die Regierung die exekutive Gewalt gemeinsam ausüben. Sie bilden eine Einheit.
Im darauffolgenden Artikel des Verfassungsentwurfs wird hervorgehoben, dass sämtliche Schreiben des Staatschefs durch ein Regierungsmitglied gegengezeichnet werden müssen, der dadurch die politische Verantwortung für diese Entscheidung übernimmt.
Die Minister sind verantwortlich, der Großherzog ist unverletzlich. Das heißt im Klartext: Der Großherzog kann weder politisch noch straf- oder zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Zwar wurden die ‚Berater der Krone‘ bereits durch eine Revision von 1984 zu ‚echten‘ Ministern. Dennoch wird die Regierung von der aktuellen Verfassung noch immer als Regierung des Großherzogs bezeichnet. Diese antiquierte Formulierung wird im Verfassungsentwurf nicht mehr übernommen. Die Regierung ist die Regierung des Staates Luxemburg.
Die Mission der Regierung sowie deren Zusammensetzung werden klar definiert. Demnach ist es die Regierung, die die allgemeine Politik des Staates führt (Art. 86). Diese Aufgabe fällt keinem anderen Staatsorgan zu. Die Festlegung einer Mindestzahl an Ministern wird fallen gelassen, da eine solche Bestimmung in der heutigen Zeit keinen Sinn mehr ergibt. Eine Maximalzahl wäre wohl eher angebracht, aber ein dementsprechender Vorschlag wurde im Parlamentsausschuss nicht zurückbehalten.
Die institutionelle Praxis, dass sich die Regierung aus Ministern und Staatssekretären (die als vollwertige Regierungsmitglieder gelten) zusammensetzt, wird im Verfassungsentwurf ebenso verankert wie die Funktion des Staatsministers (Premier ministre) und seiner Stellvertreter. Bei diesem Kapitel zur Regierung hat der Verfassungsausschuss teilweise auf Formulierungen aus der großherzoglichen Verfügung über die Organisation der Regierung (arrêté royal grand-ducal modifié du 9 juillet 1857 portant organisation du Gouvernement grand-ducal) zurückgegriffen. Da das Parlament den Verfassungstext aber allgemein schlank halten und nicht mit Detailfragen überlasten will, wurden nicht sämtliche Textvorschläge der Regierung übernommen. Viele Fragen, wie zum Beispiel der Abstimmungsmodus im Regierungsrat, werden auch in Zukunft über Verordnungen festgelegt werden müssen. Allerdings wird die Eidesformel der Regierungsmitglieder in den Verfassungstext eingeschrieben. Das traditionelle Treuegelöbnis zum Großherzog wird nicht übernommen. Die Minister schwören in Zukunft, die Gesetze und die Verfassung zu respektieren.
Die Regierung ist für ihre interne Organisation verantwortlich. Dies ist keine Kompetenz des Gesetzgebers. Die Regierung wird aber bestehende Gesetzesbestimmungen respektieren müssen.
In der neuen Verfassung wird auf die kollektive Arbeit der Regierung als Kollegium hingewiesen wie auch auf die Verantwortung der einzelnen Minister für ihre jeweiligen Ressorts. Der Premier ministre bleibt ein primus inter pares. Er präsidiert den Regierungsrat und übt eine politische Koordinierungsfunktion auf Regierungsebene aus. Der Premier ministre hat demnach keine Weisungsbefugnis gegenüber anderen Regierungsmitgliedern. Die bestehende Praxis wird implizit festgeschrieben.
Unverändert bleiben die Bestimmungen zur Ernennung und Entlassung der Regierungsmitglieder. Diese erfolgen durch den Staatschef. Da es dazu der Unterschrift eines Ministers bedarf, ist es klar, dass diese Entscheidungen politisch mehrheitlich abgesichert sind. In der Praxis erfolgt der Vorschlag durch die Parteien, der die Minister oder Staatssekretäre angehören.
Auch am Gewohnheitsrecht bei der Regierungsbildung, das die Bestimmung eines „informateurs“ und eines „formateurs“ vorsieht, soll sich in Zukunft nichts ändern, ohne dass dies in die Verfassung eingeschrieben wird. Der Staatschef behält in dieser Phase der Regierungsbildung einen gewissen Handlungsspielraum. Diese Praxis hat sich über Jahrzehnte bewährt, obwohl sie für den Staatschef auch ein Risiko darstellt, da er sich bei einer kontroversen Entscheidung öffentlicher Kritik aussetzt und allein in der Verantwortung steht. Alternativen zu der Weiterführung dieser Praxis sind durchaus denkbar, allerdings zur Zeit kaum konsensfähig. In den Niederlanden ist dieser Vorgang der Regierungsbildung gesetzlich geregelt und auf den Parlamentspräsidenten übertragen worden.
Die Unvereinbarkeiten des Amtes eines Regierungsmitglieds mit einem anderen öffentlichen Amt oder irgendeiner beruflichen Tätigkeit werden in der Verfassung selbst festgeschrieben, um eine absolute Rechtssicherheit zu gewährleisten. Es bleibt dabei, dass man nicht gleichzeitig Regierungsmitglied und Abgeordneter sein darf.
Artikel 89 des Verfassungsentwurfs regelt den Fall der Vertrauensfrage an das Parlament beziehungsweise des Misstrauensantrags gegen die Regierung. Dieser Fragenkomplex ist in der aktuellen Verfassung völlig ausgeklammert, stattdessen werden diese Fragen teilweise im Kammerreglement behandelt.
Die neue Regelung ist präziser und weitreichender als das bestehende Regelwerk. Bei Amtsantritt muss die neue Regierung die Vertrauensfrage bei der Debatte zum Regierungsprogramm stellen. Die Regierung darf im weiteren Verlauf einer Legislaturperiode sowohl bei einer Gesetzesabstimmung oder aber einer Regierungserklärung die Vertrauensfrage stellen. Im Vorfeld bedarf es eines Beschlusses des Regierungsrates. Dies soll gewährleisten, dass es eine Position der gesamten Regierung ist. Die Initiative eines Misstrauensantrages von Seiten der Abgeordneten ist jederzeit möglich. Der Modus des sogenannten „konstruktiven“ Misstrauensantrages wird nicht eingeführt. Um eine Regierung oder ein Regierungsmitglied zu Fall zu bringen, bedarf es nicht der Wahl eines Nachfolgers. Wenn das Parlament der Regierung das Vertrauen versagt, ist – laut dem Verfassungsentwurf – der Regierungschef gehalten, dem Staatschef die Demission der Regierung vorzulegen.
Der Staatschef setzt Neuwahlen fest, wenn dies so von der Mehrheit der Abgeordneten entschieden wird. Damit wird die bestehende Rechtsunsicherheit aus der Welt geschafft. 2013 kam es zu Neuwahlen, obwohl kein ausdrücklicher Parlamentsbeschluss in diesem Sinne vorlag.
Heute wird allgemein akzeptiert, dass die Festsetzung von vorzeitigen Wahlen eine Angelegenheit der Exekutive ist. Interessanterweise hält der neue Verfassungstext außerdem fest, dass nach ihrer Demission die Regierung die Amtsgeschäfte provisorisch weiterführt. Sie bleibt weiterhin temporär für die allgemeine Politik des Landes zuständig, d.h. ohne Einschränkungen ihrer Befugnisse. Die rechtlich delikate Frage, über welche genauen Befugnisse eine „geschäftsführende“ Regierung verfügt, stellt sich nicht mehr.
Im Kapitel 4 zur Abgeordnetenkammer werden die Verbindungen zwischen Parlament und Regierung definiert. Dabei hat die Regierung, die vor dem Parlament verantwortlich ist, das Recht, jederzeit im Parlament zu erscheinen und angehört zu werden. Allerdings wird im neuen Verfassungstext auch die Kontrollfunktion der Abgeordnetenkammer über die Regierung fester verankert. Die Regierung hat gegenüber den Abgeordneten eine Auskunfts- und Rechenschaftspflicht (Art. 74 des Verfassungsentwurfes).
Neuwahlen können von der Regierung bloß in verschiedenen, klar definierten Fällen initiiert werden. Es ist demnach nicht möglich, ohne zwingenden institutionellen Grund und aus reinem politischen Opportunismus Neuwahlen festzulegen. Zur Zeit ist dieser Themenkomplex verfassungsrechtlich ungenügend abgesichert.
Ein nicht unwesentlicher Teil des Kapitels zur Regierung ist schließlich der Frage der Verantwortung der Regierungsmitglieder gewidmet. In dieser Hinsicht ist eine Vielzahl von Neuerungen hervorzuheben. Das aktuelle System der strafrechtlichen Verantwortung geht noch auf den Verfassungstext von 1868 zurück. Laut dieser Bestimmung (Art. 82) hat die Abgeordnetenkammer das Recht, Regierungsmitglieder anzuklagen. Das von der Verfassung vorgesehene Ausführungsgesetz wurde nie vom Parlament verbschiedet. In den Übergangsbestimmungen der aktuellen Verfassung heißt es, dass die Abgeordnetenkammer ein absolutes Recht hat, ein Regierungsmitglied anzuklagen.
Für die Verhandlung und die Festlegung des Strafmaßes ist der Oberste Gerichtshof in Vollversammlung zuständig. Es gibt demnach keine Berufungsinstanz. Diese völlig obsolete Regelung, die übrigens kaum einer Prüfung durch internationale Menschenrechtsgerichte standhalten würde, wird in dem neuen Verfassungsentwurf komplett abgeschafft und durch ein neues System ersetzt.
Zwei Grundideen wurden umgesetzt: erstens, eine Anpassung des Statuts der Regierungsmitglieder an das des Abgeordneten in Bezug auf ihre straf- und zivilrechtliche Verantwortung, und zweitens, die Abschaffung des Gerichtsprivilegs für Minister und Staatsekretäre. Ebenso wie die Abgeordneten besitzen die Regierungsmitglieder eine gerichtliche Immunität für Meinungen, die sie in Ausübung ihre Funktion äußern. Darüber hinaus sind sie jedoch strafrechtlich haftbar. Zuständig sind die ‚normalen‘ Gerichtsinstanzen. Es gibt in der neuen Verfassung weder Sondergerichte, noch Sonderverfahren. Allerdings kann ein Strafverfahren für während der Regierungszeit verübte Straftaten bloß von der Staatsanwaltschaft ausgelöst werden. Unter anderem aus diesem Grund ist es wichtig, der Staatsanwaltschaft völlige Unabhängigkeit zu garantieren.
Ähnlich wie bei den Abgeordneten ist in Zukunft, in der Regel, die Zustimmung des Parlaments vor der Verhaftung eines Regierungsmitglieds im Rahmen einer Untersuchung nötig. Das gilt allerdings nicht bei der Ausführung eines rechtskräftigen Strafurteils. Da hat das Parlament kein Mitspracherecht. Dies fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft.
Zu einem gut funktionierenden Rechtsstaat gehört Rechtssicherheit. Es ist riskant, einen verstaubten, teilweise auf Fiktionen aufgebauten Verfassungstext bei Einführung einer richterlichen Kontrolle der Verfassungskonformität der Gesetze bestehen zu lassen. Die höchste nationale Rechtsnorm muss wegweisend sein und die gesellschaftliche und institutionelle Realität reflektieren.
Luxemburg braucht keine Revolution. Luxemburg braucht eine Verfassung für das 21. Jahrhundert. Eine Verfassung steht immer in der Mitte der Gesellschaft. Sie ist der Ausdruck eines ausgewogenen gesellschaftlichen und politischen Kompromisses, in dem sich die große Mehrheit der Bürger wiederfindet. Deshalb wird die Abstimmung über den neuen Verfassungstext auch einen Einblick geben in die Bereitschaft der Gesellschaft, Kompromisse zu akzeptieren und das Allgemeininteresse vor individuelle oder Gruppeninteressen zu stellen. Eine spannende Angelegenheit!
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