- Geschichte, Gesellschaft, Politik
Leserbrief: Weder Links noch Rechts oder warum Demokratie gar nicht so dumm ist, wenn sie auch den Linkspopulismus in die Schranken weist
Von Thomas Kolnberger
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des [Rechtspopulismus]. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und die [EU-Kommission], [Merkel und Hollande], französische Radikale und deutsche Polizisten. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als [rechtspopulistisch] verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des [Rechtspopulismus] nicht zurückgeschleudert hätte?‘ [1]
Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848
Das „Kommunistische Manifest“ ist nicht nur eine klassische politische Streitschrift, sondern wurde 2013 – und das vollkommen zurecht – von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe der Menschheit erklärt. Das geschah just zu einer Zeit, wo sich Europa wieder in einer Umbruchsphase befand und noch befindet. Da genügt es, um den beinahe 180 Jahre alten Text von Marx und Engels Tagesaktualität zu verleihen, einige Personennamen anzupassen und den alten Dämon „Kommunismus“ mit dem neuen Feindbild auszutauschen. Denn: Die „neuen“ Linken und ihre linksliberalen Parteigänger und Parteigängerinnen befinden sich wieder im Klassenkampfmodus für ihre ganz eigenen Interessen. Der Linkspopulismus des gnadenlos Guten spaltet derzeit gezielt die ‚ganze Gesellschaft mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große einander direkt gegenüberstehende Klassen – Bourgeoisie und Proletariat‘ – und das mit dem von ihm bevorzugten „Produktionsmittel“ des denunziatorischen Diskurses.[2] Während also eine Seite der ‚Bourgeoisie durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestalte‘ – heute als Globalisierung, damals als kapitalistische Industrialisierung und Kolonialisierung zu verstehen – und dabei sich anschickt real ‚sämmtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutioniren‘, steht die andere Seite der Bourgeoisie, im Gewand des modernen Linkspopulismus, in historischer Kontinuität zu bürgerlichen „Sozialismen“. Deren Rhetorik des Gutmenschentums[3] möchte an den bestehenden Verhältnissen ebenfalls nichts Wesentliches verändern. Zu dieser Seite zählt gemäß Marx und Engels einmal der ‚feudale Socialismus‘ einer aristokratischen „charity-upperclass“, die aber ‚im gewöhnlichen Leben sich bequemen, allen ihren aufgeblähten Redensarten zum Trotz, die goldenen Aepfel aufzulesen, und Treue, Liebe, Ehre mit dem Schacher in Schaafswolle, Runkelrüben und Schnapps zu vertauschen‘. Diese Spielart steht dem ‚konservativen oder Bourgeois-Socialismus‘ besonders nahe. ‚Es gehören hierher, Oekonomisten, Philantropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohlthätigkeits-Organisirer, Abschaffer der Thierquälerei, Mäßigkeits-Vereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art. [… ] Seinen entsprechenden Ausdruck erreicht der Bourgeois-Socialismus erst da, wo er zur bloßen rednerischen Figur wird‘ – im Interesse Aller natürlich. Drittens existiere ein ‚kleinbürgerlicher Socialismus‘ in jenen Ländern, in denen es zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie ein Kleinbürgertum gibt, das vom Abstieg bedroht sei. Dieser sei ‚reaktionär‘, insbesondere bei der Frage der Eigentumsverhältnisse, ‚und utopistisch zugleich‘. Eine vierte Ausprägung ist der ‚deutsche oder wahre Socialismus‘, dem es – anders als seinem französischen Vorbild – nicht um reale Menschen mit realem Klassenhintergrund gehe, sondern um einen bloß gedachten idealen Menschen: ‚statt wahrer Bedürfnisse, das Bedürfniß der Wahrheit, und statt die Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt vertreten zu haben, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört. […]Dieser deutsche Socialismus, der seine unbeholfenen Schulübungen so ernst und feierlich nahm und so marktschreierisch ausposaunte, verlor indeß nach und nach seine pedantische Unschuld‘, proklamierte er doch ‚die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normal-Menschen‘. Das phantastische Nirgendwo der Utopie der reinen rhetorischen Vernunft, die nur in der tiefsten und engstirnigsten Provinz des „eigenen“ Denkens zu finden ist, liegt noch deutlicher bei der fünften und letzten Spielart vor, dem ‚kritisch-utopistischen Socialismus und Kommunismus‘. Für ihre gratismutigen Vertreter und Vertreterinnen löst sich ‚die kommende Weltgeschichte auf in der Propaganda und der praktischen Ausführung ihrer Gesellschaftspläne. […] Sie treten daher mit Erbitterung aller politischen Bewegung der Arbeiter entgegen, die nur aus blindem Unglauben an das neue Evangelium hervorgehen konnte‘.
All diese Strömungen, so im Manifest weiter, sehen ‚sich genöthigt an das Proletariat zu appelliren, seine Hülfe in Anspruch zu nehmen und es so in die politische Bewegung hineinzureißen. Sie selbst führ[en] also dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, d. h. Waffen gegen sich selbst zu‘.
Im neuen Jahrtausend wurde dieser Pakt von den Arbeiter und Arbeiterinnen einseitig gekündigt: Zu groß war die „Entfremdung“ zur produzierenden und dozierenden Bourgeoisie geworden. Während das „Industrieproletariat 1.0“ bei der ersten Entfremdung wenigstens noch ‚als lebendige Anhängsel eines toten Mechanismus‘[4] der Maschinen in den Fabriken stehen durfte, flottiert das neue, sich selbst nährende Turbokapital heute virtuell in der globalen Finanzwelt, gefolgt von den Heuschreckenschwärmen der Investoren. Es gibt dem „Proletariat 2.0“ keine Arbeit mehr für Berufe, für die es noch vor kurzem ausgebildet worden war. Immer mehr Hände werden schlichtweg nicht mehr gebraucht; überlebt wird nur durch Sozialtransfers. Europas herrschende neo-bourgeoise Parteienelite und ihre wechselwählende „Kernwählerschaft“ hat – oder will? – diesem digitalen Wandel der Produktionsverhältnisse nur wenig und dem Widerspruch der Produktionsweisen – mit dem daraus folgenden Klassengegensätzen – eigentlich gar nichts entgegenzusetzen. Dass dann logischerweise zuerst die Arbeiter und Arbeiterinnen den Sozialisten den Rücken zugekehrt haben, wurde von der Linken als eine tiefe Kränkung erfahren. Es war aber nicht „die Profillosigkeit der traditionellen Parteien, die ihre Wähler zu den Populisten überlaufen ließ“[5] – das liegt Michel Pauly in seiner Schlussfolgerung völlig daneben –, sondern, erstens, die absolute Heterogenität der neuen „Proletarier“, die keine klar greifbare Arbeiterklasse mehr ist, sondern nur die plötzliche Desillusionierung vieler darstellt, sich auf der falschen Seite der „haves and have-nots“ wiederfinden zu müssen. Die, zweitens, Konvergenz – nicht Profillosigkeit – der reaktionären, sich ihre Machtansprüche konservierenden und Pfründe sichernden Altparteien (inklusive den grünen Parvenüs, die sich hier schnell im Verteilungsspiel integriert hatten) war dann so fortgeschritten, dass man-und-frau sich – quasi parteiübergreifend – auf einen neuen „Klassenfeind“ einigen und einschießen konnte: den Rechtspopulisten zu dem ihr ehemaliges Klientel geflüchtet war. Da muss Ersatz, politische Substitution her, um ganz im Sinne des ‚wahren und deutschen Socialismus‘ die humanitäre Lücke auf idealistische Weise zu schließen: der Flüchtling. Eine neue Vormundschaftsära kann beginnen.
Insgesamt ist es mir wichtig, die Linkspopulisten „nicht auszugrenzen, gilt es doch deren Pseudo-Argumente zu entlarven“[6]. Es besteht hier also noch ausreichend Handlungsbedarf…
(Thomas Kolnberger ist Historiker an der Universität Luxemburg)
[1] Kursive Passagen mit einfachen Anführungszeichen paraphrasieren hier ohne orthographische Anpassung aus dem Manifest der Kommunistischen Partei. Veröffentlicht im Februar 1848. London. Gedruckt in der Office der Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter von J. E. Burghard. 46 Liverpool Street, Bishopsgate (= „Bu23“; grüner Umschlag), London 1848 (dt. Ausgabe 1872) oder dem Das Kapital, von Karl Marx, MEW Bd. 23-25, Berlin (Ost): Institut für Marxismus-Leninismus (ZK der SED), 1873.
[2] Mein Begriff vom „Linkspopulismus“ grenzt sich hier – wie noch auszuführen sein wird – deutlich von der im Grunde wohlmeinenden Charakterisierung ab, die vorzugsweise in Selbstdarstellung der Linken als populärer Pazifismus, Antifaschismus oder Globalisierungskritik zu finden ist.
[3] Nach der deutschen Wikipedia: „ein übertriebener, nach äußerer Anerkennung heischender Wunsch des „gut sein“-Wollens in Verbindung mit einem moralisierenden und missionierenden Verhalten und einer dogmatischen, absoluten, andere Ansichten nicht zulassenden, Vorstellung des Guten unterstellt“, (abgerufen 20. 04. 2015).
[4] MEW 23: 274 u 455 bzw. 595f.
[5] Michel Pauly, Wenn die Demokratie so dumm ist, … (Editorial), Forum Nr. 361, April 2016, 5.
[6] ebendort, 6.
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