von Jean-Paul Conrad
Der folgende Text versteht sich als ein mit spitzer Feder geschriebener Essay aus der Perspektive eines Paartherapeuten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Wissenschaftlichkeit). Er entstand nach einer angeregten Diskussion zum Phänomen Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Wandel der Zeiten in der forum-Redaktionskonferenz. Ausgangspunkt ist die Frage, ob und was es Neues im weiten Feld der Beziehungen gibt. Jeder Generation stellen sich neue Fragen und alte Fragen stellen sich ihr neu. Der langjährige Paartherapeut beleuchtet aus seiner beruflichen und persönlichen Einschätzung heraus einige Phänomene der Liebe.
Ein Blick in den Medienwald suggeriert dem unvoreingenommenen Beobachter, dass sich in Sachen Liebe ständig Neues tut, dass jede Generation neue Ausdrucksformen für Liebe, Partnerschaft oder Sexualität erfindet: Polyamorie, freie Liebe, One-Night-Stands, Beziehungen via Skype, digitaler Sex, …. Bücher oder Filme, die gesellschaftliche Tabus aufgreifen, wie 50 shades of grey oder Feuchtgebiete, schaffen einen Hype, der vermuten lässt, dass Sado-Maso-Spiele bereits den Einzug in die Schlafzimmer breiter Bevölkerungsschichten gefunden haben oder tabulose Gespräche über Lust, sexuelle Vorlieben und intime Körperzonen zum Smalltalk-Repertoire einer sexuell befreiten jungen Generation geworden sind. Ist dem tatsächlich so, erleben wir zurzeit (schon wieder) eine sexuelle Revolution, die dahergebrachte Sichtweisen, Konventionen und Praktiken auf den Kopf stellt? Wird nachher alles anders sein?

Neue Entwicklungen in der Liebe
Ja, es gibt Entwicklungen, die sich in den Köpfen der Menschen festsetzen und die Vorstellungen von Liebe, die Erwartungen an Partnerschaft, die Tagträume von Liebesglück verändern. Mir fallen zuerst die Veränderungen durch die neuen Möglichkeiten der digitalen Welt ein: Bei der Partnersuche haben Partnerportale längst den traditionellen Formen der Kontaktaufnahme (z.B. Diskos, Vereine, …) den Rang abgelaufen: Man kann heutzutage den potentiellen Kandidatenkreis durch eine Liste von Kennzeichen einschränken, bevor man sich zum ersten Mal (im Chatraum) begegnet – ist da noch Platz für den unerwarteten Coup de foudre, die Liebe auf den ersten Blick? Liebeserklärungen via SMS sowie die Mitteilung des Endes einer Beziehung auf Facebook sind keine Seltenheit mehr. Fernbeziehungen (keine Erfindung der Neuzeit) werden mittels Skype erträglicher, das lange Warten auf ein Wiedersehen am Wochenende wird ersetzt durch die digitale Verfügbarkeit (falls die Internetverbindung stabil ist). Das Tracking des Partners via Smartphone ermöglicht ständiges Kontrollieren all seiner Bewegungen: Gehören Heimlichkeiten und Untreue bald der Vergangenheit an? Welchen Einfluss übt die Reizüberflutung durch die allgegenwärtige Pornographie mit ihren einseitigen Rollenklischees und Sexualpraktiken auf junge (und ältere) Menschen aus? Wie wirken sich diese Eindrücke auf die sexuellen Vorlieben, auf die Erwartungen an einen – späteren oder aktuellen – Partner sowie auf den individuellen Umgang mit Lust und Befriedigung aus? Welchem Druck fühlen sich möglicherweise junge Männer und Frauen angesichts der Dauererregung und der orgasmuszentrierten Darstellungen bei ihrem ersten romantischen Date ausgesetzt?
Die Liebe ist angesichts dieser Entwicklungen – mit ihren Chancen und Risiken – sicher nicht einfacher geworden. Ist die Freiheit eines selbstbestimmten Liebeslebens größer geworden, oder wird sie zur Last für eine heranwachsende Generation, die sich durch Versuchs- und Irrtumsverhalten allmählich an die ihnen angepasste Beziehungsform herantastet? Nicht von ungefähr legen sich junge Menschen heutzutage vielfach erst jenseits der 30er auf eine verbindliche Beziehung fest und immer mehr junge Frauen denken erst über Nachwuchs nach, wenn sich die ersten Anzeichen von Torschlusspanik bemerkbar machen.
Bleibt doch alles beim Alten?
Als Paartherapeut möchte ich diesem Dschungel an Fragen meine Beobachtungen pointiert entgegensetzen: Im Wesentlichen, wenn es um den Kern der Liebe geht, hat sich wenig verändert! Die Glückserwartungen an eine Partnerschaft, die emotionalen, sexuellen Bedürfnisse sind in dem Zeitraum, den ich überblicken kann, in etwa die Gleichen geblieben. Die Fragen, um die Frauen und Männer in einer Paarberatung ringen, sind Variationen derselben Themen: partnerschaftliche Kommunikation, Engagement für die Beziehung und Gleichberechtigung, Treue und Ehrlichkeit, Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, Freiheit und Bindung, mangelnder Gefühlsaustausch und Zärtlichkeit, sexuelle Befriedigung und Harmonie, gegenseitige Unterstützung, Lebensziele und -gestaltung, zusammenbleiben oder trennen, Loslösung vom Elternhaus („die Schwiegermutter“) … und das unabhängig davon, ob jung oder alt, homo- , hetero- oder transsexuell, verheiratet, gepacst oder zusammenlebend.
Diese Feldbeobachtungen decken sich mit den Ergebnissen internationaler Wertestudien, bei denen übereinstimmend traditionelle Werte wie Liebe, Treue oder Familie auch bei den Jugendlichen die oberen Plätze der Wertehitparade belegen[1].
Relativ neu ist jedoch das verbreitete Wissen um die Zerbrechlichkeit von Beziehungen. Junge Menschen starten etwas weniger blauäugig in die Ehe als noch die Generation davor. Ihnen ist mehr als ihren Eltern und Großeltern bewusst, dass die Liebe noch zu Lebzeiten beider Partner enden kann. Während die Elterngeneration oft unvorbereitet von dem Zusammenbruch ihres Lebenszieles einer glücklichen Familie überrascht wurde, ist der jungen Generation beim Eintritt in eine feste Partnerschaft – mit oder ohne Trauschein – das Risiko des Scheiterns durchaus bewusst. Meistens überwiegt allerdings die Hoffnung, dass es nur die anderen treffen möge. Viele junge Frauen haben durch das Schicksal ihrer Mütter gelernt, sich nicht in die Abhängigkeitsfalle zu begeben und sorgen sich um ihre materielle Eigenständigkeit. Die jungen Männer scheinen sich mehr und mehr aus der viel beschriebenen Orientierungslosigkeit der verunsicherten Männergeneration ihrer Väter befreit zu haben und nehmen ihre Rolle als engagierter und gleichwertiger Partner und Vater neben einer selbstbewussten Partnerin wahr. Möglicherweise bin ich etwas zu optimistisch – längst nicht alle Frauen und Männer haben sich auf die veränderten partnerschaftlichen Herausforderungen eingestellt – aber die Tendenz ist nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht ist ein Teil dieser Generation besser für die aktuellen Herausforderungen einer Langzeitbeziehung gewappnet als ihre Vorgänger?

Dauerbaustellen der Liebe
Es bleiben Dauerbaustellen in Sachen Liebesfähigkeit – früher wie heute: Die Liebe und Anziehung in einem sich beschleunigenden Alltag, besonders mit Kindern, zu erhalten, erfordert mehr und regelmäßigere Pflege als manchen Paaren bewusst ist. Die teilweise mangelhafte Liebes- und Streitkultur der Elterngeneration hat zu wenig positive Vorbilder geschaffen, auf die junge Paare sich berufen können. Die Sprachlosigkeit beim Thema Gefühle und Intimität in vielen Elternhäusern kann nur mit viel Mühe und Mut von ihren Kindern und deren Partnern überwunden werden.
Es anders als die Eltern machen zu wollen, könnte – im positiven Sinne – Paare dazu anhalten, viel mehr Zeit und Aufmerksamkeit in die Pflege der Beziehung zu investieren und somit den Boden für eine befriedigende Langzeitbeziehung für sich und ihre Kinder zu schaffen.
Um diese Ziel zu erreichen, helfen die eingangs genannten ,neuen‘ Entwicklungen meines Erachtens nur bedingt. Spielarten der sexuellen Begegnung können kurzfristig bei aufgeschlossenen Paaren für neuen Schwung in einem eintönigen Sexualleben sorgen, sind aber kein Allheilmittel, das automatisch zu einer intensiver erlebten Intimität führt. Ich rate Paaren mit sexuellen Unstimmigkeiten z.B. nicht, die 50 shades of grey als Gebrauchsanweisung für eine erfüllte Sexualität zu nutzen oder Partnertausch anstelle von Gefühlsaustausch zu üben. Gesellschaftliche Tabuthemen im Freundeskreis zu besprechen, fällt der heutigen Generation offensichtlich leichter. Aber nur auf den ersten Blick täuscht es über die Hemmungen hinweg, die Frauen sowie Männer beim Versuch befallen, die eigenen Gefühle, Unsicherheiten oder Ängste dem Partner anzuvertrauen.
Der Pornographiekonsum, allein oder zu zweit, führt nicht notgedrungen zu einer erfüllteren sexuellen Nähe. Der Umgang damit ist auch in längeren Beziehungen zu einem Thema geworden, vor dem kein Paar die Augen verschließen sollte. Eheberater stellen fest, dass der Umgang mit dem Konsum von Internetsex in zunehmendem Maße in der Paartherapie zum Thema wird: Meistens von einem der Partner als Irritation, Kränkung oder Untreue empfunden, seltener als Bereicherung, Entspannung oder Entlastung in einer speziellen Paarsituation bewertet.
Polyamorie, freie Liebe oder Partnertausch können als entlastende Fantasie in einer Langzeitbeziehung durchaus einen Platz haben, erweisen sich allerdings als wenig alltagstauglich. Anstatt eine Partnerschaft zu stabilisieren – wie vielleicht erhofft – tragen sie viele Risiken gegenseitiger Verletzung, Abwertung, Eifersucht und letztlich Spaltung in sich. Möglicherweise sehe ich in meiner Praxis zu viele Paare, bei denen derartige Experimente gescheitert sind, um mir ein umfassendes Bild zu machen. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, erlaube mir bis dahin allerdings, skeptisch zu bleiben.

Singles und die Liebe
Was ist mit den Frauen und Männern, die als überzeugte oder unfreiwillige Singles auf der Suche nach Liebe und Lust sind? Das Phänomen alleinstehender Frauen und Männer ist ebenfalls nicht neu, allerdings hat die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Lebensstandes zugenommen, was sich daran zeigt, dass die Betroffenen heutzutage weniger mit kautzigen Junggesellen oder einsamen Mauerblümchen assoziiert werden wie früher. Single sein ist heutzutage weniger eine Einbahnstraße als früher, als ab einem bestimmten Lebensalter leicht eine Dauereinrichtung daraus wurde. Vielmehr lösen sich in den heutigen Biographien Phasen des Alleinseins mit kürzeren oder längeren Beziehungsphasen ab. Da die Beziehungen brüchiger geworden sind, wächst die Zahl der „Ex“. Frauen und Männer werden zu „Secondhand-Partnern“, die ein reichhaltiges Vorleben – manchmal eine mit vielen Verletzungen gekennzeichnete Vergangenheit – mit in eine neue Beziehung einbringen. Die Zahl von Alleinerziehenden, Wochenendvätern und -müttern auf dem Partnerschaftsmarkt ist sprunghaft angestiegen und diese befinden sich ab einer bestimmten Altersgruppe in der Überzahl. Die eventuell daraus entstehenden Patchwork-Beziehungen oder -familien sind wohl ein spannendes, aber nicht ganz einfaches Unterfangen. Nicht umsonst liegt die Scheidungsrate bei Zweitehen wesentlich höher als bei Erstheiraten.
Man kann sich vorstellen, dass für manche Singles – ich denke etwa an beziehungsängstliche oder durch eine Trennung verletzte oder frustrierte Menschen – weniger verbindliche Partnerschaftsmodelle zeitweise oder auf Dauer attraktiv sein können. Polyamor leben z.B. entspricht dann dem Wunsch, sich nicht auf eine einzelne Person festlegen zu müssen, um die unterschiedlichen Aspekte einer Beziehung auszuleben. Auch wechselnde Beziehungen sind nicht immer Ausdruck einer unreifen oder promisken Persönlichkeit, so wie von manchen Seiten unterstellt wird. Es kann auch der Ausdruck einer Lebensphase sein, die zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt oder nach Ende einer gescheiterten, abwertenden Beziehung hilft, neues Selbstvertrauen aufzubauen. Doch die Risiken der Enttäuschung, des Verletzt Werdens, des Scheiterns sind sehr präsent.
Die Revolution der Liebe
Ich glaube nicht, dass man Liebe neu zu erfinden braucht. Die eigentliche Revolution in Sachen Liebe wäre, das Potential der partnerschaftlichen Liebe zu nutzen und zur Entfaltung zu bringen – auch und gerade in schwierigen Zeiten. Es ginge darum, mehr auf die inneren Werte der Beziehung zu achten. Der äußere Rahmen von Paarbeziehungen ist zweitrangig und in seinen Erscheinungsformen über die Zeit wandelbar. Eine Lebens- und Liebesweise kann wohl an die Erfordernisse der eigenen realen Lebensbedingungen angepasst werden, sollte allerdings nicht blindlings dem Zeitgeist untergeordnet werden.
Wir Menschen sind von Natur aus auf Beziehung hin angelegt. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, schreibt Martin Buber[2]. Das gilt nicht nur in Bezug auf die frühkindliche Entwicklung, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben. Insbesondere stellt die Intimität einer engagierten Paarbeziehung einen wesentlichen Wachstumsmotor der emotionalen und sozialen Weiterentwicklung des erwachsenen Menschen dar[3]. Die permanente Herausforderung in der Liebesgemeinschaft regt idealerweise zur kreativen Auseinandersetzung mit dem Gegenüber an, stellt das eigene Handeln immer wieder in Frage, drängt dazu, die eigenen Grenzen zu überwinden und leitet einen persönlichen Reifeprozess ein, der Menschen in ihrer Liebesfähigkeit wachsen lässt.
Es bleibt letztlich jedem Einzelnen überlassen, seine – eher traditionelle oder eher unkonventionelle – Lebens- und Liebesform in diesem Sinne zu überprüfen und zu seinem eigenen Wohlbefinden und dem des Partners immer wieder anzupassen.
Jean-Paul Conrad ist Diplom-Psychologe und Paartherapeut. Er ist seit über 30 Jahren im Familljen-Center tätig.
[1] http://www.europeanvaluesstudy.eu/page/surveys.html und Schell Jugendstudie 2015.
[2] Martin Buber. Ich und Du. Heidelberg, L. Schneider 1958.
[3] vergl. das Konzept der dyadischen Anthropologie von Michael Cöllen in: Paartherapie und Paarsynthese, Lernmodell Liebe, Springer 1997.
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