
Pierre Lorang
Elizabeth T. Spira: Alltagsgeschichte
Ein bisschen Schmäh tut gut … besonders in diesen spinnerten Tagen. Und da der Wiener Schmäh nun mal die Königsdisziplin des Genres ist, sollten all jene, die des Weanarischen mächtig sind – oder endlich Zeit und Muße haben, sich mit diesem unanständigsten aller deutschen Dialekte vertraut zu machen –, auf YouTube die Alltagsgeschichten von Elizabeth T. Spira anschauen.
Als ehemalige Untertanen von Kaiserin Maria Theresia sollten wir Luxemburger eigentlich wissen, dass „die Spira“ einen Ehrenplatz im österreichischen Künstler-Pantheon innehat. Als sie vor einem Jahr, am 9. März 2019, mit 76 Jahren in Wien verstarb, ironischerweise an den Folgen einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, regnete es Würdigungen von allen Seiten. Bundespräsident Van der Bellen nannte sie „eine große Chronistin der heimischen Gesellschaft und der einzelnen Menschen“, mit einem „schonungslosen Blick auf die österreichische Wirklichkeit, der immer von Respekt geprägt war“.
Alltagsgeschichte heißt ihre Dokumentarfilm-Reihe, die zwischen 1985 und 2006 im zweiten Fernsehprogramm des ORF lief. Darin porträtiert die Journalistin und Filmemacherin ihre Mitbürger, vornehmlich Wienerinnen und Wiener aus dem einfachen Volk, in ganz gewöhnlichen Situationen des täglichen Lebens: im Schrebergarten, im Waschsalon, am Würstelstand, beim Heurigen oder beim Sonnenbaden.
Die Filme zeichnen ein Sittentableau dieser „kleinen Leute“, die dank Spiras einfühlsamer Gesprächsführung – immer aus dem Off – viel Persönliches von sich preisgeben. Manchmal kochen die Emotionen hoch, die Menschen erzählen von freudigen oder tragischen Ereignissen, die sie stark gemacht oder tief verwundet haben, von ihren Enttäuschungen und Frustrationen, Wünschen und Träumen oder lassen sich auf heftige politische Kontroversen ein. Es entsteht eine skurrile Situationskomik, wo man als Zuschauer oft nicht weiß, ob einem zum Lachen oder Weinen zumute ist. Doch bald versteht man, warum Spiras Blicke in die österreichische Seele für ein Millionenpublikum zur Kultsendung wurden.
Pierre Lorang war Journalist für Politik und Feuilleton beim Luxemburger Wort. Heute ist er freier Publizist und ständiger Mitarbeiter von forum. Von Pierre Lorang erschien zuletzt in forum „Bürgerschaftliches Engagement im Stadtviertel. Ein Porträt des Interessenvereins Eich-Dommeldingen-Weimerskirch“, in: forum 404, März 2020, S. 46-48.

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