Klausur-Kultur (18)


Oliver Kohns

Online-Schach

 

Die Schönheit des Schachspiels liegt in dem Umstand begründet, dass Zufall darin keine Rolle spielt. Über Sieg oder Niederlage entscheidet lediglich das Vermögen und Unvermögen der Spieler/innen, die verschiedenen Holzfiguren über die 64 Felder zu schieben, um eigene Pläne zu verfolgen und dabei die Strategie der Gegenpartei zu verhindern. Die Rationalität und – zumindest theoretische – Berechenbarkeit des Spiels macht es zu einem trostreichen Zufluchtsort in chaotischen Zeiten.

Der Legende zufolge soll der Kalif Muhammad al-Amin gerade in eine Partie Schach gegen seinen Lieblingseunuchen Kauthar vertieft gewesen sein, als ihm die Nachricht gebracht wurde, dass Bagdad von seinen Gegnern überrannt wurde und er um sein Leben fliehen sollte. Der Kalif weigerte sich mit dem Argument, es fehlten nur noch wenige Züge, um Kauthar Matt zu stellen. Er gewann sein Spiel, wurde dann allerdings von seinen Feinden geköpft.

Die aktuelle Coronakrise nun bringt es mit sich, dass es zum klugen Verhalten gehören mag, dem Vorbild al-Amins zu folgen. Für mich jedenfalls kann Schach einen Moment der Absorption aller Sorgen und Nöte bringen, eine intellektuelle und mitunter sogar ästhetische Befriedigung, wenn ein Plan funktioniert und eine schöne Kombination gelingt. Und die Erinnerung an die Endlichkeit des Denkens, wenn der Gegner einen unerwarteten Zug machen kann und der eigene Plan zusammenbricht wie ein Kartenhaus. Empfehlenswert in diesen Tagen ist naturgemäß die Variante des Online-Schachs, bei der man sich mit Gegner/innen aus aller Welt messen kann. Eine kostenfreie Plattform dafür bietet lichess.org, hier gibt es außerdem die Möglichkeit von Computeranalysen und Trainingseinheiten. Insofern Schach gleichermaßen Kunst, Spiel und Wissenschaft ist, kann es auch nie schaden, bei den Meistern und Großmeistern zu lernen, die ihr Wissen etwa auf YouTube teilen. Der unterhaltsamste – in meinen Augen – ist Ben Finegold vom Chess Club and Scholastic Center of Atlanta. Sein Humor mag nicht jedermanns Sache sein, aber immerhin: Man zeige mir eine/n YouTuber/in, der/die unterhaltsamer über die Probleme des Königsgambits sprechen kann.

Oliver Kohns ist Professor an der Universität Luxemburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Verhältnis von Ästhetik und Politik sowie die europäische Literatur der Moderne. In forum erschien zuletzt von ihm ein Beitrag in der Rubrik „Was tun Sie?“, in: forum 404, März 2020, S. 49.

Screenshot von Ben Finegold (YouTube)

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