Klausur-Kultur (20)


Céline Flammang

John Cage

 

Mitunter fühlen sich diese Tage an wie das Stück 4’33’’ von John Cage.

In 3 Sätzen, während 4 Minuten 33 Sekunden, passiert hier ständig das Gleiche – nämlich nichts. So wie der Pianist bei der Uraufführung 1952 in New York vor geschlossenem Klavierdeckel saß, stehen wir heute vor verschlossenen Türen von Büros, Läden und Cafés. Stille zulassen, zum Stillstand kommen, ist momentan eine neue Herausforderung für viele derjenigen, die ihre fehlende gesellschaftliche oder familiäre Systemrelevanz jetzt – sei es zu ihrer Freude oder zu ihrem Leid – feststellen müssen. Die relative Machtlosigkeit des Menschen angesichts des neuartigen Coronavirus und das Wissen vom Nicht-Wissen um sämtliche Risikofaktoren und geeignetsten Therapieformen dürfte darüber hinaus eine kollektive Sorge sein.

Besonders John Cages Werk kann in dieser Situation eine trostspendende Wirkung entfalten.

Prägend für Cages Arbeit waren zwei Momente: Die Erfahrung der vermeintlichen Stille in einem absolut schalltoten Raum in Harvard hatte ihm gezeigt, dass es die Hörerfahrung der absoluten Stille nicht geben kann, da zumindest das Klopfen des eigenen Pulses immer noch vernehmbar ist. Die Entdeckung der White Paintings (1951) von Robert Rauschenberg – weiße Leinwände, die dem Spiel von Licht und Schatten einen Rahmen bieten – war ebenso bestimmend.

Es wird Cage dazu bringen, die subjektive menschliche Absicht und Wertung so weit wie möglich aus seinen Kompositionen zu verbannen und Naturphänomene und den Zufall die Partitur bestimmen zu lassen. So wurde die Dauer der einzelnen Sätze von 4’33’’ nicht willkürlich von Cage festgelegt, sondern mithilfe von Tarotkarten entschieden.

Diese neuen schöpferischen Freiheiten ergeben sich aus einer anderen Auffassung der Harmonie als in der bisherigen klassischen Musiktheorie. Die Neue Musik findet den Sinn des Tons im Ton selber und schließt daraus, dass alle Töne gleichwertig zu behandeln und miteinander kombinierbar sind. Alles kann zum legitimen Klang werden, auch Umgebungsgeräusche während 4‘33‘‘. Es geht nicht mehr darum, eine Harmonie zu erschaffen, sondern die Rolle des Komponisten beschränkt sich darauf, die längst bestehende Harmonie erfahrbar zu machen. In Music for Piano 21–52 (1955) werden beispielsweise die zufälligen Unreinheiten des Papiers in Noten umgesetzt.

Études boréales (1978), Cages anspruchsvollstes Stück, basiert auf Sternenbildern der nördlichen Hemisphäre. Die Position des Klavierspielers folgt der Position der Sterne, woraus sich ein oft schneller und technisch komplexer Wechsel zwischen Tasten, Saiten und Korpus des Klaviers ergibt und das Klavier auch als Perkussionsinstrument genutzt wird. Diese neue Herangehensweise an das Klavier ergab sich nicht rein aus avantgardistischem Denken, sondern auch aus materieller Not: Ende der 1930 Jahre, während der Weltwirtschaftskrise, erfand Cage das so genannte „präparierte Klavier“, aus dem die Music for prepared piano entstand, und an dessen Saiten und Hämmer er Gegenstände wie Plastik, Nägel, Radiergummis und andere Kleinteile klemmte, um trotz der Beschränkung auf ein einziges Instrument neue Klangfarben erzeugen zu können.

Études boréales sollte ein Zeichen der Hoffnung setzen. Cage meinte einmal dass, solange es möglich sei, solch ein kompliziertes Stück zu spielen, es auch möglich sein müsste, sämtliche gesellschaftliche Probleme zu lösen, die Ende der 1970er Jahre die Aktualität bestimmten.

Man kann das Werk von John Cage und den Prozess seiner Entstehung also als Einladung verstehen, Vertrauen zu entwickeln. Es kann dabei helfen, Zufallsgeschehen nicht als Chaos, sondern als absichtslose Ordnung zu empfinden. 4‘33‘‘ macht die Stille als Klang und die Leere als Raum erfahrbar. Es stellt letztendlich die Frage: Was passiert alles, wenn mal nichts passiert?

Céline Flammang hat Psychologie und Journalismus studiert und arbeitet im Service des médias et des communications. In forum erschien von ihr zuletzt die Einführung ins Dossier „Mensch sein im Anthropozän“, in: forum 401, Dezember 2019, S. 16-18.

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