- Politik
31 Vorschläge für eine Politik der Resilienz (Reaktion auf Vorschlag 13: Christian Schulz)
Vorschlag 13 der forum-Redaktion: Mit den Kommunen auf der anderen Seite der Grenzen, in denen die Hälfte der ArbeitnehmerInnen leben, die in Luxemburg arbeiten und die den hiesigen Sozialstaat finanzieren, müssen reelle Partnerschaften aufgebaut werden, um die Qualität der kommunalen Infrastrukturen auf beiden Seiten der Grenze anzunähern und das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft zu fördern (und am Ende zukünftigen Anfeindungen und Erpressungen zu entgehen). Wenn zurzeit die Aufteilung der Steuereinnahmen (etwa nach dem Genfer Modell) eine ideologische Hürde darstellt (der Premierminister hat erklärt, dass er nicht die Weihnachtsbeleuchtung der französischen Bürgermeister finanzieren möchte), dann sollte es als Alternative konkrete Partnerschaften zwischen Kommunen oder Gemeindesyndikaten geben, wo die luxemburgische Seite aktiv Projekte sucht, die sie auf der anderen Seite der Grenze ko-finanzieren kann. Diese sollten nicht nur den Mobilitätsbereich betreffen (wo das Luxemburger Eigeninteresse am augenscheinlichsten ist), sondern auch Kultur-, Umwelt-, Tourismus- und Sportprojekte einschließen.

Reaktion 13 von Christian Schulz:
Wer den französischen Bürgermeister*innen die Weihnachtsbeleuchtung nicht (mit)finanzieren möchte, müsste gleichzeitig begründen können, warum hingegen der (steuerliche) Beitrag lothringischer Grenzpendler*innen zur oft üppigen Weihnachtsbeleuchtung luxemburgischer Kommunen gerechtfertigt sein sollte. Aber diese polemisierende Argumentation soll hier nicht weiter ausgebreitet werden, ist sie doch alles andere als zielführend. Allenfalls zeigt sie, welche Art von Denken in einer „Solidargemeinschaft“ eigentlich nicht vorkommen sollte. Den im forum-Vorschlag gewählten Begriff der „Schicksalsgemeinschaft“ werde ich hier nicht benutzen, da er mir zu negativ-fatalistisch konnotiert ist und reduzierte Gestaltungsspielräume angesichts externer Zwänge suggeriert. Lässt man außen-, sicherheits- und steuerpolitische Fragen sowie Auswüchse der globalen Finanzwirtschaft einmal beiseite, dann sind jedoch fast alle der spannungsgeladenen Themen unserer Grenzregion etwa in den Bereichen Mobilität, Infrastrukturen, Ver- und Entsorgung, Gesundheitswesen, Umwelt- und Naturschutz usw. vor Ort und grenzüberschreitend lösbar.
Dies setzt jedoch eine echte Solidargemeinschaft – wie sie in Sonntagsreden zur Großregion gerne bemüht wird – voraus. Von einer funktionierenden, auf politischem Konsens basierenden und durch klare Regeln institutionalisierten Solidargemeinschaft mit den grenznahen Gebietskörperschaften sind wir jedoch vermutlich noch weiter entfernt als vor einigen Jahren. Zu sehr beherrschen derzeit nationale und regionale Egoismen die Debatte – leider auch bei wichtigeren Themen als dem Weihnachtsschmuck. Und auch wer dachte, globale Krisen schüfen Einigkeit und Solidarität, muss sich derzeit enttäuscht sehen.
Keinesfalls soll hier einseitige Schuldzuweisung betrieben werden. Nur allzu oft war das Großherzogtum nachweislich entscheidender politischer Treiber (und nicht selten auch wichtiger Financier) bedeutender grenzüberschreitender Vorhaben. Ein Schelm, wer hier ein Muster unterstellt, dass proaktiv vornehmlich solche Maßnahmen vorangebracht würden, die unmittelbar dem Funktionieren des Wirtschaftsstandorts Luxemburg zuträglich sind (z. B. Verkehrsinfrastrukturen), während auf andere Problemlagen eher zögerlich bis gar nicht reagiert würde (z. B. ausdünnende Dienstleistungen und Infrastrukturen in Gemeinden der Nachbarregionen, die durch Steuerabfluss chronisch unterfinanziert sind).
Was fehlt, ist eine ehrliche Debatte, die schonungslos bilanziert, welche Unwuchten bestehen, wer – salopp formuliert – wo auf wessen Kosten lebt, und nach welchem Schlüssel eine faire Umverteilung von Ressourcen bewerkstelligt werden kann. Das zitierte Genfer Modell könnte hier ein Vorbild sein, aber auch von Stadtregionen ohne Grenzlage kann gelernt werden, wenn es um das gemeinsame Entwickeln von Strategien und das Treffen verbindlicher Vereinbarungen zwischen Kernstadt und Umlandgemeinden geht.
Aber die Debatte darf keinesfalls auf Ebene der Umverteilung stehen bleiben, handelt es sich dabei doch eher um Symptombekämpfung. Vielmehr ist den Ursachen der bilanzierten Unwuchten und Ungerechtigkeiten nachzugehen und nach langfristigen Lösungsansätzen zu suchen. Ein Beispiel aus dem Bereich Mobilität und Infrastrukturen: Eine Dezentralisierung der Arbeitsorte bisheriger Grenzpendler*innen – etwa in grenznahe Co-Working-Spaces oder die systematische Förderung der Telearbeit, die durch Corona einen massiven aber auch ambivalenten Entwicklungsschub erfahren hat – würde Verkehrsinfrastrukturen entlasten, Pendelzeit einsparen sowie neue, idealerweise familienkompatiblere Arbeitszeitmodelle ermöglichen. Voraussetzung wäre, dass sich die betroffenen Staaten auf notwendige Anpassungen verständigen. Dazu gehören nicht nur augenfällige Änderungen im Arbeits- und Steuerrecht, sondern es geht hier auch um strukturelle Fragen der Landesplanung und Raumentwicklung. Die in Luxemburg kursierende Idee der extraterritorialen Gewerbegebiete jedoch, in denen luxemburgisches Recht gelten könnte und Grenzpendler*innen Wege (und dem Großherzogtum Verkehr) erspart würden, greift hier entschieden zu kurz; sie atmet eher den Geist eines quasi-kolonialen Utilitarismus denn den einer Solidargemeinschaft. Es braucht vielmehr ein grenzüberschreitend koordiniertes Gesamtkonzept der Regionalentwicklung, das neben Verkehr, Gewerbe, Wohnen, Kultur und Gesundheit explizit auch Fragen des Klima- und Ressourcenschutzes behandelt.
Zugegeben, diese Forderung ist nicht neu und gewiss ein komplexes Unterfangen. Sie soll auch nicht unterbewerten, was inzwischen zwei oder mehr Generationen von Verwaltungsbeamt*innen und Politiker*innen in ihrem Bemühen um grenzüberschreitende Koordination durch Bohren dicker Bretter versucht haben. Häufig sind sie nicht nur an technisch-administrativen oder budgetären Hürden gescheitert, sondern letztlich oft auch an fehlendem politischen Willen zur konsequenten Weiterentwicklung der Idee einer kohärenten und verbindlichen grenzüberschreitenden Vision.
Und letztere wäre unabdingbar, denn jede Solidargemeinschaft fußt auf einem gemeinsamen Verständnis von Zielen und Notwendigkeiten. Nur dann werden Fragen der Umverteilung, des Ausgleichs und der Gerechtigkeit viabel. Ohne in einen zu optimistischen Post-Corona-Diskurs einstimmen zu wollen, bietet die aktuelle Krise bestimmte Opportunitäten. Im Streben nach regionaler Resilienz wird offenkundig, dass Luxemburg alleine diese nicht erreichen können wird. Die Re-regionalisierung von Produktions- und Lieferketten, die nahräumliche Versorgung mit Lebensmitteln, die Dezentralisierung der Energieversorgung, neue Formen des Tourismus und viele andere Bereiche machen eine partnerschaftliche Koordinierung mit den Nachbarregionen unabdingbar. Und sie bieten eine Chance, mit politischer Entschlossenheit den im medialen und politischen Diskurs oft bemühten (aber kaum wirklich in Wert gesetzten) „Laborcharakter“ der Grenzregion für zukunftsweisende, innovative, und notwendigerweise auch disruptive Experimente zu nutzen.
Aufgrund seiner besonderen Betroffenheit, seiner politischen Autonomie und seiner Moderatorenrolle in großregionalen Angelegenheiten könnte Luxemburg hier tatsächlich ein Motor sein. Dies gelingt jedoch nur, wenn weitgehender Konsens über die Ziele und eine solidarische Grundhaltung aller Partner erarbeitet wird. Vorweihnachtliches Polemisieren führender Politiker*innen jedenfalls ist hier genauso wenig zuträglich wie jede andere Art von Neid und Missgunst, egal auf welcher Seite der Grenze.
Christian Schulz forscht und lehrt an der Universität Luxemburg zu Fragen der nachhaltigen Regionalentwicklung.
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