Die Debatte über die Umnutzung entweihter Kirchen
(von Michel Pauly)
1828 wollten ein paar Dutzend Luxemburger Familien nach Brasilien auswandern. Sie gaben ihr ganzes Vermögen aus, um die Überfahrt zu bezahlen. In Bremen angekommen, hieß es, die Schifffahrtgesellschaft sei bankrott, und sie mussten den Heimweg antreten. Den mittellosen Rückkehrern, die von vielen verspottet wurden, stellte die Regierung schließlich Land an der Grenze zwischen den Gemeinden Grosbous, Heiderscheid und Wahl zur Verfügung. Die paar Höfe erhielten den Namen Nei-Brasilien; später wurde die Ortschaft in Grevels umbenannt. 1868 erhielt das Dorf seine eigene Kirche, finanziert durch Spenden der Gemeindemitglieder.
Weil es heute in der Pfarrei Aterdall Sainte-Claire viel zu viele Kirchen und Kapellen für die schwindende Zahl praktizierender Gläubiger gibt, kam im Gespräch der Pfarrgemeinschaft mit dem Gemeinderat die Idee auf, die Kirche in Grevels zu einem Museum über Nei-Brasilien umzuwidmen. Die Emigration von Luxemburgern im 19. Jahrhundert in die Neue Welt, deren Anzahl mit 60.000 häufig viel zu hochgeschätzt wird, würde in der Tat ein Dokumentationszentrum verdienen.
Gemeinschaftliche Entscheidungen erwünscht
Das Beispiel erzählte der Pressesprecher des Erzbistums Luxemburg bei einem Rundtischgespräch, das vom Ordre des architectes et des ingénieurs (OAI) und der Erwuessebildung am 4. Oktober 2021, dem Welttag der Architektur, organisiert worden war. Fast hundert Zuhörer waren gekommen, um von Laure Simon von der Erwuessebildung, der Initiatorin der Konferenz, Louis Oberhag, Vizepräsident des Syvicol, Gerard Kieffer, Pressesprecher des Erzbistums, Sala Makumbundu, Generalsekretärin des OAI, und Patrick Sanavia, Direktor des Denkmalschutzamts, zu erfahren, wie sie sich die Zukunft der rund 500 Kirchen und Kapellen im Lande vorstellen, insbesondere natürlich jener paar hundert, die nicht mehr für Gottesdienste gebraucht werden. 14 sind bisher entweiht worden. Dass das Thema von aktuellem Interesse ist, zeigte nicht nur der große Andrang bei der Konferenz, sondern auch die von Radio 100,7 am 16. Oktober 2021 ausgestrahlte Sendung Riicht eraus zum Thema „Bleift d’Kierch am Duerf?“, an der neben Sala Makumbundu und Gerard Kieffer auch Alex Langini, der ehemalige Diözesankonservator, und Robert Mangen, Schöffe der Gemeinde Differdingen, teilnahmen.
Das Beispiel Grevels war in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Der Wunsch nach Umgestaltung in ein Museum kam nicht von weltlichen oder kirchlichen Mandatsträgern, sondern ging aus der Dorfgemeinschaft hervor. Das ist nach dem einhelligen Dafürhalten aller Redner die Voraussetzung, um die leerstehenden Kirchen im Respekt ihrer bisherigen Rolle einer neuen Funktion zuzuführen. Und zweitens stellt die ins Auge gefasste museale Thematik einen Mehrwert dar; sie erweitert das nicht nur lokale, sondern sogar nationale kulturelle Angebot um einen wesentlichen Aspekt. Daher konnte sich Kulturministerin Sam Tanson (déi Gréng) in ihren Schlussfolgerungen auch mit dem Projekt anfreunden, obschon sie ansonsten davor warnte, nun alle leerstehenden Gotteshäuser in Museen umzuwandeln.
Dieselbe Sympathie brachte sie der von Laure Simon vorgetragenen Suche nach einer St. Nikolaus-Kirche entgegen, in der ein „Museum“ über die Bedeutung des Kleeschen in der luxemburgischen Folklore eingerichtet werden könnte. Der Brauch wurde zwar in Luxemburg auf die Liste des nationalen immateriellen Kulturerbes aufgenommen, doch damit die UNESCO den Kleeschen-Brauch als Weltkulturerbe anerkennt, muss ein Dokumentationszentrum geschaffen werden, wie das für die Echternacher Springprozession geschehen ist.
Es bleibt in beiden Beispielen die Frage, wer diese neuen Funktionen finanzieren soll, denn im Falle der neu entdeckten frühmittelalterlicher Baustrukturen im Zentrum von Echternach hat die Kulturministerin es abgelehnt, dass der Staat die Ausgrabungen in ein Dokumentationszentrum integriert; das sei Sache der Gemeinde, obschon die Funde eindeutig nationale, gar internationale Bedeutung haben. Die Finanzfrage wurde beim Panel allerdings nicht angesprochen, obschon die Meinung des Syvicol dazu sicher von Interesse gewesen wäre.
Die allseits hervorgehobene Mitsprache der Dorf- oder Stadtviertelgemeinschaft bei der Umnutzung von Kirchengebäuden könnte durchaus auch zu einer Wiederverwendung zu wirtschaftlichen Zwecken führen. Das Luxemburger Wort brachte bei der Berichterstattung über die Veranstaltung das Beispiel der Dominikanerkirche in Maastricht, in der eine Buchhandlung untergebracht ist, während in derselben Stadt die Kreuzherrenkirche heute das Kruisherenrestaurant beherbergt. Im belgischen Mons ist das Martin’s Dream Hotel in einem neogotischen Abteirefugium eingerichtet. Ähnliche Beispiele sind im Ausland zahlreich zu finden. In Luxemburg hatte die Französische Revolution schon 1795 die Umnutzung der meisten Klosterkirchen nach sich gezogen. In der Kapuzinerkirche wurde 1869 ein bis heute genutzter Theatersaal eingerichtet. Da in vielen Dörfern der Trend weg vom entfernten Supermarkt zum lokalen Handel zu spüren ist und immer mehr Gemeinden wieder Wochen- oder zumindest Monatsmärkte organisieren, könnte man sich vorstellen, dass eine Dorfgemeinschaft ihre Kirche in Zukunft als Markthalle nutzen will. Das bedeutet ja noch nicht – wie polemisch zwischenbemerkt wurde –, dass der Altar als Tresen dienen wird.
Denkmalschutz für patrimoine mobilier
Mit dem Altar ist andererseits ein Aspekt der Unterschutzstellung ehemaliger Kirchen angesprochen, der bei der Veranstaltung von OAI und Erwuessebildung zu kurz kam, in der Radio-Sendung aber erfreulicherweise wieder aufgegriffen wurde. Während die Denkmalschutzkommission seit Monaten in jeder Sitzung im Schnitt für ein halbes Dutzend Kirchen und Kapellen die Klassierung als historisches Denkmal empfiehlt, stößt sie sich immer wieder daran, dass damit das in der Kirche vorhandene Mobiliar nicht mitgeschützt wird. Zu dem Zweck müssten nämlich präzise Inventare der Inneneinrichtung und der liturgischen Geräte vorliegen: Es geht um Kelche und Monstranzen, Messgewänder, Messbücher, Statuen, Gestühl usw. Selbst Altäre, Predigt- und Beichtstühle, Orgeln und Glocken fallen nur dann automatisch mit unter den Denkmalschutz, wenn sie „immeuble par destination“ sind, d. h. ihr Abriss das Bauwerk beschädigen würde. Bei Altären oder Predigtstühlen aus Holz, die häufig sogar schon aus abgerissenen Kirchen stammen, ist das nicht der Fall. So steht etwa der 1743 angefertigte, barocke Predigtstuhl der ehemaligen St. Nikolaus-Kirche am Krautmarkt in Luxemburg heute in Ruette bei Virton (Belgien), während die Seitenaltäre im 19. Jahrhundert in der Pfarrkirche von Walferdingen Wiederverwendung fanden. Zahlreiche Archivalien und Bücher sind infolge der Liturgiereform der 1970er Jahre vom Pfarrklerus ausgemustert worden und im Antiquitätenhandel gelandet.
Ähnliches könnte jetzt wieder passieren. In der St. Nikolaus-Kapelle in Olm, die sehr gut als Rahmen für ein Dokumentationszentrum über die in Luxemburg mit dem Kleeschen verbundenen Bräuche dienen könnte, hat der Kierchefong, nachdem sie in den Besitz der Gemeinde Kehlen übergegangen und entweiht worden war, nicht nur die zentrale Statue des hl. Nikolaus auf dem Altar, sondern auch alle anderen Statuen sowie die gesamte liturgische Gerätschaft aus der Kirche entfernt. Dasselbe geschah in Lasauvage.
Während der Direktor des Denkmalschutzamtes nur beschwichtigend auf die Frage antwortete und sich des Problems offensichtlich nicht bewusst ist, erfuhr ich nach der Veranstaltung von OAI und Erwuessebildung, dass auf Seiten der katholischen Kirche das Problem durchaus erkannt und die neue Diözesankonservatorin in Zusammenarbeit mit einem Angestellten des Kierchefong dabei sei, ein Formblatt auszuarbeiten, um das mobile Kulturerbe aus den Kirchen – ob entweiht oder noch benutzt – zu erfassen und gegebenenfalls unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Anfang 2022 sollen freiwillige Mitarbeiter dafür geschult werden. Interessenten sind willkommen und können sich bei vicaire.general@cathol.lu oder cca@kierchefong.lu melden. Auf den Kierchefong kommt auf jeden Fall eine Riesenarbeit zu: Während schon nach der aktuellen Gesetzgebung jedes Objekt (ob Statue oder Silberlöffel, Manipel oder Antependium) detailliert beschrieben und sein historischer oder/und kunsthistorischer Wert begründet werden muss (deswegen stehen zurzeit nur 20 mobile Objekte unter Denkmalschutz!), wird dem leider immer noch nicht verabschiedeten neuen Denkmalschutzgesetz nach alle fünf Jahre überprüft werden müssen, ob die Gegenstände noch vorhanden sind. Es ist unverständlich, dass eine allgemeine Formulierung wie „Die Kirche NN wird unter Denkmalschutz gestellt inklusive alle Gegenstände religiöser Kunst und alle Artefakte, die für liturgische Feiern notwendig sind“ wegen angeblicher juristischer Ungenauigkeit nicht zurückbehalten werden konnte.
Welche Schätze von einzelnen Kirchenfabriken abgestoßen werden oder im kommerziellen Antiquariat zu finden sind, davon zeugt die aktuelle Ausstellung im Lëtzebuerg City Museum, die einen Einblick in dessen Sammlungen religiöser Kunst gewährt. Die wenigsten Ausstellungsobjekte wurden gekauft!
Alex Langini wiederholte in der 100,7-Sendung seine Forderung nach einem Diözesanmuseum für sakrale Kunst. Eine der ausgedienten Kirchen würde sich sicher bestens dazu eignen. Doch man kann auch der Meinung sein, dass die religiösen Artefakte zur allgemeinen Luxemburger Sozialgeschichte gehören. Daher sollte ihnen nicht ein eigenes Museum gewidmet werden, sondern sie sollten in die allgemeinen historischen Museen integriert werden. Die Frage verdient auf jeden Fall eine vertiefte Debatte. Sala Makumbundu plädierte eher dafür, dass in Zukunft Erinnerungsstücke aus der Zeit, als das Gebäude für religiöse Zwecke diente, in gesicherten Vitrinen vor Ort ausgestellt werden und so an die ursprüngliche Zweckbestimmung des Baus erinnern, auch wenn er neuen, zivilen Funktionen zugeführt wurde.
Magische Sakralität?
Das lebhafteste Bedauern rief allerdings die Aussage des kirchlichen Pressesprechers hervor, als er dem Vorschlag, auch in entweihten Kirchen gelegentlich Gottesdienst zu feiern, eine Abfuhr erteilen musste. Selbst dem Bistumsmitarbeiter war es hörbar peinlich, darauf hinweisen zu müssen, dass das vom Kirchenrecht her nicht möglich sei (Anm. d. Autors: zumindest dann nicht, wenn man der Auslegung des Erzbischofs folgt). Der Differdinger Gemeinderat hatte das sowohl 2018 für die moderne Kirche in Belval-Metzerlach als auch jüngst für die Kirche in Lasauvage vorgeschlagen, wo die alljährliche Bärbel-Feier nunmehr ohne kirchlichen Segen stattfinden muss. Für die am 4. Oktober zahlreich anwesenden Kirchengänger war diese Bestimmung unverständlich, umso weniger als es umgekehrt möglich ist, dass in geweihten Kirchen profane Veranstaltungen stattfinden. Hier tradiert das kanonischen Recht ein magisches Verständnis von Sakralität, das man spätestens nach dem 2. Vatikanischen Konzil für überwunden gehalten hatte. Heißt es denn nicht in Mt. 1820: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen“? Von Weiheriten und sakraler Exklusivität ist in der Bibel nichts zu lesen. Sakral wird ein Raum durch seine Nutzung für liturgische Zwecke und nicht, weil seine Mauern irgendwelche dauerhafte Ausstrahlung hätten oder mit Weihwasser besprüht worden wären. Daher kann jeder Raum aus gegebenem Anlass sakral werden. Wenn Messen auf Campingplätzen stattfinden dürfen und Christmetten in Ställen gefeiert werden, warum sollen dann Gottesdienste in ehemaligen Kirchengebäuden, die inzwischen von der Zivilgemeinde als Kulturzentrum benutzt werden, verboten sein? Auf 100,7 berichtete Alex Langini von einer entweihten Kirche in Weert (NL), wo der Bischof auf Antrag hin jeweils die Genehmigung zur Messfeier erteilt. Es wäre sehr zu wünschen, dass die Vorsteher der Luxemburger Lokalkirche sich aus guten Gründen über das Kirchenrecht hinwegsetzen, denn erstens versteht das Kirchenvolk derartige aus heidnischen Zeiten stammende Weihe/Entweihe-Riten nicht (mehr), und zweitens kommt der Fortschritt, auch der theologische, häufig von Personen, die sich nicht scheuen, das Gesetz zu übertreten, um neue Freiheiten zu eröffnen. Die Messfeier coram publico, bei der der zelebrierende Priester die Gläubigen anschaut, statt ihnen wie früher den Rücken zuzuwenden, hat sich beim Konzil auch gegen den Widerstand etlicher Kurienkardinäle durchgesetzt, weil mutige Priester und Bischöfe die Messe mit dem Gesicht zur Glaubensgemeinschaft gefeiert haben, als das noch verboten war. Doch Mut ist keine in der Bistumsleitung verbreitete Tugend. Der Weihbischof hätte es vorgezogen, dass kein Vertreter des Bistums an der Veranstaltung von OAI und Erwuessebildung teilgenommen hätte.
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