Corona & Kinder

Eine Gruselgeschichte

(von Petra Stober)

 

Nach zwei ganzen Jahren Corona-Stress gehen wir jetzt in den dritten Winter, der vom Virus bestimmt wird, und wir werden das dritte Schul-, Uni- und Ausbildungsjahr unter diesen extremen Sonderkonditionen erleben. Entgegen aller politischen, hoffnungsfrohen, aber schöngefärbten Vorhersagen ist das Virus nicht eingedämmt, die Impfungen reichen nicht aus, alles wird – gar nicht gut. Das Virus mutiert sich fröhlich durch die Reihen der freiwillig Ungeimpften. Und überall dort, wo Impfquoten nicht dank der Verweigerer, sondern mangels Impfstoff, Geld und Organisation zu niedrig sind, entstehen immer komplexere Varianten, die sich dann in Windeseile global verbreiten. Was schon bei Erwachsenen zu allerlei mentaler und emotionaler Desorientierung sowie zu Kommunikations- und Entscheidungsversagen führt, ist für Kinder und Jugendliche eine anhaltende, sich progressiv verschlimmernde, reale Katastrophe, welche die biologischen Strukturen ihrer Gehirne massiv beeinflusst. Je nach Entwicklungsphase kommt es zu irreparablen Schäden in der körperlichen, geistigen, emotionalen und seelischen Entwicklung, weil die Neuronen und die Ausbildung der Synapsennetzwerke sensiblen Phasen unterliegen, die gar nicht oder nur sehr unvollkommen nachgeholt werden können. Ein kollektives Trauma entsteht vor aller Augen; und trotzdem guckt kaum jemand hin.

Wir müssen die Kinder und Jugendlichen in der erforderlichen Ernsthaftigkeit und Tiefe wahrnehmen. Eltern, Familie, Lehrer, Erzieher, Politiker, Journalisten, Ärzte, Therapeuten, Sporttrainer, Musikpädagogen, Nachbarn und alle anderen müssen sehen, was mit unseren Kindern geschieht. Müssen wir nicht etwas Besseres für sie wollen als das Bestehende? Wie viel Empathie, Zeit und Energie widmen wir unseren Kindern in der Krise? Nehmen wir ihre Veränderungen wahr? Veränderungen des Charakters, ihres Wesens, ihres Umgangs mit der Welt?

Alle in den letzten beiden Jahren geborenen Kinder haben große Defizite in Sachen Mimik und Gestik, in der sogenannten non-verbalen Kommunikation. In dieser Lebensphase ist das aber der Dreh- und Angelpunkt des Weltverständnisses, und das zieht sich noch bis zum Einschulungsalter hin. Diese kleinen Menschen erleben zwar noch ihre Eltern als Menschen mit Gesicht und ohne Maske, aber ansonsten sehen sie FFP2, wo die früher Geborenen lachende Münder sahen. Und beschäftigen sich ihre Eltern mit ihnen, bemühen sie sich darum, die fehlende Mimik auszugleichen? Oder schauen sie viel zu oft und viel zu lange starr auf ihre digitalen Lebensgefährten in Rechteckformat?

Wie gedeihen die Kinder, die ihre ersten Jahre im pandemie-organisierten Kindergarten verbracht haben? Was ist mit ihren non-verbalen Eindrücken und Ausdrucksmöglichkeiten? Ihrer Psychomotorik? Ihrem freien Blick auf die Welt? Auf welche Umgebung wurden sie reduziert? Kindertheater, Zoobesuche, Museum-Abenteuer, Kletterparadiese, musikalische Spaß-Events, Sporttage, Kindergeburtstage, Familienfeste, freies Spielen irgendwo mit irgendwem – all das fiel aus. Und was bedeutet das für ihre neuronale Entwicklung? Können sie diese unbefangenen Vorstrukturierungen nachholen? Wie frei sind sie im Umgang mit sich selbst, mit anderen Kindern? Wie viele Erwachsene haben sie unbefangen und unbelastet erlebt? Was bedeutet das für ihren inneren Kern, ihr Vertrauen in sich und die Welt?

Die Kinder der Grundschule, die Erst-Zweit-Drittklässler, wie erleben sie Schule? Wie haben sie Lernen gelernt? Ist es vergleichbar mit dem „Lernen lernen“ der Generationen vor ihnen? Sicherlich nicht. Und trotzdem wird so getan, als ob es das wäre. Wir hören in den Medien von Kindern, die Angststörungen entwickeln. Wie aber geht man mit diesen Kindern um? In den Schulen vieler Kinder wird konsequent weggeschaut. Das Programm bestimmt den Alltag. Wer Angst hat und deshalb schlechter lernen kann, wird nicht beachtet. Wer ausfällt, wegen Krankheit, Quarantäne oder Belastungsstörungen, bekommt die Arbeitsblätter nach Hause geschickt; das war’s. Die Kinder entwickeln kompensatorische Verhaltensweisen, manche sind vorsichtig bis ängstlich, andere grob bis aggressiv, manche stehen auf: „Mir doch egal“. Unsicher sind alle. Kinder, die sich bemühen, die Corona-Abwehrregeln zu beachten, werden Zielscheibe von aggressivem Spott. Lehrer sind müde und greifen nicht ein.

Auch Eltern, die sich Mühe geben und vorsichtig reagieren, wenn z. B. positive Corona-Fälle in der Klasse auftauchen, werden bisweilen milde belächelt, häufiger sozial geächtet. Was dem Virus hilft, aber nicht seiner Bekämpfung. Das dividiert alle auseinander, überfordert Kinder und Eltern systematisch und erzeugt chronischen Stress.

Die letzten Jahrgänge der Primärschüler konnten sich kaum aufs Sekundär vorbereiten. Die besonderen Übergangserlebnisse – Abschiedsfeiern und -fahrten – fielen kompromisslos aus. Auch in diesem Jahr wieder, ohne jeden Realitätsbezug vollmundig angekündigt, dann kurzfristigst abgesagt. Ersatzlos. Die inhaltlichen Vorbereitungen, fachlich, strukturell, nur noch rudimentär, wenn überhaupt. Und immer das Damoklesschwert über dem Examen. Findet es statt, wenn ja, unter welchen Rahmenbedingungen? Bleibe ich gesund bis dahin? Bin ich zum Stichtag gesund? Wie ist die Familiensituation der Kinder, welche Belastungen, welche Verluste müssen verkraftet werden? Da fehlt es an erforderlichen Routinen, im Lernverhalten, aber auch im Sozialverhalten. Das Gemeinsame, wo ist es geblieben? Und wie wollen wir es wieder beleben?

Die prägenden Jahre zwischen 12 und 15, die Sekundarstufenjahre, sind von Angst überschattet, von Unsicherheiten geprägt. Lehrer mit Masken, die Fremdsprachen unterrichten, und darauf hinweisen, was am offensichtlichsten völlig fruchtlos sein wird. Menschen, aber vor allem Kinder, brauchen ganzkörperliche Kommunikation, um zu verstehen – und vor allem, um eine intensive, lebendige Mimik auszubilden, was viel mehr ist als Augen-Kontakt. Natürlich sichtbare, nachvollziehbare Mundbewegungen, auch Lippenstellungen des Sprechenden, sind von enormer Bedeutung, wenn es darum geht, neue Sprachen zu lernen. Lehrer, deren untere Gesichtshälfte verdeckt ist, haben keinerlei Ausstrahlung, keine magische Anziehungskraft, die Aufmerksamkeit erzeugt und binden kann. Diese Lehrer können ja selbst kaum atmen und auch die Mimik der Kinder nicht mehr lesen, wenn diese Masken tragen. Lernausfälle durch Konzentrationslöcher, durch Missverständnisse, im Sinne von Verständnislücken sind vorprogrammiert. Was haben wir dagegen getan? Wie gleichen wir das aus? Wie fließt es in die Bewertungssysteme ein? Welche Konzepte entwickeln wir für die kommenden Jahre? Denn es ist ja offensichtlich, dass es erstmal nicht besser werden wird. Die nächsten Lockdowns stehen vor der Tür, und die Masken werden so schnell nicht verschwinden; ihre Schutzfunktion ist unentbehrlich. Oder gibt es vielleicht doch andere Lösungen? Wie viel unserer kreativen Kraft (und wie viel politischer Wille) geht in die Suche nach alternativen Sicherheitskonzepten für die Schulen?

Und die Abschlussklassen? Der dritte Jahrgang geht stressbelastet in den Schlusslauf. Nach zwei Jahren Ausnahmezustand. Wie werden die Examen ablaufen? So wie es aussieht, so wie „immer“, weil Alternativen bisher nicht ausgearbeitet wurden. Wenn das noch zwei oder drei Jahre oder länger so weitergeht, dann muss man doch irgendwann mal anfangen, strukturelle Veränderungen vorzunehmen, die auf die erschütterten Rahmenbedingungen und strapazierten Jugendlichen eingehen. Aber es ist nichts in Sicht. Die Schule hält an den Traditionen fest. Die jungen Leute müssen ihren Weg selbst finden. Es ist weder Empathie noch pädagogisch wertvolle Unterstützung noch die konsequente Weiterentwicklung schulischer Strukturen und Prozesse zu entdecken. Alles bleibt im Prinzip, wie es ist, und wenn es gar nicht mehr geht, wird improvisiert. Wie lange noch? Wie wird sich das wohl auf die psychische Entwicklung der betroffenen Jahrgänge von Kindern und Jugendlichen auswirken? Welche Berufe werden sie wählen? Welche Studiengänge? Wie werden Berufsausbildung und Studium von statten gehen? Wie werden sie ihre Freunde, ihre Lebenspartner finden und ihr gemeinsames Leben gestalten?

Die ersten Studenten laufen auf ihre Bachelor-Prüfungen zu. Sie haben nicht einen Monat „normales“ Studentenleben erfahren. Ihnen fehlt die gesamte Persönlichkeitsentwicklung, die sich im turbulenten, menschenbestückten Universitätsalltag entfaltet. Ihnen fehlen die daraus entstehenden Netzwerke. Ihnen fehlen die Studenten- und Ferienjobs, die Praktika, die Projekte vor Ort, die Forschungserfahrungen, die Auslandserfahrungen. Die Studenten-Societies verkümmern; die bisherigen Gestalter beenden ihre Studienabschnitte und gehen fort; die Neuen wissen nicht, wie diese Societies funktionieren. Die Aktivitäten laufen aus. Wie wird sich das auf die zukünftige Gestaltung von Uni-Leben und Studieren auswirken? Wie kümmert man sich um die von Pandemie-Maßnahmen geplagten Studenten? Wer betreut sie, wenn sie allein und auf sich gestellt vor ihren Bildschirmen hocken und digitalen Vorlesungen folgen müssen? Wer kümmert sich um ihre emotionalen Zustände? Wer fängt sie auf? Wird irgend etwas im Prüfungsmodus angepasst? Gibt es eine allgemeine, natürliche Anteilnahme? Kinder und Jugendliche stehen seit zwei Jahren unter schwersten Belastungen, mit der Aussicht auf mindestens zwei weitere Jahre. Wir sind weit weg von irgendeiner Normalität. Die Folgen werden gravierend sein. Und wir tun so, als ginge das schon irgendwie von allein wieder weg und alles werde wieder so wie vorher.

Irgendjemand hat den schlimmen Namen geprägt: Generation Corona. Aber das kann’s ja nicht gewesen sein!

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