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Von Königsberg nach Limpertsberg und zurück
Eine Replik auf den wagemutigen Dr. Paul Rauchs
Mit Interesse habe ich den Beitrag „Osez !“ auf forum+ gelesen. Dr. Paul Rauchs beginnt seine Überlegungen mit Kant, dem großen Königsberger Philosophen und dem Leitspruch der Aufklärung: „Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Er appelliert mit glühendem Pathos an „Machtfrauen“ (sic!) und Politiker, den Mut aufzubringen, sich dem Rat der Expertengruppe bezüglich der Impfung zu widersetzen und eine allgemeine Impfpflicht einzuführen. Die Experten – „Staatsanwälte“ bei ihm – hätten ihre „Anklageschrift“ zu „soft“ formuliert, indem sie dem „gesunden Menschenverstand“ auf den Leim gehend für eine sektorielle und altersspezifische Impfung plädierten.
Der erste Abschnitt ist zu Ende, ich reibe mir verwundert die Augen und ringe bei so viel „Verstand“ um Verständnis: Ich denke unmutig, dass ich eigentlich ganz froh bin in einer rechtsstaatlichen Gesellschaft zu leben, in der Virologen keine Staatsanwälte sind und Politiker und „Machtfrauen“ (sic!) keine RichterInnen. Ich ahne, dass da wohl auch die Sprache mit einem durchgegangen ist und versuche, einen kühlen Kopf zu behalten.
Ich verstehe zwar die Überlegungen der Experten, teile sie aber nicht. Nicht weil ich prinzipiell gegen eine (allgemeine oder sektorielle) Impfplicht wäre, sondern weil ich sie in der aktuellen Situation für unverhältnismäßig, tendenziell diskriminierend (besonders: altersspezifisch) halte und daran zweifle, dass sie zielführend sein könnte.
An Paul Rauchs wortgewaltigem Gegenentwurf stört mich allerdings sowohl die Ausweglosigkeit als auch die verbale Aufrüstung: Alles andere als eine sanktionsbeladene allgemeine Impfpflicht sei „heuchlerisch“ und würde sich einer „unauthentischen“ (?!?) und „falschen“ Gesellschaft anbiedern. Diese Position vertrete nicht nur er, sondern die Mehrheit der ihm gleich wagemutigen Bürger. Ziel sei es, sich für den nächsten Winter individuell und sozial zu schützen, wobei „sozial“ meint: einer vor dem andern… Thomas Hobbes lässt grüßen. Die Linke hingegen gebe nun vor, herausgefunden zu haben, dass eine relevante Verbindung zwischen Einkommensverhältnissen und Impfbereitschaft existiere. Nur die allgemeine Impfpflicht, so Rauchs, könne die Einkommensschwachen schützen und wäre wahrer Egalitarismus. Ja, nur die universelle Impfpflicht könne dies leisten, aber leider, leider, leider läge das nicht in luxemburgischer Kompetenz.
Kurz bleibt mir wieder der Verstand stehen, und mir schießen spontan all die Dinge in den Kopf, die durchaus in nationaler Kompetenz lägen, um die Menschen sowohl in unserem Land als auch weltweit zu schützen. Aber ich wollte ja kühlen Kopf bewahren und fange deshalb beim Gemeinsamen an, selbst wenn es abgedroschen klingt: Das Ziel ist die Überwindung der sanitären Krise und der Schutz der Bevölkerung. Die Impfung hat sich dabei als unverzichtbares und sehr effizientes Mittel erwiesen: schwere Krankheitsverläufe können stark reduziert und somit eine Überlastung der Krankenhäuser vermieden werden. Je mehr Menschen also geimpft sind, desto näher kommen wir unserem Ziel. Aktuell sind rund 85 % der erwachsenen Bevölkerung geimpft mit einer sehr leicht steigenden Tendenz. Wenn man jene Personengruppen abrechnet, bei denen eine Impfung aus objektiven Gründen abzuraten ist, dann bleiben also knapp mehr als 10 % der erwachsenen Bevölkerung, die noch erreicht werden könnten und sollten.
Die Frage lautet also: Wie kann man das schaffen?
Der fundamentale Unterschied in der Beantwortung dieser Frage liegt in der Wahl der Mittel: Während Rauchs auf Repression setzt (sanktionierbare Pflicht), so setze ich auf Aufklärung. Mein bescheidener Wagemut besteht darin zu behaupten, dass dies erstens zielgerichteter (i) und zweitens nachhaltiger (ii) wäre. Darüber hinaus würde es einem der späten Aufklärung verdankten rechtsstaatlichem Prinzip entsprechen, nämlich dem der Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel (iii). Und letzten Endes plädiere ich für einen wirklichen Universalismus (iv), der sich dem globalisierten Nationalchauvinismus entgegensetzt.
(i) Wenn das Ziel darin besteht, jene 10 % der erwachsenen Bevölkerung zu erreichen, die bisher noch ungeimpft sind, dann muss man doch zuallererst fragen, ob dieser Personenkreis soziologisch relevant erfassbar ist. Und das ist er, sowohl sozio-ökonomisch als auch sozio-kulturell. Aus den Dokumenten der Regierung zur Impfpflicht-Debatte geht eindeutig hervor, dass die Impfbereitschaft sinkt, je geringer das verfügbare Einkommen ist. Bei den untersten Einkommenskategorien gibt es bis zu dreimal mehr Ungeimpfte als bei den höchsten. Ähnliches gilt für den sozio-kulturellen Hintergrund: Menschen haben soziologisch gesehen die Tendenz, das Impfverhalten in ihren Herkunftsländern oder ihren Communities zu kopieren. In einem multikulturellen Land wie Luxemburg sollte das doch nicht unbemerkt bleiben.
Diese beiden Faktoren (sozio-ökonomisch und sozio-kulturell) sind zentral, wenn man die Impfquote steigern wollte. Und ich wage mit aller nötigen Strenge zu behaupten, dass bisher kein nennenswerter Versuch unternommen wurde, diese Menschen spezifisch zu erreichen – weder während der Impfkampagne noch davor, als es in Ermangelung eines Impfstoffes galt, Menschen vor der Infektion zu schützen. Wurden bisher ernstzunehmende Anstrengungen der Regierung unternommen, um zivilgesellschaftliche Akteure zu unterstützen im Hinblick auf Community-Arbeit in Bezug auf Corona? Nein. Schlimmer noch: Sogar die gesetzlich dazu verpflichteten Institutionen – die Gemeinden – waren und sind bis heute komplett außen vor in der Pandemiebekämpfung. Dabei müssten doch gerade jetzt die Kommunen durch ihre Nähe zur lokalen Bevölkerung eine Schlüsselrolle in der Impfkampagne spielen, besonders hinsichtlich der erfassten Zielgruppen. Stattdessen scheint es vielen bequemer zu sein, feingeistige Diskussionen über Pflichten und Sanktionen zu führen.
(ii) Sanktionen liegt immer die Logik der Exklusion, des Ausschließens (durch Bestrafung) zu Grunde. Es gibt m. E. grundsätzlich durchaus Situationen, in denen Sanktionen angebracht und nötig sind. Aber wenn man objektiv feststellt, dass es unter den Ungeimpften einen bemerkenswert hohen Anteil an sozial marginalisierten Personen gibt, dann muss einen das doch zumindest zum Nachdenken bringen, weil es etwas über unsere Gesellschaft aussagt. Dann ist mir zumindest die (scheinbar so mutige) Forderung nach „Überwachen und Strafen“ hoch suspekt, weil es die bereits bestehenden (Klassen-)Spaltungen nur noch verstärkt – selbst wenn sie sich einen egalitären Schein gibt.
Der zielgerichtete Versuch, für den ich eintrete, jene Ungeimpften zu erreichen, wäre eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auf einem breiteren Verständnis von sozialen Zusammenhängen beruht, als der gegenseitige Schutz voreinander. Dabei wäre beileibe nicht alles neu zu erfinden, sondern meistens nur Bestehendes zu intensivieren: Institutionen und Organisationen gibt es, es gilt, ihnen die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Eine solche Vorgehensweise hätte darüber hinaus den Vorteil, dass sie gesellschaftlich nachhaltiger wäre und auf Inklusion setzen würde.
(iii) Die mittlerweile dominierende Virusvariante Omikron, mit der zurzeit über 30.000 Menschen in Luxemburg aktiv infiziert sind, scheint (dank der hohen Impfbeteiligung) weniger gesundheitsgefährdend zu sein als ihre Vorgängervarianten. Manche Wissenschaftler sprechen vom Übergang der Pandemie zur Endemie, und einige Länder wollen demnächst fast alle Beschränkungen aufheben. Experten sagen, dass selbst eine Impfverpflichtung für den verbleibenden kleinen Teil der bisher noch ungeimpften Bevölkerung bezüglich dieser Variante keinen Sinn mehr mache, sondern höchstens präventiv für neue, noch nicht existierende Varianten wichtig wäre. Auf dieser Grundlage eine allgemeine Impfpflicht mitsamt Sanktionskatalogen einzuführen scheint mir unverhältnismäßig und rechtsstaatlich fragwürdig. Selbst aus einer liberalen Perspektive müsste man sich doch fragen, welche Konsequenzen es für eine Gesellschaft hätte, wenn derart viele Ungeimpfte per Gesetz zu Outlaws würden.
(iv) Die mit Abstand größte Gefahr liegt in der Unfähigkeit, allen Menschen auf der Welt Zugang zu den Impfstoffen zu gewährleisten. Während wir uns in der westlichen Welt wie verrückt boostern (ich auch) oder gar über eine vierte Impfung spekulieren, wurden fast 40 % der Weltbevölkerung überhaupt noch nicht geimpft. Schwellenländer mit Produktionskapazitäten wie Indien oder Südafrika flehen seit Monaten kniend die Weltgemeinschaft an, die Patente zeitbefristet aufzuheben. Diese sind aktuell im Besitz von privaten Pharmakonzernen, deren Forschung über öffentliche Gelder finanziert wurde. Solange die zugelassenen Impfstoffe in der Hand einiger weniger Konzerne liegen, die nicht in der Lage und nicht willens sind für die gesamte Weltbevölkerung zu produzieren, werden das Virus und seine potenziellen Mutationen eine Gefahr bleiben. Wir wissen das alle. Aber den Mut, sich dieser Verstandeserkenntnis zu bedienen, hatte die Luxemburger Regierung nicht. Die von zwei Linken-Abgeordneten im Parlament eingebrachte Forderung, sich auf europäischer Ebene für eine Patentfreigabe einzusetzen, quittierte die Regierung mit der süffisanten Bemerkung: Dies sei nicht der opportune Moment – eine Sicht, die 58 von 60 Abgeordneten teilten. Leider.
Wir befinden uns im dritten Jahr der Pandemie und bei ganz vielen liegen die Nerven zusehends blank – auch bei mir. Doch wir dürfen nicht der Gefahr erliegen, scheinbar einfache, aber autoritäre Mittel einzusetzen, deren vermeintlicher Nutzen in keinem Verhältnis zu den möglichen gesellschaftlichen Schäden steht.
Immanuel Kants „sapere aude“ war ein Aufruf, sich seines Verstandes zu bedienen: gewissermaßen ein Hoch auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis. Allerdings herrschte auch in Kants Vorstellungswelt über dem Verstand noch die Vernunft als das umfassendere Erkenntnisvermögen, in dem es universelle Zusammenhänge und Werte erkennen soll.
Seien wir vernünftig!
Marc Baum ist Politiker (déi Lénk) und Schauspieler.
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