
(Jeff Mannes) Der Philosoph Norbert Campagna ist seit letztem Herbst, die Alarmglocke läutend, in zahlreichen Medien Luxemburgs unterwegs. So auch in der ersten forum-Ausgabe 2024. Geschlecht sei binär, das hätte die Wissenschaft bewiesen. Und weil er das sagt, würde er mundtot gemacht werden. Überhaupt sei die Meinungs- und Forschungsfreiheit in Gefahr, wer das N-Wort nicht ausschreibe, sei heuchlerisch, überall drohe Zensur, ein wahrgewordenes Orwell’sche 1984, und die sogenannte „woke cancel culture” aus „radikalen Aktivist*innen” lenke Institutionen wie die Uni Luxemburg und bedrohe unser aller Freiheit. Als sein ehemaliger Schüler und als Sozialwissenschaftler frage ich mich: Was ist mit Norbert Campagna los?
Bzw. was ist eigentlich passiert? Im September veröffentlichte Norbert Campagna einen Artikel im Luxemburger Wort, in dem er behauptete, in der Biologie sei es Fakt, dass es nur zwei Geschlechter gebe. Das ist jedoch wissenschaftlich falsch und ich werde noch erklären, warum. Daraufhin haben einige Personen seinen Artikel kritisiert und die Universität Luxemburg hat Campagna gebeten, in Zukunft klarzustellen, dass er in den Medien als Privatperson spricht und nicht im Namen der Universität, an der er unterrichtet.
Das war es auch schon. Norbert Campagna darf weiterhin alles sagen und behaupten, selbst wenn es nachweislich wissenschaftlich falsch ist. Er möge doch nur bitte klarstellen, dass er seine eigene Meinung und nicht zwangsläufig die der Universität widerspiegelt. Andere hätten das vielleicht mit etwas Verärgerung, möglicherweise aber auch einfach nur mit einem Schulterzucken akzeptiert. Doch nicht so Norbert Campagna. Als wäre er tief in seinem Ego verletzt, veröffentlicht er seitdem Artikel um Artikel, in denen seine drohenden Untergangsphantasien immer radikaler werden und er sich beschwert, er dürfe nicht mehr das sagen, was er denkt, nur um es dann doch überall zu sagen und zu veröffentlichen.
Zum Beispiel seine auch im forum-Artikel wiederholte Aussage, es gebe nur zwei biologische Geschlechter. Ich habe bereits in einem Artikel für das Mannschaft-Magazin ausführlich auf Norbert Campagnas wissenschaftlich falschen Aussagen zu Geschlecht reagiert und werde dies hier noch einmal zusammenfassen: In der Naturwissenschaft herrscht keine Einigkeit darüber, dass Geschlecht binär sei. Stattdessen gibt es zahlreiche Wissenschaftler*innen, die diese Binarität hinterfragen. Norbert Campagna bestreitet dies und verwendet dafür eine einzige wissenschaftliche Publikation.
Das Problem ist, dass ich für die Position, dass Geschlecht nicht binär ist, auch wissenschaftliche Publikationen zitieren kann. Eine auch für Laien verständliche und im Internet öffentlich zugängliche Publikation ist beispielsweise der Artikel «Sex Redefined: The Idea of 2 Sexes Is Overly Simplistic» der Genetikerin Claire Ainsworth im Magazin Scientific American.
Wie lässt sich das nun erklären? Wissenschaft ist mehr als nur eine einzige wissenschaftliche Publikation. Und wissenschaftliche Erkenntnis ist unabhängig von einzelnen Wissenschaftler*innen. Vielmehr muss man sich das gesamte Bild zur Geschlechterwissenschaft ansehen, um die Komplexität besser zu verstehen und sich der Wahrheit anzunähern. Dieses Bild verdeutlicht, dass die Definition des Geschlechts in verschiedenen Disziplinen variiert. Aus diesem Grund haben verschiedene Wissenschaften unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf die Erforschung des Geschlechts und seiner Bedeutung. Eine Genetikerin kann andere Ergebnisse erzielen als ein Hormonbiologe. Und in vielen Fällen sind ihre Definitionen zu Geschlecht nicht oder nicht streng binär.
So, wie ich das sehe, gibt es nur eine naturwissenschaftliche Disziplin, die noch verstärkt von einer Binärstruktur ausgeht (und wo es vielleicht auch Sinn macht). Und das ist nicht bei den Chromosomen, nicht bei den Hormonen, nicht bei den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, die alle Teil davon sind, was Geschlecht ausmacht, sondern bei der menschlichen Fortpflanzungsbiologie auf Basis der Keimzellen. Hier, und wirklich nur hier, macht es eventuell Sinn, von Binarität zu sprechen, weil man tatsächlich genau zwei unterschiedlich geschlechtliche Zellen braucht: ein Spermium und eine Eizelle. In allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen wenden sich viele immer mehr von einer strengen Binarität ab.
Aber ein großer Teil der Gesellschaft verbleibt bei dem, wie manche Fortpflanzungsbiolog*innen Geschlecht definieren. Das ist aber eine sehr verkürzte Definition von Geschlecht, die nicht auf alle anderen Aspekte des Geschlechts übertragen werden kann. Geschlecht auf Keimzellen zu reduzieren, macht vielleicht für die Fortpflanzungsbiologie Sinn, wird darüber hinaus aber nicht nur der höheren Komplexität des Geschlechts nicht gerecht, sondern ist auch gefährlich.
Denn wenn daraus sozialpolitische Schlussfolgerungen gezogen werden (und das macht Norbert Campagna), kann das sehr schnell zu ernsthaften Gefahren führen. Denn es reduziert die Funktion der Sexualität rein und allein auf die Fortpflanzung und negiert alle anderen Funktionen der Sexualität für den Menschen und andere Primaten: Intimität, Stressabbau, Konfliktregelung, Zusammenhalt, usw. Und dann neigt man dazu, alle Formen der Sexualität, die nicht auf Fortpflanzung abzielen, als „anormal“ oder „unnatürlich“ zu brandmarken. Und das kann wiederum zu Homo-, Sexual-, oder Hurenfeindlichkeit, usw. führen.
Der Grund, warum viele auch heute noch glauben, dass Geschlecht binär sei, hat auch mit den Nazis zu tun. In Berlin gebe ich Stadtführungen zur Sexualgeschichte. 1919 wurde hier die moderne Sexualwissenschaft und das weltweit erste sexualwissenschaftliche Institut gegründet, das Berlin zum Zentrum der weltweiten Forschung über Geschlecht und Sexualität katapultierte. Schnell kam man hier mit wissenschaftlichen Methoden zur Erkenntnis: Es gibt mehr als zwei Geschlechter.
Doch diese Wissenschaft war noch jung und in Berlin konzentriert. Als 1933 die Nazis die Macht übernahmen, zerstörten sie das ihnen verhasste und von Magnus Hirschfeld, einem schwulen Juden, geleitete Institut. Die Bücher und wissenschaftlichen Arbeiten, die sie aus dem Institut plünderten, verbrannten sie bei der berüchtigten Bücherverbrennung. Diese noch sehr zerbrechliche Wissenschaft wurde zerstört und viele akademische Werke unwiderruflich ausgetilgt. Die modernen Erkenntnisse zu Geschlecht konnten sich nicht verbreiten und die Forschung wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen. Das ist mit der Grund dafür, dass auch heute noch viele der Überzeugung sind, dass Geschlecht binär sei und dass sich die Wissenschaft hier auch einig wäre. Ich bin mir sehr sicher, dass die gesamte Welt, dass wir alle und auch Norbert Campagna heute ganz anders über Geschlecht nachdenken würden, wären die Nazis nie passiert.
Systeme gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie Sexismus, Rassismus, Behinderten- oder Queerfeindlichkeit, halten sich unter anderem über die Sozialisierung am Leben.
Ich weiß, dass es nicht die Absicht von Norbert Campagna ist, Sexual- oder Queerfeindlichkeit zu reproduzieren. Und dass er sich offiziell davon distanziert. Aber seine Ausführungen können dennoch diese Konsequenzen haben. In seinem forum-Artikel beschwert sich Norbert Campagna, dass das Centre pour l’Égalité de Traitement (CET) ihm „des propos qui pourraient laisser supposer une certaine homophobie” vorwerfe und verweist auf den Rechtsstaat bei Beschuldigungen. So als wäre Queerfeindlichkeit (sowie auch andere -feindlichkeiten und -ismen wie Rassismus oder Sexismus) nur eine Sache eines vermeintlich neutralen Rechtsstaats, der frei von diesen Problemen sei und deswegen als alleinige Instanz objektiv beurteilen könnte, ob etwas queerfeindlich sei oder nicht. Auch hier zeigt sich wieder das Missverständnis von Norbert Campagna von den Dingen, über die er spricht.
Systeme gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie Sexismus, Rassismus, Behinderten- oder Queerfeindlichkeit, halten sich unter anderem über die Sozialisierung am Leben. Wir alle sind mit diesen Ideologien aufgewachsen und verinnerlichen sie unbewusst über unsere Sozialisierung. Folglich können wir sie manchmal auch ungewollt durch verschiedene Aussagen oder Handlungen reproduzieren. Das macht uns nicht automatisch zu schlechten Menschen. Und natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einem Nazi, dessen ganzes Weltbild auf einer extremen Form von bewusstem Rassismus beruht, und einem Menschen aus der politischen Mitte, der „nur” unterschwelligere Formen von Rassismus unbewusst reproduziert. Aber eben weil diese Prozesse oft unbewusst wirken, würde auch ich als schwuler/queerer Mann niemals behaupten, nicht manchmal unbewusst queerfeindlich zu handeln. Und wenn mich jemand auf problematische Aussagen von mir aufmerksam macht, die Rassismus, Sexismus oder andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit reproduzieren, dann bin ich dafür dankbar, weil es mir die Möglichkeit gibt, meine eigene Sozialisierung zu reflektieren und gegebenenfalls meine Handlungen anzupassen.
Doch leider ist die Diskussion um diese Themen so sehr aufgeheizt, dass viele Menschen das eben nicht als Hinweis dankend annehmen, sondern gleich als Angriff auf sich und die eigene Identität werten und defensiv-trotzig reagieren. So leider auch Norbert Campagna, wenn er behauptet, vermeintliche „social justice warriors” würden jede weiße Person zum Rassisten erklären – statt, wie es korrekt lautet, dass ausnahmslos alle Menschen Rassismus durch die Sozialisierung verinnerlichen, übrigens auch BIPOC (Black, Indigenous and People of Color). Auch Frauen verinnerlichen unbewusst Sexismus und auch wir queeren Menschen verinnerlichen unbewusst Queerfeindlichkeit. Bei uns wandelt sich diese verinnerlichte Queerfeindlichkeit dann um in Selbsthass, der erst wieder mühsam durch den Coming-out-Prozess mitsamt der Sozialisierung schmerzlich verlernt werden muss.
Defensiv-trotzig wirkt es auch, wenn Norbert Campagna behauptet, dass er quasi aufgefordert würde, sich selbst zu zensieren und dies mit einer anscheinend in Luxemburg Fuß fassenden Cancel Culture in Verbindung bringt.
Und auch hier zeigt sich wieder ein mangelndes Verständnis gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Was viele als vermeintliche “Cancel Culture” beschreiben, ist nicht ein Problem, ausgelöst durch ein paar vermeintlich „radikale Aktivist*innen, die der ganzen Welt Sprechverbote auflegen wollen”. Sondern nichts anderes als die toxische Logik und die manipulativen Algorithmen „sozialer” Medien wie Facebook, Twitter (bzw. X), Instagram und TikTok. Ihr Geschäftsmodell basiert darauf, so viel Werbung wie möglich zu schalten. Und das kann nur funktionieren, wenn wir so viel Zeit wie möglich auf deren Plattformen verbringen. Und die Entscheidungszentralen dieser Firmen wissen, dass wir nur dann so viel Zeit auf ihren Plattformen verbringen, wenn wir mit so viel hoch-emotionalisiertem Content wie möglich konfrontiert werden. Und die beste Emotion dafür ist – oh Wunder – Wut! Vor allem politische Wut, weswegen ich als jemand, der in diesem Bereich arbeitet, Social Media als eine der größten Gefahren für unsere Demokratie ansehe und generell davon abrate, überhaupt ein Social Media Profil zu besitzen.
Der Fokus sozialer Medien, Wut online zu verstärken, um damit ihre Gewinne zu erhöhen, führt nicht nur dazu, dass hoch-emotionalisierte Inhalte gefördert werden, die keinen wissenschaftlichen Fakten gerecht werden und manipulativ sind. (Zum Beispiel hat eine mir nahestehende Person vor Kurzem wütend ein Bild geteilt, auf dem suggeriert wird, dass die „verrückten Gender-Aktivist*innen” nun auch wollen, dass wir Gebäck wie Berliner zu Berliner*innen umgendern, was natürlich Quatsch ist und nur dazu führt, dass leicht zu manipulierende Menschen das aufgebracht weiterteilen). Soziale Medien verstärken auch den Streit online. Und zwar so massiv mit manchmal abertausenden an Kommentaren, dass es uns regelrecht überfordert. Je polarisierter und extremer, desto besser für das Geschäftsmodell. Das ist nicht nur gefährlich für unsere Demokratie, sondern auch genau das, was viele als „Cancel Culture” beschreiben. Dabei wird hier gerade eben nicht „gecancelt”, sondern von den Algorithmen sozialer Medien zur Gewinnmaximierung gefördert. Also das genaue Gegenteil.
Aber genau weil online alles so manipulativ polarisiert wird, glauben viele, dass ihnen gegenüber ein wütender Mob steht, der ihnen das Sprechen verbieten will. (Wobei viele aus diesem Mob oftmals Bots der digitalen Kriegsführung sind, also nicht einmal reale Menschen.) Übrigens nicht nur von linker Seite, sondern auch von rechter, ja von allen Seiten. Es wird von rechter Seite nur so getan, als käme „Cancel Culture” nur von links.
Was wir also als „Cancel Culture” beschreiben, ist in Wahrheit eine bewusste, Menschen manipulierende, Demokratie zerstörende Polarisierung der Gesellschaft durch Wut erzeugende Inhalte, die wegen der finanziellen Gier von Big Tech in Wahrheit nicht gecancelt, sondern bestärkt werden.
Als meinen Lehrer hatte ich Norbert Campagna als empathischen Menschen in Erinnerung, weswegen ich umso überraschter bin, dass er den Eindruck erweckt, er stehe hier so wenig mit seiner Empathie in Kontakt.
Doch das scheint Norbert Campagna nicht zu verstehen. Und setzt dann noch einen obendrauf, indem er das N-Wort ausschreibt und all jenen, die das nicht tun, Heuchlerei vorwirft, weil wir alle es doch in unseren Köpfen still aussprechen würden. Erstens stimmt das nicht, ich und viele andere lesen „N-Wort” ohne es im Kopf auszusprechen. Und zweitens ist dies ein Beispiel für die Empathie, die ich bei Norbert Campagna leider vermisse.
Wir beide sind weiße Menschen. Wenn Schwarze Menschen mir erklären, dass hinter dem N-Wort nicht einfach nur ein Wort steht, sondern eine Jahrhunderte lange Geschichte an Sklaverei, Massenmord, Gewalt und Folter, und insbesondere an inter- und transgenerationalem Trauma (also erlebte Traumata, die unbewusst von Generation an Generation weitergegeben werden und sich negativ auf die Gesundheit auswirken können), und dass diese Gesundheit gefährdenden Traumata durch das N-Wort getriggert werden können, dann ist es doch ein einfaches Gebot der Empathie, diesem relativ simplen Wunsch nachzukommen, und das N-Wort nicht auszusprechen. Und in Texten am besten gar nicht, zumindest nicht ohne vorherige Trigger-Warnung, auszuschreiben. Warum leugnet Norbert Campagna das und betitelt es zynisch als Heuchlerei, das Wort nicht auszuschreiben? Als meinen Lehrer hatte ich Norbert Campagna als empathischen Menschen in Erinnerung, weswegen ich umso überraschter bin, dass er den Eindruck erweckt, er stehe hier so wenig mit seiner Empathie in Kontakt.
Norbert Campagna wird nicht zensiert. Er wurde lediglich aufgefordert, klarzustellen, dass er als Privatperson spricht. Das allein nimmt er schon als Zensur wahr und setzt es am Ende seines forum-Artikels mit rassistischer Hassrede gleich, wenn er schreibt: „Die Zensur des rationalen Diskurses ist ebenso ein Verstoß gegen die Menschenwürde wie die rassistische Hassrede.” Die Fragilität des Norbert Campagna ist ein Schlag ins Gesicht nicht nur jedes Opfers von oft gewaltvollen Formen von Rassismus, sondern jedes Opfers gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wenn man so wie Norbert Campagna behauptet, im Namen der Wissenschaft zu sprechen, dann hat man eine Verantwortung, wenn es um die Realität des Lebens echter Menschen geht. Diese Verantwortung vermisse ich in letzter Zeit bei ihm immer mehr.
Jeff Mannes ist ausgebildeter Sozialwissenschaftler mit Fokus u. a. auf Sexualität und Geschlecht, sowie Wissenssoziologie, die sich mit der wissenschaftlichen Produktion von Wissen beschäftigt. Außerdem ist er zertifizierter Sexualpädagoge, Stadtführer zur Berliner Sexualgeschichte, Mitglied der LGBTQIA+ Community und arbeitet in Berlin für die Deutsche Aidshilfe.
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