Leserbrief – Einige kritische Bemerkungen zum Dossier „Selbstbestimmtes Sterben“ (forum 357)

Von Hubert Hausemer.

Dieses im Grossen Ganzen instruktive und durchaus lesenswerte Dossier zeugt trotz seiner Qualitäten von der grossen Verwirrung, die nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei einigen Autoren des Dossiers, in Bezug auf Begriffe wie Würde, Autonomie, Selbstbestimmung und freier Wille herrscht. Wie lässt sich sonst erklären, dass ausgewiesene Befürworter und Kenner der palliativen Pflege, wie Henri Grün und Luciane Pauly, in ihrem Beitrag schreiben können: „[Der Todeswunsch] kann bei schwerer Krankheit und schwerem Leiden freiverantwortlich sein und (…) meistens auf Würdeverlust, Kontrollbedürfnis und Zukuntsangst [beruhen]“ (S. 26. Hervorgehoben von H.H.). Wie freiverantwortlich und selbstbestimmt ist jemand noch, der schwer krank ist und schwer leidet? Aber vor allem: Kann ein Mensch seiner Würde überhaupt verlustig werden?

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die kurze aber ausgezeichnete Bundestagsrede von Elisabeth Scharfenberg (MdB Bündnis 90 / Die Grünen) verweisen, die sie am 6.11.2015 anlässlich der Diskussion über Suizidassistenz gehalten hat [i]. Sie schreibt : „In unseren Diskussionen und Reden ist viel von Selbstbestimmung die Rede. Selbstbestimmung ist aber keine Einbahnstrasse. Selbstbestimmung braucht Bedingungen, unter denen eine freie Entscheidung möglich ist“ ( Hervorgehoben von H.H.). Selbstbestimmung ist also nicht eine immer gegebene und immer und unter allen Umständen vorfindbare Eigenschaft. Und zum Thema ‚Würdeverlust‘ liest man bei Scharfenberg : »In der aktuellen Debatte wird häufig das Gefühl vermittelt, dass Alter, Schwäche, Demenz oder Pflegebedürftigkeit Zustände sind, die einem Menschen die Würde nehmen. Das möchte ich klar zurückweisen. Es gibt kein würdeloses Leben, auch nicht in der Demenz. Wir machen es nur würdelos [ii], wenn wir den Menschen nicht verstehen, wenn wir den Menschen degradieren, wenn wir über ihn reden anstatt mit ihm. Es ist nicht würdelos, auf Hilfe angewiesen zu sein. Es ist nicht würdelos, sich von andern Menschen pflegen zu lassen. »

Dieselbe völlig abstrakte, kontextlose Auffassung von Selbstbestimmung oder freiem Willen, die sich in unserm Euthanasiegesetz befindet, wird von Dr Carlo Bock bedenkenlos aufgegriffen, wenn er in seinem Beitrag schreibt : „Le changement de paradigme a placé, au niveau juridique, la volonté du patient dûment informée au centre de sa décision quant à la fin de sa vie“ (S. 29) [iii]. Einmal abgesehen davon, dass dieses Gesetz keinesfalls den Patienten und seinen Willen ins Zentrum setzt, sondern, wie aus dem Artikel 2.1. hervorgeht, die Straffreiheit der Ärzte [iv], stellt sich wiederum die Frage, wie frei und selbstverantwortlich ein Patient sich entscheidet, der, wie es im Euthanasiegesetz heisst : „se trouve dans une situation médicale sans issue et fait état d’une souffrance physique ou psychique constante et insupportable sans perspective d’amélioration“ (Art. 2.1.3 Hervorgehoben von H.H.).

Diese illusorische Auffassung vom angeblich freien Willen des schwer leidenden Sterbenskranken findet sich massiv bei Nora Schleich, deren Beitrag eine Apologie des Suizids vorträgt. Sie schreibt, im Mittelpunkt ihres Artikels stehe die „selbständig und vernünftig durchdachte Entscheidung eines mit klarem Geiste abwägenden Menschen“ (S. 46. Hervorgehoben von H.H.). Der „klare Kopf“ kommt übrigens etwas später noch einmal vor, im Zusammenhang mit dem Fall „einer unheilbaren Krankheit, die mit chronischen Schmerzen und eines mit höchster Wahrscheinlichkeit abzusehenden, rapide drohenden körperlichen Verfalls einhergeht (…) Der weitere Lebensverlauf verspricht Qual und Pein in einer Form, in welcher Optimismus geradezu an Wahnsinn grenzen könnte“ (S. 46).

Wie in diesem Fall der betreffenden Person noch ein „klarer Kopf “ und ein echter „Freitod“ zugeschrieben werden können, ist mir unerfindlich. Die von der Autorin selbst genannte Einschränkung auf den rational entschiedenen Suizid führt logischerweise dazu, dass sie de facto bestenfalls von 10% der Suizide und Suizidversuche spricht. Das aber ist fatal für die restlichen 90%, so wenn die Autorin nämlich nur in der „autonomen Entscheidung für den Freitod“ die „endgültige Möglichkeit“ sieht, „sich noch würdevoll und mit dem grössten Respekt für das eigene Dasein aus dem irdischen Hier verabschieden zu können“ (S. 46). Diesen 90% der Suizidanten und Suizidwilligen bleibt demnach nur „Degeneration und Zerfall“, also Nora Schleich zufolge nur Würdelosigkeit.

Die Möglichkeit des Würdeverlustes wird auch im letzten Satz ihres Artikels noch einmal dokumentiert, allerdings auf eine etwas konfuse Weise. Sie stellt die Frage, „inwieweit in diesem Kontext die Würde eines Menschen, als vernünftigem und autonomem Wesen, bestmöglich garantiert und respektiert werden kann“ (S. 46 Hervorgehoben von H.H.). Respektiert werden kann wohl nur eine noch weiter bestehende Würde, garantiert dagegen wird eine Würde, welche ohne diese Garantie verloren gehen würde.

Es ist nun hier nicht der Ort, eine ausführliche Klärung der in diesem Dossier arg malträtierten Begriffe vorzustellen. Einige wenige Bemerkungen müssen genügen. Der Grundbegriff, der zum Tragen kommt, wenn immer es um fundamentale menschliche Angelegenheiten geht, ist der der Würde. Allerdings ist dieser Begriff weder in der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 noch in irgendeiner darauf aufbauenden Länderverfassung definiert [v].

Was soll man aber nun unter ‚Würde‘ verstehen? Soll es heissen, dass jeder einzelne „befugt [ist], darüber zu befinden, was seine Würde ausmacht?“ (…) „Die Selbstbestimmung ist es [dann], die den Kern der Menschenwürde ausmacht!“ (de Ridder S.34). Sind Würde und Selbstbestimmung also gleichbedeutend, oder steht die Selbstbestimmung gar, wie de Ridder es andeutet, noch über der Würde? Selbstbestimmung ist nun aber, wie de Ridder richtig sieht, eine subjektive, individuelle Fähigkeit; damit ist jedoch auch gesagt, dass sie variabel sein und letztlich sogar völlig verloren gehen kann. Damit aber wäre dann auch die Würde abstufbar und ginge eventuell sogar mitsamt dem ihr gebotenen Respekt verloren. Würde mit Sebstbestimmung gleichzusetzen führt demnach zu einem Desaster für den Menschen.

Die Ausübung von Selbstbestimmung ist sehr wohl ein Recht, das aber wie alle individuellen Rechte an Grenzen gebunden ist, und dessen man verlustig gehen kann. Weil aber die Würde eben nicht mit ihr identisch ist und unverändert bestehen bleibt, nur deshalb haben Menschen, die wenig oder gar nicht mehr selbstbestimmt sind, wie z.B. Geisteskranke, Demente, Komatöse, immer noch Anspruch auf den Respekt dieser ihrer Würde und der mit ihr verbundenen Rechte, und sie müssen dementsprechend menschenwürdig behandelt werden. Wie sollte z.B. bei Verlust der Selbstbestimmung eine Patientenverfügung, um nicht das Beispiel des klassischen Testaments zu bemühen, noch irgend eine Geltung haben, wenn mit der Selbstbestimmung auch die Würde verloren wäre ?

Wie aber soll überhaupt umgegangen werden mit einer so fundamentalen und doch zugleich inhaltlich undefinierten Würde ? Wie sind dazu die Begriffe der Autonomie und nicht zuletzt der Person in dieses Begriffsgeflecht sinnvoll einzufügen und zu vermitteln ? Das alles eingehend darzustellen bräuchte allerdings einen eigenen Artikel.

[i]      Im Internet auffindbar unter ihrem Namen

[ii]   Hier müsste es, der eigenen Logik dieser Rede zufolge, eigentlich heissen : Wir geben dem Menschen den Eindruck oder das Gefühl seiner Würdelosigkeit, wenn…

[iii]    Siehe dazu auch, in demselben Sinne, die Rede von dem « frei verantwortlichen Willen des Patienten » bei Michael de Ridder S.33

[iv]   «N’est pas sanctionné pénalement et ne peut donner lieu à une action civile en dommages et intérêts le fait par un médecin de répondre à une demande d’euthanasie ou d’assistance au suicide, si les conditions de fond suivantes sont remplies… » (Hervorgehoben von H.H.)

[v]   Entgegen der Behauptung von de Ridder (S. 34) ist in der Verfassung der BRD nicht der Begriff der Selbstbestimmung nicht definiert, sondern der der Würde.

(Bild: CC BY-ND 2.0 Adrian Clark)

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