Damned to fame?

2022 soll also eine luxemburgische Stadt „Kulturhauptstadt Europas“ werden. Während derartige Kandidaturen in anderen – ebenfalls kleinen – Ländern als einmalige Möglichkeit betrachtet werden, Städte und ganze Regionen auf Vordermann zu bringen, hat man in Luxemburg den Eindruck, dass sich die Begeisterung nach der doppelten Erfahrung von 1995 und 2007 in sehr überschaubaren Grenzen hält. Mit einem lapidaren Rundschreiben kündigte das Kulturministerium Ende Juli 2015 an, dass sich luxemburgische Städte und Gemeinden bewerben können und zehn Monate Zeit haben, um ihr Bewerbungsdossier einzureichen. Seitdem läuft der Countdown.

Es kommt einem so vor, als sei Luxemburg-Stadt des Ganzen bereits überdrüssig und auch die Presse zeigt wenig Interesse an den Möglichkeiten einer luxemburgischen Bewerbung für 2022. Ja, man könnte fast annehmen, dass die Nation derart durchge-branded worden ist, dass ihr der Wille fehlt, eine ernsthafte Diskussion über die kulturelle Entwicklung des Landes zu führen.

Deshalb scheint es auch nur konsequent, dass der neue Staatssekretär im Kulturministerium als erste öffentliche Amtshandlung ankündigte, die für Februar vorgesehenen „assises culturelles“ erst mal um ein halbes Jahr zu verschieben.

Dieses Treffen der Kulturschaffenden sollte eigentlich eine erste groß angelegte Diskussion um einen „Kulturentwicklungsplan“ für Luxemburg zum Gegenstand haben, also eine Art ‚Road Map‘ für die kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten des Landes. Die „Kulturhauptstadt“ scheint in diesen Überlegungen keine Rolle zu spielen, denn die Bewerberstadt Esch muss ihre Bewerbung bis Ende Mai (also mehrere Wochen vor der ersten Zusammenkunft der Kulturschaffenden) abgeliefert haben. Diese Bewerbung, die an eine internationale Jury zur Bewertung weitergeleitet wird,  sollte allerdings, wenn nicht einen fertigen Kulturentwicklungsplan, so doch zumindest strategische Zielsetzungen und einen Fahrplan ihrer Ausarbeitung beinhalten: also genau das, was erst Wochen danach landesweit zum ersten Mal überhaupt andiskutiert werden soll.

Selbst in der spärlichen öffentlichen Debatte scheint kein Zusammenhang zwischen „Kulturhauptstadt 2022“ und nationalem Kulturentwicklungsplan hergestellt zu werden. Dies ist ebenso erstaunlich wie befremdlich, da die Entwicklungsschübe in der luxemburgischen Kulturlandschaft sehr oft an den Eckdaten 1995 und 2007 festgemacht werden. Das öffentliche Desinteresse kontrastiert mit den ungeheuren Möglichkeiten, die in der Ausarbeitung und Umsetzung des Konzepts „Kulturhauptstadt“ (siehe Artikel von Robert Garcia, S.44) bestehen.

Aus der Vergangenheit lernen

„1995“ gilt allgemein als großer Erfolg, da in den Folgejahren einige wichtige kulturelle Institutionen entstanden, die wiederum spürbare Dynamiken über die Grenzen der Institutionen hinaus entwickeln konnten. Bei „2007“ sind die Gefühle schon gemischter: Die Professionalisierung des Kulturbetriebs wurde zwar vorangetrieben, allerdings wurden teils angekündigte Institutionen nicht geschaffen.

Vor allem muss man aber das Ziel, einer ganzen (Groß)Region (mit Luxemburg als Kern) eine kulturelle Identität zu verleihen, oder zumindest diesen Prozess wesentlich voranzutreiben, als gescheiterte politische Kopfgeburt betrachten.

Vielleicht hängt ein Teil des Unbehagens aktueller Kulturpolitik mit dieser Erfahrung des Scheiterns zusammen und des Unwillens, daraus zu lernen: Das Konzept „Großregion“ wurde nicht von den Menschen in den betroffenen Regionen getragen. Ein Verständnis für eben diese Gegebenheit zu entwickeln, könnte nicht nur der Bewerberstadt Esch helfen, sondern auch ein möglicher Schlüssel zu der Ausarbeitung eines nationalen kulturpolitischen Leitfadens sein, der langfristige Zielsetzungen hat und gesellschaftlich getragen wird.

Eine sinnvolle aber problematische Bewerbung

Esch ist die  zweitgrößte Stadt des Landes und gilt als historisch gewachsenes administratives sowie kulturelles Zentrum (großspurig: Metropole) einer Region (Minette). Diese besitzt, obwohl sie nicht klar abgegrenzt ist, dennoch durch den Eisenerzabbau und die Stahlindustrie eine gemeinsame Geschichte und zeichnet sich durch eine vergleichbare sozio-ökonomische Zusammensetzung der Bevölkerung (immer noch hoher Anteil an Arbeitern)  aus und wird gemeinhin auch so beschrieben („Minettsdapp“). Wir haben es also mit einer Region zu tun, die durch den Abbau der Stahlindustrie seit Jahrzehnten einen teils unkoordinierten Strukturwandel durchlebt, der noch weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein. Obwohl jedes dieser Attribute hinterfragt werden kann, so stechen doch Gemeinsamkeiten der Südgemeinden ins Auge und lassen eine Bewerbung sinnvoll erscheinen.

Probleme gibt es allerdings bei der Bewerbung zu Hauf: Zeitdruck, fehlendes Engagement  des Ministeriums und mangelnde Kooperation unter den Südgemeinden. Das Gemeindesyndikat Pro-Sud konnte der Rolle einer Koordinierungsstelle unter den Südgemeinden noch nie gerecht werden und in vielen Bereichen machen sich die einzelnen Gemeinden untereinander sinnlos Konkurrenz. Aber auch in der Bevölkerung nimmt die Identifikation mit der Region ab, da es keine gemeinsame Entwicklungsperspektive gibt.

Die Vorrausetzungen für eine mögliche Bewerbung sind also alles andere als rosig. Aber gerade deswegen wäre es umso wichtiger, einen Ansatz zu wählen, der die aktive Beteiligung der Kulturschaffenden und der Bevölkerung in den Fokus stellt.

Hierfür gibt es gleich mehrere Gründe:Es ist angesichts des Zeitdrucks, der fehlenden Koordination und unterschiedlicher Interessenlagen schlichtweg unmöglich, ein übergreifendes Konzept zu entwickeln, das nicht völlig artifiziell und abgehoben wirken würde. Wichtig ist aber für die Jury der europäischen Kommission bei der ersten Vorauswahl, dass es sich um ein Projekt handelt, das über politische Grenzen (und politische Wechsel nach Wahlen) hinweg tragfähig ist und die Unterstützung der Bevölkerung hat. Nun, bisher wurde noch nicht einmal in einem Gemeinderat einer der betroffenen Städte über den Titel der Kulturhauptstadt diskutiert – ja, nicht einmal über die Opportunität, sich überhaupt zu bewerben… Deshalb ist es in der jetzigen Situation schlichtweg unabdingbar einen Bottom-up-Prozess zum zentralen Element der Bewerbung zu machen.

Des Weiteren bestehen zwar weder auf nationaler noch auf regionaler oder gar  auf lokaler Ebene ernsthafte Ansätze für einen Kulturentwicklungsplan, jedoch gibt es bestehende Institutionen und Akteure im Süden. Auch wenn es zurzeit sowohl im Kulturministerium als auch in den Gemeinden an kulturpolitischen Visionen und entsprechender Vorstellungskraft fehlt, so sind doch nicht wenige Menschen seit Jahren im Kulturbereich aktiv und kämpfen um jeden noch so kleinen Fortschritt. Der Süden ist kein kulturelles Wasteland, in dem man ein UFO landen lassen kann. Soll die Bewerbung nicht zum Desaster werden, so muss es ein Projekt sein, das auf die Beteiligung dieser unterschiedlichen Akteure setzt.

Außerdem hat sich das Konzept der Kulturhauptstadt im Laufe der Jahre verändert: Kultur soll nicht nur Selbstzweck sein, sondern Triebfeder für eine gesellschaftliche Entwicklung, die andere Bereiche umschließt: Urbanismus, Stadt-/Regionalentwicklung, das Image der Stadt/Region, das Selbstverständnis seiner Bürger, soziale Inklusion, wirtschaftliche Entwicklung, Bildungschancen usw. Allein deshalb ist es unumgänglich, ab der ersten Entwicklungsphase, alle „forces vives“ einer Gesellschaft an einer gemeinsamen Vision zu beteiligen. Die Kulturhauptstadt geht also nicht nur Kulturinteressierte etwas an, sondern betrifft weite Teile des gesellschaftlichen Lebens.

Diese Vorgehensweise hätte den entscheidenden Vorteil, dass sich durch eine frühe Einbeziehung vieler Bürger mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten eine gesellschaftliche Dynamik auslösen ließe. Eine solche Dynamik wäre wichtig, um die Bevölkerung für das Projekt „Kulturhauptstadt“ zu begeistern und mobilisieren zu können. Und es bestünde die Möglichkeit, dass Menschen sich mit der Zukunft ihrer Stadt und ihrer Region auseinandersetzen und identifizieren könnten, weil sie selbst aktiver Gestalter eines Prozesses werden, der ihr Lebensumfeld betrifft.

2008, im Manifeste pour un Pacte culturel, stellte Forum Culture(s) fest, dass nur ein geringer Teil der Bevölkerung das bestehende Kulturangebot wahrnimmt.1 In der Tat fühlen sich viele Menschen von verschiedenen Kulturformen nicht angesprochen. Gerade sie gilt es jedoch mit ins Boot zu nehmen.

Bottom-Up

Wie kann es gelingen, die nun benannte, notwendige Partizipation in die Praxis umzusetzen? Am Anfang steht die Fragestellung, d.h. der Horizont dessen, worum es geht. Im Rahmen dieser Idee stellt 2022 nicht das Ziel, sondern das Mittel, also eine  Etappe in einem Prozess dar, der der Entwicklung gemeinsamer Perspektiven für die Zukunft – sagen wir das Jahr 2030 – dient. Die Kultur kann hier als Hebel wirken, der viele gesellschaftliche Bereiche umfasst. Es gilt also die Zukunft einer Region in unterschiedlichen Facetten zu skizzieren und aus diesen Vorstellungen heraus, gemeinsame Prioritäten abzuleiten.
Parallel dazu bedarf es einer Analyse von Stärken und Schwächen der Entwicklung von kulturellen Initiativen, eine Art Weißbuch der Kultur im Süden. Hier gab es in den vergangenen Jahren wesentliche Veränderungen und Verschiebungen, die es zu benennen und zu ergründen gilt. In Esch wurden bereits mehrmals „assises“ (sociales, culturelles, de l’intégration, usw.) organisiert. Die Erfahrung lehrt, dass der Erfolg solcher zivilgesellschaftlicher Zusammenkünfte mit der Ernsthaftigkeit zusammenhängt, mit der diese Unternehmungen betrieben wurden. Sollten die folgenden „assises“ nur schmückendes Beiwerk sein, also als Alibi für einen eigentlichen partizipatorischen Prozess fungieren, so sind auch sie zum Scheitern verurteilt. Es geht bei diesem Prozess auch nicht um die „Sensibilisierung“ von Bürgern, sondern um das Erarbeiten von Zukunftsoptionen und die Mobilisierung des kreativen Potenzials einer ganzen Region.

Die Bedingungen sind wie gezeigt, alles andere als günstig. Gerade deswegen bedarf es des politischen Willens, ein ehrgeiziges gesellschaftliches Projekt auf die Beine zu stellen, in dem sich Menschen wiederfinden und zu Botschaftern einer gemeinsamen Idee werden.

Man sollte allerdings nicht unterschätzen, dass die Auseinandersetzung um die kulturelle Entwicklung in Esch auch stets eine kämpferische war: von der Besetzung des alten Schlachthauses in den 1980er Jahren bis hin zur Initiative gegen das Heller-Projekt.2 Besonders letztere Erfahrung sollte den Entscheidungsträgern zu denken geben, da sich Menschen erfolgreich wehren können gegen Projekte, in denen sie sich nicht wiederfinden und die ihnen top-down aufgesetzt wurden.

 

1 Siehe: forum Nr.280 und forumcultures.lu.

2 Hier entfachten nicht besorgte, sondern engagierte Bürger eine leidenschaftliche Debatte um die millionenteure Ausgestaltung eines zentralen Platzes in Esch. Es ging um Kultur, Urbanismus und Mitbestimmung. Siehe: Interview Jhemp Hoscheit: Es wurde eine Grenze überschritten. In: woxx – déi aner wochenzeitung, nr. 886, 27.01.2007.

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