- Geschichte, Gesellschaft, Kultur
Kurator mit Künstlerkern
Edward Steichen am MoMA
In seinem Geburtsland ist Edward Steichen mit der Vielfalt seines Werkes reich vertreten. Dies gilt sowohl für öffentliche als auch für private Sammlungen: Das MNHA zeigt und konserviert eine Kollektion, die seine gesamte Schaffensspanne als Fotograf umfasst, während die Banque et caisse d’épargne de l’État in der Galerie „am Tunnel“ vor allem seine Porträt- und Modefotografie präsentiert. Weitere Werke sind in den Sammlungen der Photothèque der Stadt Luxemburg oder auch der Galerie
Clairefontaine zu finden. Der Künstler Steichen ist hierzulande überwiegend als Fotograf bekannt, doch die Bandbreite seines Schaffens im Bereich der Bildkünste reicht wesentlich weiter: Über Lithografie, Malerei und Fotografie bis hin zum Film hat er mit Vielem experimentiert und die Grenzen der einzelnen Medien ausgelotet.
In diesem Artikel möchte ich eine weitere Facette seines fotografischen Schaffens näher beleuchten. Nämlich einen wichtigen Perspektivwechsel in seiner beruflichen Karriere: Steichen ist nun nicht mehr länger hinter dem Objektiv tätig, sondern schafft als Kurator eine neue Sicht auf die Fotografie in seiner Position als Direktor der fotografischen Abteilung des Museum of Modern Art (MOMA) in New York. Von diesem letzten und vor allem weniger bekannten Abschnitt seiner Karriere zeugen zwei permanente Sammlungen in Luxemburg, die sich in der Obhut des Centre national de l’audiovisuel (CNA) befinden und die in diesem sowie in einem Artikel in der folgenden Ausgabe näher vorgestellt werden: „The Family of Man“ und „The Bitter Years“, die Steichen 1955 und 1962 realisierte.
Steichen durchbricht und versetzt Genregrenzen
Nachdem Edward Steichen im 2. Weltkrieg als Fotograf bei der Marine gewesen ist, tritt er 1947 die Position in der Fotoabteilung MoMA an. Vor seinem offiziellen Amtsantritt realisiert er dort bereits zwei große thematische Ausstellungen zum Thema Krieg: „Road to Victory“ im Jahr 1942 und „Power in the Pacific“ 1945. Beide weisen in ihrer szenografischen Darstellung schon auf sein großes Werk „The Family of Man“ hin. Steichens Übernahme im Museum wird damals in Kunstkreisen kontrovers diskutiert und deutet auf einen Umschwung in der Programm-orientierung hin: Die Fotografie wurde unter seinen Vorgängern Beaumont und Nancy Newhall als kreativer Ausdruck und einzigartiges Kunstwerk, welches in einer gewissen Tradition steht, gehandelt und behandelt. Diese lässt einen damals noch bestehenden Legitimationsdruck der Fotografie im Museumskontext durchblicken. Steichen hingegen weitet die Grenzen der musealen Definition der Fotografie aus, indem er z.B. die Reportage- und journalistische Fotografie in seine Ausstellung einbindet und eine kommerziellere Ausrichtung des Departements zulässt. Er kuratiert während seiner Amtszeit im MoMA (1947-1962) mehr als 40 Ausstellungen, wobei er den Schwerpunkt auf Gruppenpräsentationen legt.
Mit „Family of Man“ erreicht seine Karriere 1955, zum Anlass des 25. Geburtstags des MoMA, ihren Höhepunkt. Die Ausstellung stellt die Verdichtung seiner Ideen zum Medium Fotografie dar, über das er rückblickend sagt: „When I first became interested in photography, I thought it was the whole cheese. My idea was to have it recognized as one of the fine arts. Today I don’t give a hoot in hell about that. The mission of photography is to explain man to man and each man to himself. And that’s no mean function.“1
Visuelle Dialoge schaffen
Steichens Vorstellung von Fotografie, ihrer Macht und ihrem Nutzen sind zu diesem Zeitpunkt in seiner Karriere bereits der Kommunikation gewidmet: Ein Bild findet den Weg in seine Ausstellungen nicht (allein) seiner Ästhetik wegen, sondern aufgrund seiner potentiellen Aussage. Und doch kann man behaupten, dass er als Kurator nie das Gewand des Fotografen ablegt: Er wahrt den künstlerischen Anspruch, für seine Person sowie für seine Ausstellungen. Dies äußert sich unter anderem in den Freiheiten, die er sich als Fotograf/Kurator für die Gestaltung der Ausstellungen nimmt: In der Präsentation der Fotografien werden Kontraste oder Bildausschnitte verändert und die Größe wird bei der Zusammenstellung der Vision oder Geschichte Steichens angepasst. Des Weiteren nutzt er ganz bewusst die Fähigkeit des Mediums zur Reproduktion, die Steichen nicht auf den „Fine Art Print“ begrenzt, wie man bei der Vervielfältigung und weltweiten Verbreitung der „Family of Man“ beobachten kann. Hier agiert nicht der Konservator, sondern die geballte Erfahrung Steichens in der (mitunter kommerziellen) Kunst, Kommunikation und den Bildmagazinen. Im Mittelpunkt steht die/seine erzählte/dargestellte Geschichte, in der die Formbarkeit der Fotografie neue Zusammenhänge zwischen den Bildern zulässt, die ohne ihre Bildunterschrift präsentiert werden. Ebenso liegt der Fokus auf dem Moment, in dem der Besucher mit der Fotografie konfrontiert wird. Denn dieser wird sorgfältig orchestriert, geplant und in Szene gesetzt, sodass die Emotionen den Intellekt überwältigen.
Die Inszenierung der Fotografien weicht von der Tradition der Ausstellungsgeschichte, also einer klassischen Aufreihung gerahmter Bilder ab, in der jedes Werk für sich spricht und innerhalb der Kunstgeschichte interpretiert werden kann. Bei Steichen treten die Bilder untereinander in neuer Form in Dialog: Das Bild wird von der Wand gelöst und findet sich wie bei der „Family of Man“ an der Decke oder in einer fast skulpturalen Installation in der Mitte des Raumes wieder. Dies kann man beim zentralen Thema der Familienbilder der Ausstellung beobachten: Von der Decke hängend in verschiedenen Winkeln, sind die Bilder nicht alle frontal zu betrachten, sondern der Besucher muss sich – wie bei einer Skulptur – rundherum bewegen, um alle Fotos und ihre Bezüge in ihrer Vollständigkeit zu erfassen. Die räumliche Disposition der Bilder fordert vom Besucher eine Implikation – sowohl körperlich als auch geistig. Diese neue Art der visuellen Inszenierung erprobt Steichen zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit Herbert Bayer anlässlich der bereits erwähnten Kriegsausstellungen. Steichen entwickelt dies zu einem „Rezept“ und setzt es medien- und massenwirksam in seinen thematischen Gruppenausstellungen, sowie auch in „The Family of Man“ und später in „The Bitter Years“ ein.
Ein nostalgischer Blick in die Zukunft
Diese beiden Sammlungen gehören heute als fotografisches Erbe zum Archivbestand des CNA, der mehr als 400000 Dokumente umfasst – von den Anfängen der Fotografie bis hin zu zeitgenössischen Werken – und formen die Steichen Collections des Instituts. Die sehr eigene Inszenierung der Fotografie sowie ein Hang zur Nostalgie verbinden beide Ausstellungen. Steichens Blick, den er in den 1950er und 1960er Jahren auf die (amerikanische) Gesellschaft wirft und der in seinen fotografischen Erzählungen zum Tragen kommt, ist von einem leichten Sepiaton geprägt, um bei der Fotografie zu bleiben. Der Blick ist ein Blick zurück, verknüpft mit der Hoffnung, in der heutigen Welt Steine ins Rollen bringen zu können – jedoch nicht, damit alles so wird „wie früher“.
Knapp zehn Jahre vor seinem Amtsantritt im MoMA entdeckt Steichen 1938 die Fotografien der FSA (Farm Security Administration) im First International Photographic Salon im Grand Central Palace in New York. Dort stößt er auf die Werke der heutigen Pioniere der Dokumentarfotografie wie Dorothea Lange, Russell Lee, Walker Evans, Marion Post-Wolcott und anderer. Die Bilder dieser dokumentarischen Mission im ländlichen Amerika der 1930er Jahre hinterlassen einen tiefen Eindruck bei Edward Steichen, der im selben Jahr seine Karriere als Modefotograf beim Verlagshaus Condé Nast (für Vogue und Vanity Fair) beendet. Die Dokumente der FSA werden ihn während seiner ganzen professionellen Laufbahn als Kurator begleiten und immer wieder in seinen Gruppenausstellungen auftauchen (so auch vereinzelt in der „Family of Man“) bis zum Abschluss in 1962, wo er ihnen seine letzte Ausstellung im MoMA ganz widmet unter dem Titel „The Bitter Years 1935-1941. Rural America as Seen by the Photographers of the Farm Security Administration“.2
Steichen ist zu diesem Zeitpunkt bereits 83 und wirft einen Blick zurück auf die Anstrengungen der letzten Generationen, Amerika aus der Krise zu führen. Er selbst leitet die Ausstellung mit folgenden Worten ein: „I believe that it is good at this time to be reminded of The Bitter Years and to bring them into the consciousness of a new generation which has problems of its own, but is largely unaware of the endurance and fortitude that made the emergence from the Great Depression one of America’s victorious hours.“3 Die Vision ist düster und die Atmosphäre bedrückend und doch strahlen die Bilder eine poetische Kraft aus, die über die Zeit der Krise hinaus geht und sie zu Ikonen werden lässt. Somit werden sie auch heute noch Steichens zeitlosem Anspruch an die Fotografie gerecht und transportieren vor allem eins: Menschlichkeit.
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