Das Erbe der „Steichen Collections“

Eine Interpretation der Sammlungen im Centre national de l’audioviuel (CNA)

Als zweiter Artikel einer Reihe zu den Steichen Collections in Luxemburg beleuchtet der folgende Text das Erbe Steichens am CNA. Der erste Artikel (erschienen im Heft 366) befasst sich mit Edward Steichen und seiner Funktion als Kurator am Museum of Modern Art in New York.

Mitte der 1960er Jahre kommen die „Steichen Collections“ des CNA, „The Family of Man“ und „The Bitter Years“, auf Steichens Wunsch hin nach Luxemburg. Die erste im Jahre 1964 ist ein Geschenk der amerikanischen Regierung, die zweite wird dem Großherzogtum 1967 von Seiten des MoMA (Museum of Modern Art New York) zugesprochen. Beide Ausstellungen haben zu diesem Zeitpunkt schon eine weite Reise hinter sich.

Die Fotografien der Wanderversion der „Family of Man“ (eine Ausstellungskopie von insgesamt zehn Stück) machen von 1957 bis 1960 Station in Eu-ropa. Sie sind unter anderem in Skandinavien, der Schweiz, Italien, Polen und in Belgien zu sehen, bevor sie im nationalen Museum für Kunst und Geschichte, dem heutigen MNHA, ausgestellt werden. Ein Telegramm der amerikanischen Botschaft in Luxemburg berichtet damals über die feierliche Eröffnung der Ausstellung: „USIA’s1 last copy of the ,Family of Man‘ exhibit, which was received in excellent condition and presented to the Government of Luxembourg […], was inaugurated on July 9, 1965 in the State Museum at Luxembourg City.“ 2 Zu dem Zeitpunkt sucht man bereits nach einer permanenten Bleibe für die Ausstellung, wobei Clervaux und Luxemburg als mögliche Optionen gelten. Weiter stellt die Botschaft fest: „The giving of the ,Family of Man‘ to Luxembourg has obviously struck a warm chord among the Luxembourgers. At the dedication ceremony many people were deeply impressed by the beauty and the magnitude of the exhibit and all were unanimous in the opinion that the exhibit was a valuable and attractive addition to the Luxembourg cultural scene. Wherever the ,Family of Man‘ finally rests, it will effectively serve as a worthy expression of the U.S. cultural presence in the Grand Duchy […]“ 3

Die Ausstellung „The Bitter Years“ reist mit den für das MoMA angefertigten Fotografien ab 1963 durch die USA und macht ebenfalls Halt in Europa. Nach ihrer letzten Schau in Oslo wird Steichen gebeten, eine Entscheidung zu fällen, was die Zukunft der Ausstellungsabzüge angeht. Die Rede ist von zerstückeln, verschenken, in die USA zurücksenden oder zerstören. In einer Notiz von Steichens Assistentin auf einem Brief wird am 24. März 1967 erwähnt: „Mr. Steichen has decided he wants the show to go to Luxembourg, to be placed there permanently.“4 Drei Linien auf einem Brief von 1967 bescheren Luxemburg ein weiteres fotografisches Erbe, welches die Vielfalt sowie die Eigenheit von Steichens Arbeit mit der Fotografie unterstreicht. Der Brief und die Notiz lassen jedoch erkennen, welcher Status sich für das Medium der Fotografie in Steichens Verständnis über die Jahre entwickelt hat.

Bewusstseinswandel und fotografisches Erbe

Steichen, der zu Anfang seiner Karriere, also um die Jahrhundertwende, für die Anerkennung der Fotografie als eine der schönen Künste kämpft und sehr viel Sorgfalt und Mühe in einzelne Abzüge steckt, konzentriert sich in seiner Laufbahn am MoMA auf die kommunikativen Fähigkeiten des Mediums (wozu er durchaus auf seine technische Reproduzierbarkeit zurückgreift). Seine Ausstellungen, wie die „Family of Man“ und „The Bitter Years“ ergründen die Bildkommunikation in Form eines Foto-Essays. Hier liegt der Wert nicht mehr im „Vintage Print“; er ist an den dargestellten Inhalt gebunden und an das, was dieser zu sagen vermag. Die Verbreitung einer Geschichte und somit auch einer Weltsicht steht im Vordergrund, nicht der einzigartige Charakter des Originals oder der materielle Wert der Fotografie, die jederzeit ersetzt werden kann. Und so wird sie auch behandelt: Das MoMA gibt präzise Anweisungen, wie die Fotografien in den verschiedenen internationalen Ausstellungsräumen angeordnet und aufgehängt werden sollen. Von Schutz ist nur bedingt die Rede, von Konservierung keine. Dort, wo heute aufwändige Schichten von säurefreiem Verpackungsmaterial und Handschuhe zum Einsatz kommen, werden die Fotografien während der Reise unverpackt in Kisten transportiert. Ursprünglich wurden die Abzüge für Wanderausstellungen gefertigt. Diese waren zwar von guter Qualität, wurden jedoch nicht mit Liebe fürs Detail erstellt. Somit finden sich z.B. Staubkörnchen auf den Prints, die bei der Vergrößerung in der Dunkelkammer nicht vom Negativ entfernt wurden. Der Wunsch nach Erhaltung dieser Fotografien kommt erst gegen Ende der Reise beider Ausstellungen auf. Was in den 1950er und 1960er Jahren als beliebiger und reproduzierbarer Abzug seine Reise antrat, ist heute ein einzigartiger Ausdruck seiner Zeit und eines besonderen Verständnisses von Fotografie. Das Objekt Bild setzt sich zusammen aus der eigentlichen Abbildung, die technisch reproduziert werden kann, und der eigenen historischen Materialität, die heute Aufschluss über die Bildhandhabung und seine Geschichte gibt. Dies lässt das Objekt zu einem unersetzbaren Werk werden, bei dem die Spuren der Geschichte in der Oberfläche verankert sind. Die Reise des Bildes durch die Zeit bringt einen Bewusstseinswandel für das fotografische Erbe sowie einen Statuswandel mit sich, in dem das Bild zum Objekt und die Ausstellung zur patrimonialen Sammlung wird.

Restaurierung und Re-Inszenierung der Sammlungen

Wobei die Reise der MoMA-Wanderausstellungen in Luxemburg in den 1960er und 1970er Jahren fortgesetzt wird, so ist ihre Sammlungs- und Konservierungsgeschichte doch eng mit dem CNA und seiner Gründung 1989 verbunden. Mit der Aufnahme der Ausstellungen in die Archive beginnt unsere Zeitrechnung der Sammlungen am Institut. Eine der ersten großen Aufgaben des CNA war die Restaurierung der „Family of Man“, für die individuelle Lösungen gefunden, oder besser erfunden, werden mussten bevor man die Sammlung in ihrem historischen Aufbau im Schloss Clervaux präsentieren konnte. Nicht nur die verschiedenen Formate von 30x40cm Größe bis zu 3x4m stellten die Restauratoren vor ungeahnte Herausforderungen. Auch die Verbindung von Materialien wie Papier, Holz und Kleber mussten genauer untersucht werden, um einen Plan für die dauerhafte Erhaltung der Sammlung zu entwerfen. Ziel der Restaurierung war es dabei, nicht die Spuren der Geschichte zu verwischen oder das Foto, im Sinne einer Reparatur, wie neu aussehen zu lassen. Es ging vielmehr darum, die Lesbarkeit des Fotos wiederherzustellen und den Blick des Besuchers aufs Bild, nicht auf den Schaden zu lenken.

Einer archäologischen Recherche gleich, wurden bei den Präsentationen der beiden Sammlungen die einzelnen Teile Steichens bildlicher Erzählungen sorgfältig ihrem historischen Design folgend an der Wand rekonstruiert. Das MoMA und seine moderne Szenografie dienten in beiden Fällen als Basis sowohl für die Rekonstruktion als auch für die Interpretation der Ausstellungen im neuen Kontext. Und gerade diese neue (zeitliche und räumliche) Umgebung wirft Fragen für den Kurator auf: Welche Bedeutung haben die Sammlungen im heutigen Kontext – kunsthistorisch, gesellschaftlich, politisch, usw. – und wie machen wir diese sichtbar/greifbar für ein gegenwärtiges Publikum, ohne jedoch den Geist des Originals zu verfälschen? Wo hört die Treue zur Geschichte auf und wo beginnt die zeitgenössische Interpretation und Vermittlung?

Die in der vorherigen Ausgabe (forum 366) näher beschriebene visuelle Kollage musste im neuen Raum „übersetzt“ werden. Dies geschah für beide Sammlungen in ähnlicher Herangehensweise: die Themengruppen, aus denen die Ausstellung besteht, werden mit ihren inneren Bildbezügen und -folgen treu wiedergegeben. Die Interpretation der Sammlung durch die Inszenierung geschieht z.B. auf der Ebene der Wandfarbe oder des Lichteinsatzes (der maßgeblich durch konservatorische Richtlinien bestimmt wird). Die Wahrnehmung des Besuchers wird durch weitere vermittelnde Elemente geleitet: Es wurde darauf geachtet, dass die Vermittlung als zusätzliches und freiwilliges Angebot einen anderen Zugang zum Gesehenen und Erlebten bietet und z.B. durch verschiedene Interpretationsansätze neue Perspektiven auf die Geschichte öffnen kann. Somit bleibt die visuelle Erzählung, die an sich bereits sehr dicht und beeindruckend ist, intakt.

Neue Interpretation und Erfahrung im Raum

In der neuen Präsentation der Ausstellungen steht das Visuelle an erster Stelle, da es nicht nur die Verbindung schafft zwischen den einzelnen Fotografien, sondern auch den Dialog zum heutigen Besucher herstellt. Durch den dargestellten Humanismus und das Panorama von Portraits werden wir angesprochen in unserem Menschsein („explain man to man“ nach Steichens Zitat), welches die Erzählung trägt und unser Gedächtnis sowie unsere Emotionen aktiviert. So zeugen beide Sammlungen heute nicht nur von der kulturellen Präsenz Amerikas in Luxemburg, sondern vor allem von einem Phänomen in der Rezeption der Ausstellungen, welches internationalisiert werden kann. Über ihren Ursprung hinaus sind Steichens kuratorische Werke Teil der internationalen Fotografie- und Ausstellungsgeschichte. Dass man die historischen Ausstellungen heute erneut begehen und erleben kann, ist ebenso außergewöhnlich wie wichtig für ihre weitere Interpretation und Recherche. Dadurch, dass sich Steichens Werke im Raum entfalten und wirken, ist die Analyse derselben an die Erfahrung des Besuchs gebunden – nicht nur an das, was ein Katalog wiedergeben kann. Steichens visuelle Diskurse sind komplexe Geflechte und exemplarische Beispiele dafür, was ein Bild zu sagen vermag und was es uns dann doch verschließt. Wobei die Ausstellungen in früheren Betrachtungen oft als naiv kritisiert wurden, greifen aktuelle Recherchen sie erneut auf. In diesem Sinne wird z.B. die öffentliche und akademische Rezeption, sowie die Geschichte der „Family of Man“ immer wieder neu beleuchtet, so auch in einem Symposium im letzten Jahr. 5

Um abschließend die Nachricht der amerikanischen Botschaft erneut aufzugreifen, können wir behaupten, dass die Sammlungen „The Family of Man“ und „The Bitter Years“ heute noch immer international viele Saiten zum Klingen bringen: emotionale, kritische, künstlerische, geschichtliche, zeitgenössische, … Es ist gerade diese Vielfalt an Tönen, die das Gesamtbild bereichert und uns die Geschichte weiterschreiben lässt.

www.steichencollections-cna.lu

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