Klausur-Kultur (8)


Elise Schmit

Olga Tokarczuk: Unrast

 

Nicht, dass man mit einer Preisträgerin des Man Booker International Prize viel falsch machen könnte, aber Unrast von der polnischen Autorin Olga Tokarczuk, letztes Jahr mit dem Literaturnobelpreis für 2018 ausgezeichnet, ist auch genau das Buch für eine Zeit allgemeiner Verlangsamung und Isolation, in der man leicht aus dem Blick verlieren kann, worum es beim sogenannten Menschsein überhaupt geht.

Sie müsse immer unterwegs sein, berichtet die schwer fassbare Erzählstimme, eine Reisende ohne Ziel, eine Figur wie eine zur literarischen Form gewordene Unbehaustheit. Wie diese Erzählerin von einem Ort zum nächsten reist, von einer Gelegenheitsanstellung in die nächste gerät, wie Begegnungen ihr Weiterziehen immer nur kurz streifen, so verhält sich auch das Buch: kein Roman, keine Novelle, keine Kurzgeschichtensammlung, eine sehr eigentümliche, fließende Mischung von Fragmenten, die hauptsächlich durch motivische Verdichtung zusammengehalten werden. Geschichten klingen an und verstummen wieder, um nach einer Weile vielleicht doch noch einmal mit einer Fortsetzung wiederzukehren. Alles ist im Fluss, sagt Heraklit, und nach diesem Motto treibt Tokarczuk den Leser von philosophisch und mythologisch unterfütterten Erzählungen in eine Vielzahl von Perspektiven auf den sehr menschlichen Drang zu Bewegung und Veränderung, auf eine Rastlosigkeit, die einen zuweilen sehr plötzlich aus dem gewohnten Leben hinauskatapultiert. Eine Frau hält ihre Familie nicht mehr aus und geht im Netz des öffentlichen Nahverkehrs für ein paar Tage verloren, ein Mann verliert bei einem Ausflug Frau und Kind und betrachtet daraufhin seine Ehe als so fundamentale Lüge, dass die Wiederkehr der Vermissten nur zu weiteren Auflösungserscheinungen führt. Eine Wissenschaftlerin reist nach Jahrzehnten heimlich zu ihrer sterbenskranken Jugendliebe mit einer Giftampulle im Gepäck. In vielen der Erzählungen erweisen sich Mythen als Fahrpläne für das Verhalten der Figuren. Eryk tritt als Wiedergänger von Odysseus auf, der fern dem Land, aus dem ursprünglich stammt, auf einer Insel als Fährmann arbeitet. Eryk ist Alkoholiker, er wird mit jedem Tag streitsüchtiger und unglücklicher, bis ihm einfällt, dass er seine Fähre vom Kurs abbringen und ins offene Meer steuern kann.

Den Drang zur Überwindung von Grenzen spielt Tokarczuk auch anhand des Themas von Leben und Tod durch. Scharnier ist dabei eine besondere Hervorhebung der Anatomie: Der menschliche Körper erscheint als multiples System von verzweigten Adern und Nervensträngen, in dem sich das Motiv des Straßennetzes zu spiegeln scheint. Viele Geschichten kreisen um die Faszination für den Mikrokosmos des menschlichen Körpers, seine Bewahrung nach dem Tod, Methoden der Haltbarmachung von menschlichem Gewebe.

Ein Buch wie ein Labyrinth, könnte man meinen, und ein wenig stimmt das auch. Die Zunge sei der stärkste Muskel im menschlichen Körper, heißt es mehrfach. Was die sich ständig verändernde, ausufernde Welt zusammenhält, ist ja auch das Erzählen.

Olga Tokarczuk, Unrast (2007), Zürich, Kampa Verlag, 2019, 464 S., € 25,20.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Das Buch (auch als eBook) können Sie hier oder hier bestellen.

Elise Schmit ist Schriftstellerin und Literaturkritikerin. Zuletzt erschien von ihr der Prosa-Band Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen, Hydre Éditions, 2018, für den sie 2019 mit dem Prix Servais ausgezeichnet wurde. Zuletzt in forum erschien von ihr Also: hinab“, in: forum 403, Februar 2020, S. 36-37.

 

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