Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer

Eine Rezension

(von Jean-Marie Weber)

Jürgen Manemann, Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover und aktives Mitglied der internationalen Organisation Extinction Rebellion, hat soeben im Bielefelder transcript Verlag ein Plädoyer für ein revolutionäres Christentum vorgelegt. Darin fragt er, ob angesichts der vielen Krisen, welche die Demokratie kennzeichnen, und angesichts der globalen Katastrophen und Ungerechtigkeiten das Christentum etwas zur Lösung dieser Probleme beitragen kann. Vielen Zeitgenossen scheint es allerdings, als hätte das Christentum – zumindest in Europa – ausgedient.

Natürlich engagieren sich viele Christen in dieser oder jener alternativen Bewegung. Aber tendenziell, so stellt der Autor zu Recht fest, haben sich viele Christen einen bürgerlichen Diskurs (J. B. Metz) zugelegt, der die Sprengkraft des Christlichen verdrängt. Die bürgerliche Lebensform mutiert zu einer Haltung voller Angst vor dem Schwinden der eigenen Vorteile und Besitztümer. Das „anpassungsschlaue Christentum“ ist schal geworden. Vielfach traut sich die Kirche selbst nicht mehr zu, etwas bewegen zu können.

Trotz alledem vertritt Manemann die These eines revolutionären Christentums. Es gilt als eine „Lebensform“[1], die sich durch Aufstehen und Auferstehen charakterisieren lässt. Auferstehung als Lebensform bedeutet: ankämpfen gegen den Tod im alltäglichen Leben, den Tod der Verlassenheit, den Tod durch Armut und Unsichtbarkeit, den Tod der Apathie, der Bequemlichkeit und Zufriedenheit. Christen allerdings sollten das Leben auch vor dem Tod feiern. 

Der Glaube an den alleinigen Gott charakterisiert sich durch ein Setzen auf Gerechtigkeit. Es ist nicht die Verbindung von Gott und Wahrheit, sondern die Verbindung von Gott und Gerechtigkeit, welche die Geburtsstunde des biblischen Monotheismus markiert. Gott zu erkennen heißt fühlen, was ungerecht ist. Und so sind Juden und Christen aufgerufen, sich für die Befreiung aus Rechtlosigkeit, Unterdrückung, Entwürdigung und Entfremdung zu engagieren.

Christen lassen sich durch die Verheißung bestimmen, aber sie vermissen Gottes direktes Eingreifen in der Welt. Ich denke im Sinne des Autors, dass das Fehlen eines direkten Eingreifens Gottes zur Mündigkeit herausfordert. Gott zu nennen, wird so zum performativen Akt, der anspornt und gegebenenfalls eigene Interessen durchkreuzt. 

Angesichts der permanenten Krisen der Postmoderne ist ein apokalyptisches Denken für Manemann unabdingbar. Das griechische Wort apokalyptein bedeutet offenbaren, kundtun, enthüllen. In diesem Sinne werden Situationen wahrgenommen, analysiert und beurteilt (Hannah Arendt), nicht verschleiert. Der Apokalyptiker ist nicht „katastrophenverliebt“, sondern „katastrophensensibel“.[2] Er entwickelt Kompetenzen, um angesichts katastrophaler Situationen Möglichkeiten zur Veränderung zu sehen und offenbar zu machen. Er hat dazu den nötigen Mut und die „Leidenschaft“.

Im jüdisch-christlichen Gottesbild geht es nicht darum, die Welt zu vergöttlichen, sondern ihre Potenzialitäten fruchtbar zu machen. Dies geschieht durch tiefe Diesseitigkeit; dem Diesseitigen soll ein „Jenseits“ in Form neuer Möglichkeiten und Dimensionen eröffnet werden. Der Mitmensch, der mir zum Nächsten wird, ist das Transzendente. Im Engagement machen wir Erfahrungen von Übersteigen, von Auferstehen. 

Revolution für das Leben

Aufstehen geschieht nicht ohne Trauer für die Menschen und Lebewesen, die in dieser Welt chancenlos sind und leiden. Dieses Trauern hat wegen der eigenen Blindheit und Handlungsunfähigkeit gegenüber den Ungerechtigkeiten, den Ausbeutungen oder dem Aussterben der Artenvielfalt auch eine moralische Facette. Solche Trauer, die uns affiziert, ermöglicht, dass sich eine geerdete Hoffnung entfaltet. Sie ist nicht einfach kontrafaktisch, sondern kreativ, da sie dem Leben neue Chancen geben will; schon dadurch, dass die eigenen Resistenzen vor Innovation abgebaut werden. Es geht nicht um die Entwicklung von Luftschlössern. Es geht um eine konkrete Utopie, das Real-Mögliche, das sich in den Situationen entdecken lässt. Wir stellen es immer klarer fest: Das Leben ist in Gefahr, es ist für sich selbst leer geworden. „Es taumelt sinnlos hin und her.“ Wir müssen unsere Verantwortung übernehmen, sagt Manemann mit Ernst Bloch.

Eine neue Zukunft findet sich nicht in der Vergangenheit, in irgendwelchen „Retrotopien“. Sie beginnt dort, wo wir uns auf die Risse in den politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und kirchlichen Systemen einlassen und über die reine Bedürfnisbefriedigung hinaus ein Begehren entfachen können und den richtigen Zeitpunkt – den Kairos zum Handeln – nicht verpassen. 

Aufstehen funktioniert nicht ohne Umkehr und Wahrnehmung der eigenen Entfremdung. Sowohl im professionellen wie im privaten Bereich sind wir vielfach zum Spielball ökonomischer Interessen geworden. Wir sind längst entfremdet durch die kapitalistische Sachherrschaft. Die Waren treten die Herrschaft über die Menschen an. In vielen Kontexten behandelt der Mensch den Menschen wie ein Ding und weiht ihn damit zum Tod. Unsere Blindheit gegenüber solcher Verwertung des Menschen hat Folgen. Sie gilt auch als Einfallstor für Verschwörungstheorien: Der Hass sucht Schuldige. Wir werden immer mehr dazu gebracht, uns selbst als Ware etwa auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Das führt zur Selbstentfremdung, „Beziehungen der Beziehungslosigkeit“ [3].

Angesichts der unterschiedlichen Entfremdungen braucht es eine Revolution unserer Art, um uns auf uns selbst und die anderen zu beziehen. Manemann bezeichnet dies mit „Revolution für das Leben“. Hiermit mahnt er an, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern und uns der Zerstörungswut des Kapitalismus entgegenzusetzen. Christen nennen das Umkehr. Diese setzt Resonanzfähigkeit, Offenheit für die Welt und die Mitmenschen sowie Leidempfindlichkeit voraus.

Eine solche Revolution ist möglich: „Wenn das, was ist, nicht alles ist, kann das, was ist, sich ändern“.[4] Es setzt laut Manemann voraus, dass wir uns nicht mehr durch die Liebe zum Geld verführen lassen (1 Tim 6, 9-10) und dass alle solidarisch sind und alles allen anvertraut ist (Apg 4, 32). Das zieht nicht die Abschaffung des Eigentums nach sich, aber ein anderes Verhältnis zum Eigentum, zum Land- oder Immobilienbesitz. Eigentum muss dem Gemeinwohl dienen, wie Paul VI. es in der Enzyklika „Populorum progressio“ (1967, Nr. 24) schreibt. Es muss mit dem realen und materiellen Leben aller vereinbar sein. Die Revolution für das Leben ist nicht zeitlich begrenzt, sondern hält die Gezeiten des Lebens aufrecht. Sie entzündet sich am Leben. Ihr Ziel ist ein neues Zusammenleben und ein Verabschieden von der reinen Bedürfnislogik.

Verwundbares Leben und Sorge-Revolution

Angesichts des Leidens, der Ängste und Hoffnungslosigkeit vieler Mitmenschen braucht es Widerstandsfähigkeit und ein Gespür für die Vulnerabilität des Menschen. Damit humanes Leben möglich bleibt, braucht es eine verstärkte Bindungsfähigkeit. Unsere Sorge um das Zusammenleben muss ein wichtiger Aspekt des kirchlichen Lebens werden. Sie setzt voraus, die eigenen Risse und Symptome zu spüren und sich durch die Anliegen und das Leid der anderen verwundet zu fühlen.

Um zukunftsfähig zu bleiben, müssen wir uns um die Wurzeln der unterschiedlichen Katastrophen kümmern. Wir müssen radikal werden. Sorge gilt für Manemann als Beziehungskategorie. Sorge will nicht nur Bedürfnisse decken, sondern Veränderungen im Zusammenleben bewirken. Sie will Zustände schaffen, in denen Menschen sich um sich selbst sorgen können, sich auf das Begehren hin und für andere öffnen: Mitleid empfinden, Gerechtigkeit üben und Freundschaften pflegen. In solchen Kontexten können wir auch einfacher Ressentiments abbauen, welche ja oft aus Ohnmachtsgefühlen und Angst vor Kontrollverlust resultieren. 

Laut Manemann soll die sorgende Solidarität sich nicht auf das Private reduzieren; sie will auch keine neuen Abhängigkeiten schaffen. Sie ist politisch. Es braucht eben eine neue Passion und Einsatz für die Demokratie[5], speziell angesichts zunehmender demokratiefeindlicher Tendenzen. Christliche Auferstehungshoffnung weigert sich, den Tod anderer oder den Ökozid einfach zu akzeptieren. Ohne Revolte geht es oft nicht. Christen sollten die Demokratie immer wieder neu als Lebensform entdecken. 

Denken heißt immer weiterdenken. Und so sollten Christen sich etwa durch die Pandemie herausgefordert fühlen und sich um die Krise hinter der Krise sorgen. So ist für Manemann die Impfung eine wichtige Antwort auf die Pandemie, aber nicht die alleinige Lösung. Es stellen sich vielmehr zentrale Fragen bezüglich unseres Wirtschaftssystems und unseres Lebenswandels. 

In manchen Situationen haben Christen „zivilen Ungehorsam“ bewiesen, zum Beispiel gegen Maßnahmen, denen kein Respekt für die Würde flüchtender Menschen zugrunde liegt. Kirchenasyl etwa ist ein mutiger und wichtiger Schritt der Unterstützung von Hilfsbedürftigen. Es ist zudem symbolisch von Bedeutung, da es nicht die Rechtsordnung als Ganzes in Frage stellt, aber versucht, die Mitbürger und die politisch Verantwortlichen für die katastrophalen Zustände in unserer Welt zu sensibilisieren. 

Wer den Himmel sucht, muss sich tief in das Geschehen auf der Erde verstricken lassen, engagieren und auch die Erfahrung vom Schweigen Gottes aushalten können, sagt Manemann. Dazu braucht es meiner Meinung nach eine Selbsttransformation und Neuverortung der Kirche. Die entscheidende Frage für mich ist, ob Menschen in christlichen Gemeinschaften Erfahrungen von Befreiung und „Auf(er)stehen“ machen können. Die Weitergabe der christlichen Lebensform geschieht durch die Teilnahme an Ereignissen der Befreiung nach innen und nach außen. Ohne solche Erfahrungen riskiert der christliche Diskurs sich in Ideologie zu verwandeln. Die verkrusteten Strukturen werden nicht aufgebrochen und verflüssigt. 

Manemann zeigt überzeugend, welches Potenzial der christliche Diskurs gerade auch im Dialog mit anderen Diskursen besitzt. Das Paradigma des „Auf(er)stehens“ oder der apokalyptischen Sensibilität findet sich heute säkularisiert in anderen Diskursen wieder. Das macht die Kirche nicht überflüssig. Menschen brauchen Diskursgemeinschaften. Ich denke, dass Kirche weiterhin ein wichtiger Ort des Experimentierens im „Auf(er)stehen“ sein kann. Dazu müsste sie allerdings von überholten Autoritätsvorstellungen ablassen. Es reicht auch nicht, sich nach außen für Demokratie einzusetzen, aber im Inneren vielfach Menschen, die einem nicht passen, auszuschließen, wie Manemann schreibt. 

Die Einführung in das „Christsein“ hat meiner Meinung nach vor allem die Pflicht, das „Selberdenken“, das „Selbergestalten“ des Bezuges zu Jesus von Nazareth und zur Welt zu fördern. Dies impliziert, dass Christen zunächst auch lernen, ihre Apokalypse-Blindheit zu reflektieren, sich zu positionieren und sich sowohl innovativ wie radikal gegen das drohende Scheitern der Menschheit zu engagieren. 

Mit Kant und Arendt bin ich der Meinung, dass Christen als mündige Bürger angesichts aller vergangenen und gegenwärtigen Tragödien und Missbräuche kein Recht haben, einfach zu gehorchen.[6] Dies ist nicht einfach. „Revolutionär wird der sein, der sich selbst revolutionieren kann“[7], bemerkte Wittgenstein.

Jürgen Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld, transcript Verlag, 2021.


[1] Rahel Jaeggi, Kritik der Lebensformen, Berlin, Suhrkamp, 2014.

[2] Jürgen Manemann, Rettende Erinnerung an die Zukunft. Essay über die christliche Verschärfung, Mainz, Matthias Grünewald Verlag, 2005, S. 61.

[3] Rahel Jaeggi, Entfremdung, Zur Rekonstruktion eines sozialphilosophischen Begriffs, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York, 2004.

[4] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1975, S. 391.

[5] Jürgen Manemann, Demokratie und Emotion. Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet, Bielefeld, transcript Verlag, 2019.

[6] http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/114/193 (letzter Aufruf: 1. Dezember 2021).

[7] Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in: Über Gewißheit. Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1999, S. 445-572, S. 513.

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