„Man kann die Welt und die Menschen nicht begreifen“

Interview mit der Filmemacherin Jessica Hausner

Amour fou ist ein Film über zwei Menschen, die gemeinsam in den Tod gehen, aus Liebe behaupten sie. Das Thema der romantischen Liebe ist im Kino sehr beliebt. War ihr Ausgangspunkt, dem etwas entgegen zu setzen, was Hollywood als „romantische Liebe“ verkauft?

Jessica Hausner: Als ich die Idee entwickelte, habe ich eigentlich nicht darüber nachgedacht. Aber bei den Publikumsgesprächen kommt das Thema immer wieder auf. Da werde ich gefragt: „Wo ist denn eigentlich die Liebe? Wieso sind diese Menschen so zurückhaltend und zeigen ihre Gefühle nicht? Haben die überhaupt welche?“ Ja, sie haben welche, aber sie zeigen sie nicht. Da habe ich plötzlich eine Verbindung zum 19. Jahrhundert gefunden, weil dieses romantische, idealistische Bild einer leidenschaftlichen Liebe, diese Hoffnung, dass Liebe stark, wahrhaftig und einzigartig ist, ein Filmklischee ist und mit der Wirklichkeit sehr wenig zu tun hat.

Hollywood geht davon aus, dass man als Zuschauer mitfühlen muss. Sie gehen, ganz im Gegenteil, auf Distanz.

J. H.: Ich glaube, dass es eine grundsätzliche menschliche Tragödie ist, dass man sich danach sehnt, einen anderen Menschen verstehen zu können oder verstanden zu werden durch einen anderen Menschen. Das ist aber eigentlich nicht möglich. Jeder steckt in seiner Haut wie in einem Gefängnis, und alles was man wahrnimmt, ist subjektiv. Insofern irrt man sich auch oft in einer anderen Person. Und in meinem Film geht es um die Abwesenheit dieses romantischen Ideals der Liebe. Aber ich bin überzeugt, es gibt so viele Arten zu lieben, wie es Menschen gibt.

In Ihren Filmen gibt es immer wieder Vorhänge. Diese verstecken, sie offenbaren aber auch, und manchmal geben sie den Szenen etwas theaterhaftes.

J. H.: Vorhänge sind ein Bild für das Verborgene. Ein geschlossener Vorhang hat durchaus etwas Bedrohliches, es verbirgt sich etwas dahinter. Und das finde ich interessant. Das andere ist das Theatrale, das in den Filmen auch eine Rolle spielt. Es geht mir darum zu zeigen, dass die Menschen eben nicht originell und authentisch sind, oder nicht nur, sondern auch Wesen, die nach gesellschaftlichen Vorgaben handeln. Der Großteil der eigenen Individualität ist ja bestimmt durch die Rolle, die man in der Gesellschaft spielt. Das ist interessant: Wer ist man selbst, wenn man aus so vielen Facetten besteht? Dieses Spannungsfeld hat mich auch in meinen anderen Filmen schon interessiert, der Einzelne im Verhältnis zu der Gesellschaft oder zu den Erwartungshaltungen der Gesellschaft.

Ihre Figuren, besonders die Frauenfiguren, stehen immer etwas abseits von der Gesellschaft. Sie passen nicht dazu.

J. H.: Warum wird eine Person nicht akzeptiert? Wahrscheinlich weil sie nicht so ist, wie man sein soll. Insofern erzähle ich durch diese Außenseiterfiguren die Konventionen in der Gesellschaft.

In Ihren Filmen entsteht die Spannung durch den Schnitt. Oft hört man z.B. die Figuren sprechen, ohne sie zu sehen. Drehen Sie die Szene mit dem Schauspieler, oder wissen Sie schon von vornherein: Man wird den da nicht sehen — also, dass die Stimme aus dem Off kommen soll?

J. H.: Das ist unterschiedlich, aber ich drehe durchaus schon in dieser Absicht. Es gibt ja dieses Prinzip von Schuss und Gegenschuss. Oft fehlt bei mir der Gegenschuss. Es gibt eine Blickrichtung aber nicht die andere. Ganz ehrlich, ich verabscheue diese Behauptung in Filmen, dass die Welt erklärbar wäre, dass Menschen nachvollziebar sind, dass sich am Ende eine Lösung für alles finden wird. Ich fühle mich betrogen, wenn eine schlüssige Welt dargestellt wird. Ich sehe die eine Richtung, dann sehe ich die andere Richtung und es entsteht der Eindruck beim Zuschauer, man hätte einen Öberblick. Und diesen Öberblick versuche ich zu unterbrechen. In jeder Hinsicht. In der räumlichen Darstellung und auch im Zeitkontinuum. Manchmal dehnen sich Szenen in meinen Filmen zu einer komischen Echtzeit aus und dann wird wieder etwas übersprungen, was vielleicht hätte wichtig sein können. Man kann die Welt nicht begreifen, man kann die Menschen nicht begreifen. Es gibt tausend Aspekte und verschiedenste Wahrheiten. Das ist es, womit ich mich eigentlich beschäftige.

Und wenn Sie das Drehbuch schreiben, wissen Sie schon mehr oder weniger wie der Schnitt aussehen wird?

J. H.: Ich denke schon. Das nicht kohärente Erzählen oder das lückenhafte Erzählen, das beginnt beim Drehbuch. Aber dann setze ich es fort, indem ich ein Storyboard male, und da überlege ich schon sehr genau: Wer ist im Off, wen sieht man gar nicht, wo ist der Schnitt, wie kann ich eine Szene unterbrechen oder anfangen? Und es ist ja nicht so, dass ich dann zum Set komme und dass das dann alles so wäre. Ich möchte aber, dass es alles so ist. Ich brauche also diese lange Vorbereitungszeit, wo ich erst mal mit dem Kameramann ganz genau Bild für Bild bespreche. Und dann gehen wir mit dem Storyboard zu den Drehorten, bzw. ich suche die Drehorte, die zu dem Storyboard passen. Und bei Amour fou war es eben so, dass zu vieles nicht gefunden wurde und wir uns dann entschieden haben, im Studio zu drehen, denn dort können wir natürlich alles so bauen, wie wir es gezeichnet haben. Das Einzige, wo die Schauspieler einen Freiraum haben, ist in der Interpretation dessen, was ich ihnen vorgebe. Das Korsett ist also eng, aber zugleich glaube ich, dass ein enges Korsett einem sehr viel Freiheit verschafft, weil die Dinge plötzlich sehr klar werden.

Wie wählen Sie die Schauspieler aus?

J. H.: Ich mache ein Casting. Ich weiß nicht, wie andere Regisseure das machen, aber ich merke, ich muss eine Szene aus dem Drehbuch mit einem Schauspieler ausprobieren. Auch wenn ich den Schauspieler schon kenne. Ich muss sehen, wie er jetzt diese Rolle spielt. In Amour Fou hatte ich an zwei Schauspieler gedacht, die dann beim Casting gar nicht so ideal für die Rollen waren. Ich war überrascht … und habe nochmal ein dreiviertel Jahr gesucht.

Bei Amour fou haben Sie im Studio gedreht und hatten die Kontrolle über alles. In Lourdes haben Sie sich anpassen müssen. Da gingen die Zeremonien ja weiter, während Sie drehten.

J. H.: Bei Lourdes habe ich sehr, sehr lange recherchiert. Ich war viele Male dort und habe alle möglichen Bilder, die ich dort machen wollte, schon quasi vorher gefilmt um zu vermeiden, dass die Wirklichkeit mich sozusagen überrumpelt und meinen Stil verwischt. In Lourdes gibt es eine Szene — die Messe in der unterirdischen Kapelle — wo sehr viele Leute sind. Die fällt ein bisschen raus, stilistisch, weil sie dokumentarische Züge hat. Wir haben mit zwei Kameras gedreht. Da war es mir wichtiger, diese Atmosphäre und diese Leute in Echt zu haben.

Wenn man sich Ihre Filme in chronologischer Reihenfolge ansieht, hat man den Eindruck, dass Ihre Kamera sich immer weniger bewegt. In Lovely Rita gibt es noch diese Zoom-Bewegungen. In Amour fou gibt es sehr wenige Kamerabewegungen und man bemerkt sie fast nicht.

J. H.: Ich habe kürzlich auch Lovely Rita wieder gesehen. Ich war selber überrascht, wie ich diesen Film gemacht habe! Die vielen Nahaufnahmen, die Zooms, auch der rasantere Schnitt. Ich glaube, dass ich damals noch sehr stark versucht habe, dieser Figur nahe zu kommen, auch wenn es nicht möglich ist.

Amour fou ist ein Spiel mit dem Genre des Kostümfilms. Aber die Kostüme sehen nicht aus wie in einem gängigen Kostümfilm.

J. H.: Danke, das ist ein schönes Kompliment. Ich habe bei der Ausstattung und den Kostümen tatsächlich versucht dem gängigen Bild zu entgehen. Ich habe oft Filme gesehen, wo im 19. Jahrhundert in Deutschland alles sehr braun und grau und weiss dargestellt wird. Meine Ausstatterin hat dann recherchiert. Die Tapeten z.B., die man im Film sieht, sind tatsächlich von 1800. Mich hat das selber überrascht: Wir haben Schlösser besichtigt, wo die Zimmer in Knalltönen, türkis oder blau oder rot, gestrichen sind, wo ich mich dann gefragt habe, war das so oder ist das schlecht restauriert, warum schaut das so poppig aus? Aber nein, das sind die Farben, die auch so gemischt wurden wie damals. Preussisch-blau ist eine sehr grelle Farbe. In Filmen wird oft der patinierte Zustand dargestellt, was ja völlig falsch ist.

Die Ausstatterin und die Kostümbildnerin arbeiten eng zusammen. Es soll ein farblich und stilistisch absichtsvolles Bild entstehen. Gerade die Kostümbildnerin ist auch, was Farben betrifft, eine sehr originelle Person. Sie sammelt Zeitungsausschnitte und Stoffreste oder sie bringt Farben mit. Und dann merken wir bei diesen Gesprächen, welche Farben dominieren. Bei Lourdes war es dieses kalte Grau, das es in Lourdes gibt, Grau und Blau, das Blau der Muttergottes, und Rot und Schwarz, die Farben der Malteser. Und bei Amour fou haben wir uns eher an diese gelblichen und rosigen Töne gewagt.

Es wird in letzter Zeit sehr viel darüber diskutiert, wie wenig Frauen bei Festivals oder bei den großen Filmpreisen vertreten sind. Fühlen Sie sich da angesprochen?

J. H.: Na ja, es beschäftigt mich schon. Ich muss sagen, mein Weg war nicht wahnsinnig schwierig, ich musste nie ein Projekt verschieben oder absagen aus Geldgründen. Und meine Filme waren in Cannes. Aber zugleich nehme ich natürlich wahr, dass es ein absolutes Missverhältnis gibt. Es gibt in Deutschland jetzt eine Initiative, die heißt Pro-Quote-Regie. Es soll bewirkt werden, dass 40% der Gelder für die Herstellung von Filmen an Regisseurinnen vergeben werden. Das unterstütze ich.

Negativ erlebt habe ich im Laufe meines Filmschaffens, dass ich in ganz vielen Situationen fast nur mit Männern zu tun habe. Das hat mich verunsichert, besonders als ich noch jünger war. Immer in der Minderheit zu sein ist ein komisches Gefühl. Manchmal habe ich den Unterschied gemerkt, wenn ich dann plötzlich mit einem Gremium zu tun hatte, wo Frauen Juroren waren. Das ist natürlich ein anderes Gefühl. Und ich glaube, man wird dann auch mutiger. Da entsteht eine Dynamik, die es für Frauen leichter machen könnte.

Das Interview wurde am 6. Februar von Viviane Thill geführt.

Vielen Dank an Philipp Reimer (Amour Fou Luxembourg), der es ermöglicht hat.

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