Die katholische Kirche und die Menschenrechte

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Ein „wahnsinniger“ Missbrauchsskandal erschüttert seit Jahren die katholische Kirche. Wurde anfänglich von zahlreichen Priestern und Ordensleuten berichtet, welche Kinder und Jugendliche misshandelt haben, zeigte sich im Laufe der Zeit immer mehr, dass auch verantwortliche Bischöfe Täter geschützt und Aufklärung verhindert haben. Damit wurden viele schmerzhafte Fragen wieder aufgeworfen: Wie steht die Institution Kirche zum Menschen? Wie steht es um die Glaubwürdigkeit dieser Institution? Kann man ihr zutrauen, sich für Menschen einzusetzen und sich zu reformieren?

In der jüdisch-christlichen Tradition gilt der Mensch als Ebenbild Gottes (Gen. 1,27). Das bedeutet auch, dass der Mensch gekennzeichnet ist durch Unendlichkeit, Geheimnishaftigkeit, Unantastbarkeit und Freiheit. Menschen können somit grundsätzlich nicht instrumentalisiert werden. Ihnen kommt Würde zu. Auch im Rahmen der biblischen Erzählung von der Ermordung Abels durch Kain erfahren wir, wie der Mörder weiterhin als von Gott garantiertes Rechtssubjekt zu gelten hat. Und Paulus schreibt, dass Menschen gleichwertig sind: „Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28). Man mag zum paulinischen Diskurs stehen wie man will, aber für diesen ersten Theologen stirbt Gott am Kreuz, um den Menschen definitiv von allen Sühneopfern zu befreien. Damit ist für Gott der Mensch selbst des Todes eines Gottes am Kreuz wert. Dabei ist die jüdisch-christliche Tradition nicht naiv. Sie erkennt die Boshaftigkeit des Menschen. Ansonsten bräuchte es letztlich auch kein Gebot der Feindesliebe.

Eine konflikthafte und schmerzhafte Entwicklung

Wie jede Institution ist auch die Kirche dem Machtstreben mit gelegentlicher Gewaltanwendung verfallen. Im zerfallenden römischen Reich übernahm sie mehr oder weniger staatliche Verantwortung. Der Zuwachs an Machtfülle wurde philosophisch wie theologisch aufgearbeitet, wie zum Beispiel das Werk „De Civitate Dei“ von Augustinus zeigt. Die Weiterentwicklung des theologischen Diskurses stellte immer auch ein politisches Unterfangen dar. Dabei wurde versucht, die Einheit der Kirche zu verteidigen gegenüber radikalen, puristischen Positionen, sogenannten Häretikern. Damit haben die theologischen Auseinandersetzungen viel zur geistigen Entwicklung Europas und unter anderem zur Entwicklung des Begriffes der Personalität beigetragen. Gleichzeitig aber wurden auch auf undifferenzierte Art und Weise Grenzen gezogen, welche noch heute negative Konsequenzen nach sich ziehen. Zahlreiche Mitglieder der kirchlichen Hierarchie haben sich leiten lassen durch ein Leitbild großer spiritueller Perfektion und Machtfülle, das als Wahrheitsbeweis des Christentums verstanden wurde. Damit haben sie sich auch oft dem Dialog mit Andersdenkenden verweigert und sich die Öffnung auf Gott als radikale Andersheit zumindest teilweise verbarrikadiert. Aus solchen Positionen heraus entwickelt sich Gewalt. Dabei sind der Kirche trotz ihres Engagements für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft Fehler und arge Verfehlungen unterlaufen.

Dies gilt auch für die Auseinandersetzung mit der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“. Die Erklärung von 1789 wäre nicht so entwickelt worden, wenn nicht der Stand der Kleriker und viele Katholiken an der Konzeption und Redaktion mitgewirkt hätten. Das Nein Papst Pius’ VI. fußte letztlich auf der Entscheidung der französischen Revolutionäre, den Klerus zu nationalisieren und von Rom loszukoppeln. Aber auch die Tatsache, dass die Erklärung in „Gegenwart und unter dem Schutz des höchsten Wesens“ abgegeben wurde, d.h. als neue Religion auftrat, machte sie zum Gegner Roms. Darüber hinaus passte auch die Gewissens- und Religionsfreiheit der Kirche nicht. Die Position des sich in Jesus Christus offenbarenden Gottes als Wahrheit und der Kirche als Wahrheitsverwalterin waren damit gefährdet. Hinzu kam, dass während der Französischen Revolution und in den Jahren des Terrors, die folgten, viele Menschen und Priester ermordet wurden, was natürlich nicht zur Glaubwürdigkeit der Revolutionäre und der Erklärung beitrug. Auch die Säkularisierung des Kirchenguts machte die Kirche zu einem Gegner der Revolution.

Kritikpunkt waren sowohl für Papst Gregor XVI. (1768-1846) und Pius X. (1835-1914) die „schrankenlose Denk- und Redefreiheit“. Das ganze theologische Gebäude der Kirche stand auf dem Prüfstand. Stein des Anstoßes war auch Jahre später nicht die Frage des Einsatzes für die Gleichheit der Menschen und des Einsatzes für Gerechtigkeit, sondern – wie der „Syllabus errorum“ zeigt – die dekretierte Gewissens- und Religionsfreiheit. Man befürchtete, dass die Gesellschaft und die Kirche dem Relativismus verfielen und die kirchliche Hierarchie ihre Autorität verlieren würde. Für diese gespaltene Reaktion ist auch der sozial fortschrittliche Leo XIII. ein Beispiel. Ein zu enges Verhältnis von Autorität und Wahrheit verhinderte eine Neubestimmung der kirchlichen Positionen. Es blieb vielfach bei unbeholfenen Verteidigungsstrategien. Das imaginäre Festhalten an einer bestimmten Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinderte die Kirche – zumindest teilweise – daran, das Ideal von Mündigkeit und Subjektivität des neuzeitlichen Menschen zu verstehen, es zu unterstützen und aktiv mitzugestalten. Dabei wurde sie sicherlich auch geblendet durch den Umstand, dass das Individuum sich zuweilen vor der Freiheit fürchtet und sich lieber Diskursen, Ideologien, Fiktionen, ja selbst wissenschaftlichen Theorien unterwirft. Es erhofft sich damit Schutz vor der eigenen Triebhaftigkeit, Andersheit und Geheimnishaftigkeit. Mit ihrer politischen Doktrin isolierte sich jedenfalls die katholische Kirche weitestgehend und verzichtete damit auf eine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Freiheitsdenken.

Die Kirche hätte eigentlich auch anders reagieren können. Für Thomas von Aquin (1225-1274) beispielsweise verpflichtet das Gewissen, ob wahr oder irrig, immer zum Handeln. Wer gegen sein Gewissen handelt, sündigt (vgl. Quaestiones quodlibetales III, q. 12, a. 2c). Das gilt selbst dann, wenn die vom Gewissen befohlene Handlung im Widerspruch zu den Vorschriften einer anerkannten Autorität steht. Selbst wenn also die betreffende Hierarchie objektiv im Recht ist, muss der Einzelne laut Thomas dem Gewissen gehorchen, denn dessen Autorität ist immer höher als die eines Vorgesetzten. Im Gewissen erfährt der Mensch nämlich unmittelbar das Gebot Gottes und dessen Gebot besitzt Autorität über alle anderen (de veritate q. 17, a. 5c).

Erst Papst Johannes XXIII. (1881-1963) war es klar, dass der Einsatz für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit der Menschen auch ein wichtiges Anliegen der Kirche sein müsste. Seine Enzyklika „Pacem in terris“ (11. April 1963) kann als die erste Menschenrechtserklärung der katholischen Kirche gelten, welche sich auf die Würde des Menschen begründet. Vor allem aber wurde 1965 die Religionsfreiheit aller Menschen im letzten Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils „Dignitatis humanae“ proklamiert: „Zugleich haben die Christen wie die übrigen Menschen das bürgerliche Recht, daß sie nach ihrem Gewissen leben dürfen und darin nicht gehindert werden. So steht also die Freiheit der Kirche im Einklang mit jener religiösen Freiheit, die für alle Menschen und Gemeinschaften als ein Recht anzuerkennen und in der juristischen Ordnung zu verankern ist.“ Dabei geht es ihr nicht nur um die Freiheit der Katholiken, sondern sie fordert diese Freiheit für alle Mitglieder religiöser Gemeinschaften, was mit Blick auf ihren früheren Absolutheitsanspruch von großer Bedeutung war.

Bis heute wurde die Erklärung der Menschenrechte durch die katholische Kirche nicht unterschrieben. Allerdings sollte man sich auch bewusst sein, dass sogar die Französische Republik sich nicht verpflichtet fühlte, den Text in ihren Kolonien auszuteilen. Auch nachträgliche Konventionen wurden erst viele Jahre nach ihrer Proklamation von Frankreich unterzeichnet.

Die Inspiration der Menschenrechte hat manches in der katholischen Kirche bewirkt. Im Rahmen der Kodexreform arbeitete die Kirche sogar an einem kirchlichen Grundgesetz, einer „Lex Ecclesiae fundamentalis“ (LEF) mit einem Grundrechtskatalog der Gläubigen. Der Kanon 3 dieser Lex enthielt sogar eine Definition der Menschenrechte als Rechte, die allen Menschen zukommen, und brachte damit zum Ausdruck, dass die Menschenrechte auch innerhalb der Kirche Gültigkeit haben. Dieses Projekt wurde jedoch nicht realisiert und dürfte wohl auch so bald nicht mehr in Angriff genommen werden. Realisiert hingegen wurde ein „Grundrechtskatalog“.

Die Sorge um den rechten Glauben blieb aber in der katholischen Kirche bestehen. Mit dem Motu proprio „Ad tuendam fidem“ (1998) hat Johannes Paul II. (1920-2005) die Gehorsamsregelung im Codex von 1983 noch verschärft. Alle katholischen Christen sollen mit ‚gerechter Strafe‘ bedroht werden, die die Positionen des Lehramts in Glaubens- und Sittenfragen ‚hartnäckig zurückweisen‘, nicht nur die unfehlbaren Lehrentscheidungen, sondern alle Äußerungen des päpstlichen Lehramts, d.h. etwa die zum Ausschluss der Priesterordination für Frauen. Vor allem die rechtlich relevante, theologisch aber nicht mehr nachvollziehbare Unterscheidung zwischen Mann und Frau ist problematisch. Papst Johannes Paul II. war der Ansicht, das Nein „endgültig besiegelt“ und die Debatte darüber beendet zu haben. Wenn er dies tatsächlich so gewollt hätte, so der Theologe Michael Seewald, hätte Johannes Paul II. seine Entscheidung als Dogma oder als unfehlbar deklarieren können – was er aber nicht getan hat. Von daher dürfen die Debatten weitergehen. Viele Argumente gegen die Weihe von Frauen wirken konstruiert. Autorität kann fehlende Argumente allerdings nicht einfach ersetzen. Es bleibt eine Herausforderung, dass sowohl der paulinischen als auch der menschenrechtlichen Sicht der Gleichheit von Mann und Frau nicht entsprochen wird. Damit zeigt sich letztlich auch eine problematische Beziehung der Kirche zur Sexualität.

Menschenrechtsverletzungen in der katholischen Kirche als Symptom

Fälle von Pädophilie, von Zwang zu körperlicher Arbeit, von körperlicher und psychischer Misshandlung sowie sexuellen Missbrauchs in der Kirche wurden zuhauf vor allem aus Deutschland, Irland, Chile, den Vereinigten Staaten und auch Frankreich berichtet. Junge Frauen, die Opfer sexueller Übergriffe geworden waren, nicht abtreiben durften und Kinder zur Welt brachten, wurden ihrer Kinder entledigt. Diese wurden in einigen Fällen verkauft oder sie starben wegen mangelnder Fürsorge. Bei Priestern, die Kinder zeugten, aber aus unterschiedlichen Gründen in ihrem Orden oder im Dienst der Diözese bleiben konnten, gab es Probleme im Hinblick auf das Recht der Kinder, die Identität ihrer Eltern zu erfahren und von ihnen betreut zu werden. Dieses Recht blieb ihnen häufig lange verwehrt. Dass die Kirche oft nur dann für die Kinder dieser Priester Unterhalt zahlt, wenn die Mütter Stillschweigen bewahren, wird ebenso mit Sorge betrachtet.

Missbrauch von Kindern – auch in nicht-kirchlichen renommierten Institutionen wie der Odenwaldschule – ist seit Jahren bekannt und wurde teilweise auch schon aufgearbeitet. Solche Akte gelten einerseits als Symptome einzelner Menschen, die jedoch teilweise unbewusst den Lebensraum der Kirche aufgesucht hatten, in der Hoffnung dort ihre Sexualität weiterhin unterdrücken, sublimieren oder ausleben zu können. Die kirchlichen Diskurse zur Wahrheit, Sexualität, Schuld und Vergebung, sowie die institutionelle Selbstüberschätzung der Kirche als „totale Institution“ unterstützten diese Vorstellung.

Die allermeisten Fälle, welche jetzt bekannt werden, stammen aus den Jahren zwischen 1945 und 1990. Immer mehr hat sich dabei gezeigt, dass die Kirche – wie auch andere Institutionen – nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte und diese Ereignisse teilweise aus Unwissenheit aber auch aus Eigeninteresse vertuschte. In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der Verfehlungen dann drastisch zurückgegangen.

Der Kirche in ihrer diesbezüglich insgesamt defensiven Haltung war es in der Vergangenheit wichtig, Skandale zwar nach Rom zu melden aber unbedingt geheim zu halten. Damit allerdings wird ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Aus Ignoranz, Arroganz und hie und da sogar unter Mitwisserschaft des Staates haben Kirchenfürsten sich kaum um die Opfer gekümmert, sondern vor allem um das Wohl des Täters und der Kirche. Ist dieses Vertuschen seitens der Verantwortlichen möglicherweise ein unbewusstes Eingeständnis der strukturellen Mitschuld aufgrund einer diskursiven Überschätzung des Spirituellen und einer Unterschätzung der Sexualität? Ein solches Verhalten steht in absolutem Gegensatz zur Botschaft des Evangeliums. Somit wurden diese Bischöfe mitschuldig gegenüber den misshandelten Kindern und Jugendlichen.

Der Missbrauchsskandal deckt auf, daß die Kirche nicht ganz in der Moderne und der demokratischen Gesellschaft angekommen war. Auf Missbrauchsfälle kann man nicht einfach spirituell und moralisch antworten. Es braucht einerseits das klare Bekenntnis zum Rechtssystem des Staates und u.a. dem Befolgen der Meldepflicht. Dies ist insofern unproblematisch, da die Christen sich von ihrem Ursprung her als Einheit innerhalb eines Staates verstehen und sich an das staatliche Recht zu halten haben: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ heißt es bei Matthäus 22,21. Damit wären indirekt auch die Menschenrechte angewandt worden, da letztere zumindest in den Demokratien das Fundament unserer positiven Rechtssysteme sind.

Andererseits zeigt diese Krise, dass es neben der erzieherischen und spirituellen Bemühungen der Kirche, um die Akzeptanz der Mündigkeit und realen Verantwortung der Katholiken gehen müsste. Diesbezüglich zeigt sich, dass es keine ausreichenden institutionellen Strukturen gab, in denen die Laien ihren Platz als Subjekte einnehmen und an der Gestaltung, Leitung und Denken der Kirche teilnehmen können. Jedem dürfte es heute einleuchten, dass die fast ausschließliche Koppelung und Reduzierung der realen Leitungsfunktionen auf zölibatäre männliche Priester neben einigen spirituellen Vorzügen viele problematische Aspekte in sich birgt. Diese Beschränkung ist in einem demokratischen und modernen Kontext eigentlich unverantwortlich.

Der Kirche geht es als geistliche Gemeinschaft auch um Versöhnungsprozesse. Auch dies stellt sicherlich eine große Herausforderung dar, ja jeder Fall anders gelagert ist. Wie kann dem Opfer wie dem Täter geholfen werden, um zu einem würdigem Leben zu finden?

Mir scheint, dass die katholische Kirche von ihren Fundamenten her berechtigt ist, sich kreativ neu zu entwerfen, in dem sie das staatliche Recht vollkommen respektiert, neue Strukturen entwickelt, welche dem Ethos der Demokratie entsprechen ohne dabei eine Spiritualität der Barmherzigkeit aufzugeben. Lange hat sich die Kirche schwer getan diese unterschiedlichen Ebenen unter dem Gesichtspunkt der Moderne und der Menschenrechte sinnvoll und effektiv zu artikulieren.

„Kein neuer Wein in alten Schläuchen“

Nach Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes von Missbräuchen und der Unfähigkeit bzw. der zögerlichen Bereitschaft der kirchlichen Hierarchie, Verantwortung einzugestehen, braucht es jetzt Diskurs- und Strukturänderungen in der Kirche. Ansonsten ist sie nicht mehr glaubwürdig und es wird über kurz oder lang zu einem noch stärkeren Exodus der Gläubigen und zu Abspaltungen kommen. Letztlich aber sollte es ein Zeichen sein, dass die Kirche sich als Institution neu für die Würde des Menschen einsetzt, auch wenn sie sich dazu transformieren muss.

Die Kirche ist wie jede andere Institution auch durch unbewusste Exzesse und transgressive Akte geprägt. Der berühmte Theologe Hans Urs von Balthasar beschreibt die Kirche dementsprechend sowohl als „Jungfrau“ und „Dirne“. Sich der bewussten und unbewussten Vorstellungen, Überschätzungen und Blockaden vor der Erneuerung bewusst zu werden, ist von Nöten.

  • Wie jüngst noch in der Schweiz, müssen die Kirchen sich selbstverständlich verpflichten, die Sexualdelikte an die Staatsanwaltschaft zu melden. Bei der Aufklärung der Fälle sollte sie sich immer auch von außerkirchlichen Experten helfen lassen. Manche Opfervertretungen weisen darauf hin, daß die betroffenen Opfer mit der Meldung einverstanden sein müssen. Letzteren sollte allerdings auch erklärt werden, dass sie mit ihrem Einverständnis eine profunde Aufklärung durch die Justiz ermöglichen und damit weitere Taten verhindert werden können.
  • Die katholische Kirche sollte zunächst zeigen, dass es ihr nachweisbar um Aufklärung und echte Gespräche mit den Betroffenen geht. Sie muss dafür Sorge tragen, dass die Opfer psychische und materielle Unterstützung erhalten. Nur so können Letztere sich trotz erlittener Traumatisierungen als Subjekt neu „entwerfen“.
  • Sie muss zur innovativen Machtteilung bereit sein und echte partizipative Strukturen entwickeln. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken fordert eine Trennung innerhalb der Kirchenstrukturen von Exekutive und Judikative. Es braucht eine unabhängige kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit für den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Dies würde die Bischöfe – zumindest teilweise – von vielen Interessenkonflikten befreien. Sie könnten damit vor allem aber auch nicht mehr so leicht Nachforschungen über ihre eigene Person verhindern.
  • Vor allem muss die Kirche jedoch ihre anachronistische Sexualmoral, ihre Überschätzung des Geistlichen und die Unterschätzung der Triebe, des Begehrens und Genießens für das menschliche Leben sowie ihre traditionelle Homophobie überwinden. Dazu gibt es genügend seriöse theologische Vorarbeiten.
  • Will man in Zukunft versuchen, die Zahl der Missbrauchsfälle weiter zu reduzieren, muss man sich aber auch der heutigen Probleme von Priestern und Ordensleuten bewusstwerden: Es handelt sich in der Regel um individuelle Schwierigkeiten bezüglich des Subjektseins. Sie können in Zusammenhang stehen mit der sozialen Rolle des Priesters, mit professionell bedingten Frustrationen in einem komplizierten Umfeld und mit Vereinsamung. So mancher ist chronisch überfordert auch wegen unerfüllter Liebes- und Zuwendungsbedürfnisse.
  • Um effektiver handeln zu können, braucht die Kirche andere, wirklich synodale Strukturen, damit auch gewählte Päpste, Bischöfe und Gemeindeleiter Neuerungen legitimiert vorantreiben können. Sie braucht nicht-zölibatäre Männer und Frauen, die Gemeinden leiten.
  • Strukturelle Veränderungen wie etwa die Öffnung der Gemeindeleitung und von Frauen geleitete Eucharistiefeiern fordern das spirituelle, theologische und humanwissenschaftliche Denken heraus. Eine neue Hermeneutik kann die Kirche dem Evangelium wieder näherbringen. Damit kann sie sich auch effektiver für die Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit der Menschen einsetzen.

Es geht hier nicht darum, die Kirche wieder attraktiv zu machen. Es handelt sich vielmehr um ein seit langem überfälliges und notwendiges Zurück zu den eigenen Quellen. Folgt auf diese Neu- und Rückbesinnung kreatives Handeln, dann wird die originelle Inkarnation der Botschaft Jesu wieder denkbar. Die Voraussetzung dafür ist der Dialog und dabei insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Diskurs der Menschenrechte, dem demokratischen Ethos mitsamt der derzeitigen Herausforderungen.

Die katholische Kirche wird gebraucht

Einige Autoren, wie z.B. der französische Historiker Marcel Gauchet, kritisieren an den Erklärungen der Menschenrechte, dass sie zu gut funktionierten, in dem Sinne, dass sie den Individualismus stark gefördert hätten. Dadurch sei das Engagement für die Kollektivität aus dem Blick geraten. Für viele Global Player und selbst für viele Staaten rückt so z.B. die Verarmung breiter Schichten in Folge der Globalisierung des Kapitalismus in den Hintergrund. Die Freiheiten der Globalisierung haben heute allerdings ungeheure Folgen angenommen. Sie führen zu neuen Kriegen, Sozialabbau, unterhöhlen die Grundfesten der Demokratie und fördern „fragile Staaten“. Damit entsteht ein Vakuum, das gefüllt wird von Populisten, aber auch von kriminellen Banden. Eine bestimmte Art des Fundamentalismus und Terrorismus hat hier ihre Wurzeln, wie Manfred Nowak richtig behauptet.

Hier zeigt sich allerdings auch, dass die katholsche Kirche muss sich nicht nur verbal, sondern auch effektiv mit Hilfe ihrer sozialkaritativen Organisationen für die Weiterentwicklung von gerechten und demokratischen Strukturen einsetzen. Der Aufruf von Hannah Arendt nach dem „Recht auf Rechte“ heißt heute in Zeiten des globalisierten Kapitalismus mitsamt seiner digitalen Manipulationsmöglichkeiten weltweit etwas Anderes als noch vor einigen Jahren. Und die Zeit brennt, wie wir dieser Tage in Paris erleben.

Der schmerzhafte Prozess der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals kann ein Zeichen dafür sein, dass wir Menschen es fertigbringen uns zu transzendieren, wenn wir aus Fehlern lernen.

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