Ein intensives Leben

Glück aus christlicher Perspektive

Der Schöpfungsplan sieht nicht vor, dass der Mensch glücklich wird, schreibt Freud.1 Und doch ist es nach Aristoteles eine Tatsache, dass der Mensch nach Glück strebt.2 Das Glück ohne das Gute und ohne das rechte Maß funktioniert nicht, so Spinoza. Jouis! Genieße! Enjoy! Dies forderte Lacan und formulierte damit einen neuen Imperativ des Genießens3, mit dem wir mittlerweile täglich in unserer neoliberalen Gesellschaft konfrontiert sind. Angetrieben von einem Wirtschafts­system, das voll und ganz auf Triebhaftigkeit und die Erotisierung der Konsumgüter setzt, streben wir vielfach nach dauerhafter Verfügbarkeit der begehrten Produkte, absoluten Befriedigungen, Sicherheit auf vielen Gebieten, nach Freiheit von alten Zwäng­en, sozialem Erfolg, körperlicher Fitness und Nutzenmaximierung. Alles muss immer möglich sein. Gelingt dies nicht, sind wir unzufrieden, fühlen uns traurig oder gar hilflos. Dann beschuldigen wir uns sogar unbewusst, nicht von allen existierenden Möglichkeiten profitiert zu haben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Lust am Verzicht, und zwar dort, wo bestimmte Gefahren lauern. Wir unterwerfen uns neuen Regeln der Versagung und verfallen der „leidenschaftlichen Abhängigkeit“4. Wir sorgen uns dann etwa tagtäglich um unsere Gesundheit, unser Aussehen, unsere Kontakte, unser Aktienportfolio. Vielen anderen, den vom System ausgebeuteten Menschen, Geflüchteten, psychisch oder körperlich Misshandelten stellt sich nicht selten die Frage, ob das Leben überhaupt lebenswert ist. So fordert unser Wirtschaftssystem seine Opfer, so, wie es die Religionen früher real oder symbolisch eingefordert haben.5

Religionen haben sich immer schon mit dem Streben des Menschen nach Glück beschäftigt. Dabei verstehen sie sich als Verwalter des Heils. Allerdings verbinden viele Menschen Religion und Kirche mit Tyrannei, Heuchelei, Unterdrückung der Lust, hartnäckigem Aberglauben, ja auch mit Unglück und Unheil. Der befreiende Kern, das Subversive, das Religion (wie auch Weltanschauungen) oft antreibt, verliert sich nicht selten wegen der Angst vor dem eigenen emanzipatorischen Potenzial und dem damit verbundenen Drang, den Menschen bis in seine Intimität hinein zu kontrollieren. Dies galt auch für das Christentum. Im Folgenden möchte ich trotzdem versuchen aufzeigen, welche emanzipatorische Kraft sich in biblischen Texten befindet und welche Impulse der christliche Diskurs für ein lebenswertes und geglücktes Leben geben kann.

Der exzessive Mensch

Bereits im ersten Schöpfungsmythos der Bibel (Genesis 1,26-28) wird interessanterweise der Mensch als Ebenbild Gottes bezeichnet. Das menschliche Wesen ist somit gekennzeichnet durch Freiheit, Unendlichkeit, äußerste Lebendigkeit: Exzess des Lebens. Der Mensch transzendiert sich selbst. Er entdeckt und entwirft sich und die Welt immer neu. Damit bedeutet die Metapher der Ebenbildlichkeit aber auch Rätsel- und Geheimnishaftigkeit des Menschen. Es wohnt ihm also eine unergründliche Andersheit inne.

Das Bewusstsein, etwas Hervorragendes zu sein, bringt Menschen auch dazu, narzisstisch ihre Macht erweitern zu wollen. Wir möchten nicht, dass andere, sogenannte Autoritäten und schon gar kein Gott uns eingrenzen. Wir sind berechtigterweise sehr darauf bedacht, dass niemand von unserer Endlichkeit profitiert und Genuss aus unserer Begrenztheit zieht. Dies ist nicht allein ein modernes Phänomen. Es zeigt sich schon im Mythos der sogenannten Versuchung Evas im dritten Buch Genesis. Jahwe wird hier vom Menschen als eifersüchtiger Gott, der des Menschen Untertänigkeit genießt, verstanden. Die Frau als Spenderin des Lebens aber rivalisiert mit ihm. Auch sie will von der Allwissenheit kosten. Das Begehren nach Allwissenheit fördert Misstrauen, Eifersucht, Manipulation, sogar Tyrannei. Vertrauen hat da, wie der Mythos zeigt, keinen Platz mehr. Somit kann es nicht anders kommen, als dass der Mensch aus der Lebensfülle des Paradieses verwiesen wird. Er lebt fortan im Mangel, was ihm aber die Genugtuung gibt, dass er sich seine Welt – zwar unter Mühen und Schmerzen – selbst schaffen kann und Verantwortung übernimmt.

Im Buch Exodus erleben wir das Volk Israel auf der Suche nach Sicherheit und Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, also auf der Suche nach Glück und Identität. Während seines Zuges durch den Sinai konstruiert und dekonstruiert es seine Gottesvorstellung. Letztere ist schon eigenartig, insofern Gott als äußerst dynamisch und befreiend, aber auch als ganz vergeistigt und unvorstellbar gedacht wird. Das Volk weiß aber auch, dass „der Mensch dem Menschen ein Wolf“6 sein kann. Und so fordert diese Einsicht die Entwicklung zivilisatorischer Strukturen mitsamt ihren Regeln, die im Dienst von Sicherheit stehen. Vielfach geht es darum, dass niemand sein Leben auf Kosten des anderen genießt. Die Zehn Gebote bilden ein solches Regelwerk. Sie sollen einen gewissen Freiraum ermöglichen, der dem Menschen dabei hilft, ein gelingendes Leben zu führen. Solche Regelwerke können allerdings auch zu Legalismus, Unterdrückung und einer Alltagsexistenz auf eingefahrenen Gleisen führen.

Aber der Mensch will mehr als nur Sicherheit. Nach Glück strebend sucht er Anerkennung7 bei seinen Mitmenschen. Der Fromme erwartet diese Bestätigung von seinem Gott. Ein Paradebeispiel dafür ist Hiob, der aufgrund seiner Tugendhaftigkeit sein Recht auf Glück einfordert. Trotz seines schmerzenden Unglücks bringt er es schließlich fertig, im Streitgespräch mit Gott seine berechnende Logik, seine Projektionen und kindlichen Abhängigkeiten gegenüber Gott fallen zu lassen. Er kann den Verlust seiner Besitztümer und die innere Leere, mit der er konfrontiert ist, akzeptieren. Das Leben ist letztlich unberechenbar. Diese Einsicht hilft ihm, frühere Vorstellungen von Recht auf Glück fallen zu lassen und das Leben in seiner Lebendigkeit zu lieben: „creatio ex nihilo“. Trotz des Unglücks kann Leben neu und anders glücken, wenn man wie Hiob bezüglich des Seins in einen Diskurs der Unbegreifbarkeit eintritt.

Der begehrende Mensch

Zentral für den Bezug Jesu zum Glück sind wohl seine Taten und seine Art, auf Menschen so zuzugehen, dass sich in dieser Begegnung unerwartete Möglichkeiten eröffnen. Seine Botschaft stellt eine „révolte logique“ (Rimbaud) dar. In den Seligpreisungen des Matthäus-Evangeliums (5,1-12) lesen wir, dass Glückseligkeit den Armen, den Hungernden, den Traurigen, den Barmherzigen, den Verfolgten, den Sanftmütigen oder den Friedenstiftenden zukommt. Es geht dabei nicht um einen ethischen Rigorismus. Im Gegenteil! Lebendigkeit entfaltet sich, wenn wir nicht blind sind für unsere individuelle oder gesellschaftliche Fragilität, unseren Mangel sowie den Mangel des Anderen. Dort, wo wir nicht angstgetrieben und egozentrisch nach eigenem Glück bzw. dessen Absicherung streben und wo es nicht primär um Genuss und Macht geht, kann sich der starke Wunsch nach Begegnung mit dem anderen, nach Gerechtigkeit und Frieden entfalten. Es geht Jesus also nicht um weniger Leben, sondern um ein intensiveres Leben. Die Entwicklungspsychologie und die Psychoanalyse zeigen uns, dass es kein Wachsen ohne Trennung gibt.8

Jesus wird so zum Symbol für ein „Neues-Sein“: Fesseln, Determiniertheiten werden überwunden durch unbedingte Liebe, d.h. durch die Akzeptanz des Inakzeptablen, wie Paul Tillich schreibt.9 In dem Sinne begegnet Jesus auch der „Ehebrecherin“ (Johannes 8,1-11). In der Liebe bejaht er die Wirklichkeit, das Reale des anderen, sein Selbstsein und damit seine Freiheit.10 So kann Leben, kann Begehren einen neuen Anfang nehmen.

Als begehrendes Wesen macht sich der Mensch nicht an einem Objekt fest. Seine Freude findet er im Fortschreiten. In diesem Sinne schreibt Michel de Certeau: „Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewiss­heit des Fehlens von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht. Er kann nicht hier stehen bleiben und sich mit diesem da zufriedengeben. Das Verlangen drängt voran, weiter, anderswohin. Es wohnt nirgendwo.“11 Der Mensch sucht anhaltendes Glück, Unendlichkeit, das Unmögliche oder Ewigkeit, wie Nietzsche schreibt.12 Er lebt im Exzess, auf den er ja strukturell angelegt ist.

Der offene Mensch und das Glück

In der Begegnung mit anderen Menschen geschieht es, dass wir uns von der Welt oder den Worten des anderen berühren lassen. In der Begegnung ereignet sich etwas in uns; aus ihr entspringen neue Gedanken, Projekte und Worte. Neue Ideen, Ideale, Sichtweisen treten zutage und lassen uns nicht mehr los. Die Wahrheit ist hier Ereignis.13 Sie ruft uns aus alten Vorstellungen heraus. Demgegenüber lullt die Lüge uns ein, wir bleiben den „Vor-stellungen“ verhaftet. Davon zeugen die vielen Berufungserzählungen der Propheten und das Damaskus-Erlebnis des Paulus.

Glück empfinden wir oft im Nachhinein, nämlich dann, wenn wir zuvor Öffnung erlebt haben, wenn wir neue Aspekte des Lebens, neue Diskurse, neue Herausforderungen erfahren haben, wenn wir neue Möglichkeiten in uns entdeckt und neues Engagement gelebt haben. Wir empfinden es, wenn wir den Wunsch nach schneller und billiger Befriedigung aufgeben konnten, wenn es uns gelungen ist, einen Sprung zu machen und obsolete Vorstellungen durch freiere, komplexere Sichtweisen zu ersetzen.

So geschieht Offenbarung immer dort, wo die Begegnung mit der Welt und dem anderen zum Ereignis14 wird und wir uns näher kommen in unserem Begehren. An dieser Stelle kommen wir einer Antwort auf die Fragen nach dem „Che vuoi“ (Was will der andere von mir?) und unserer „Be-rufung“ näher.15 Im Sprechen, in der Interpretation wie auch in unserem Handeln erneuert und wächst unsere Welt, unser Leben genauso wie das Unbewusste und das Unbegreifbare.

Die Gnade der Nicht-Koinzidenz

Öffnung zum Exzess des Lebens geschieht dadurch, dass der andere und das Andere als Rätsel immer jenseits unserer Vorstellungen liegen. Auch wir selbst bleiben uns rätselhaft. Eine definitive Identität und Koinzidenz zu erlangen, gelingt uns nicht. Diese Unmöglichkeit fordert uns heraus, ja sie fördert uns. Sie ist die Gnade der Leere. Der Signifikant „Gott“ steht für diese Unmöglichkeit. Wir begegnen ihm allerdings verständlicherweise nicht in seiner absoluten Differenz und Alterität, sondern immer nur in der Alterität des Nächsten.16

Gott selbst ist nicht einfach identisch mit sich selbst. Dem Neuen Testament nach entleert er sich seiner Gottheit, seiner Allmacht, wie Paulus schreibt (Phil, 2, 6-7). Er inkarniert sich in Jesus Christus: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen“.

Auch Jesus wird, so der biblische Bericht, mit dieser Leere, dem „Fehlen“ seines Vaters konfrontiert: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ spricht Jesus am Kreuz. Seine Vorstellung von Gott muss er dekonstruieren. Gott-Vater ist kein phallisches Objekt. Aber er bleibt als Abwesender Referenz, „Gesprächspartner“. Diese Leere ist konstitutiv für das Christsein. Paul Ricœur konnte dieses Loslassen leben.17 So schreibt er: „Seulement l’idée de la grâce. La confiance dans la grâce. Rien ne m’est dû. Je n’attends rien pour moi, je ne demande rien ; j’ai renoncé – j’essaie de renoncer ! – à réclamer, à revendiquer. Je dis : Dieu, tu feras ce que tu voudras de moi. Peut-être rien. J’accepte de n’être plus. Alors une autre espérance que le désir de continuer d’exister se lève.“

Wir wissen letztlich nicht, warum es etwas gibt und warum es nicht nichts gibt, und wir wissen auch nicht, was nach dem Tod geschieht. Die christliche Botschaft interpretiert dieses „Nichts“ nach dem Leben in der Logik des Heils und der Fülle des Glücks. Angesichts der Misere des Menschen galt diese Hoffnung, wie Kant und Marx sagten, auch als Beruhigungsmittel, als Opium. Spätestens nachdem die christliche Theologie durch das Feuer der Aufklärung und der Moderne gegangen ist, versteht sie auch die Gefahren des Spekulierens über das Leben nach dem Tod. Die Metaphern wie „Leben nach dem Tod“ und „Auferstehung“ bleiben wichtig. Sie drücken zunächst aus, dass das menschliche Leben nicht zu reduzieren ist auf das, was wir von ihm wissen. Es ist nicht einfach nur, auch nicht nur das Gegenteil von Tod. Es geht nicht um das Negieren des Todes, sondern darum, dem Tod nicht das letzte Wort zu lassen. Dies hat auch Auswirkungen auf das Leben vor dem Tod. Es fördert eine Lebensform, welche gegen die Banalisierung und Normierung ankämpft.

Es ist wichtig, sich dem Exzess des Lebens auszusetzen, den Mut der Wahrheit zu leben und die Gnade des Ereignisses anzunehmen. Bei den Jüngern Jesu geschieht dies u.a. an Pfingsten. Nach dem Tod Jesu Christi sind sie offen dafür, aus demselben Geist, aber in gemeinsamer Verantwortung zu leben: „Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns.“ (1. Johannes, 4:12) Und so fühlen die Jünger sich frei, den Weg Jesu in Gemeinschaft neu und differenziert zu interpretieren. Der gewollte Bezug zur gegenseitigen Alterität, die Gemeinschaft zu dritt ist Garant für Lebendigkeit. Dass dies sich in den Jahrhunderten der Kirche leider nicht so in Freiheit weiterentwickelt hat, wissen wir.

Aus all dem kann man wohl im Sinne christlicher Anthropologie sagen, dass wir dort glücklich sind, wo wir – in der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft – Öffnung, Freiraum und Gnade erfahren. Sich auf das Leben einzulassen, ist die Herausforderung, wissend, dass es sich zurückzieht, wenn wir es beschränken. Wir brauchen die Auflösung und Neuinterpretation des Gewohnten, um zu neuem Glück zu kommen. Solches erzählt uns das Neue Testament mit dem Wort Jesu: Der Sabbat ist um des Menschen willen da, und nicht der Mensch um des Sabbats willen. (Markus 2,27). Für diese neue Sichtweise muss man allerdings offen sein und bereit, etwas zu riskieren. So notierte etwa Peter Handke am 1. Mai 1990 zur biblischen Emmaus-Geschichte in sein Tagebuch: „Die Kraft der Offenheit (die mir immer wieder fehlt; auch das Schreiben verschließt mich manchmal, statt mich zu öffnen). Wie oft fehlt mir das brennende Herz.“18

Das Experiment Nächstenliebe

Die Öffnung, wie sie der christliche Diskurs heute versteht, setzt eine bestimmte Art von Vertrauen voraus. Es ist das Vertrauen, dass Liebe sich durchsetzen kann, dass sie damit absolut metaphorisch gesprochen göttlich ist. Den Glauben an die Liebe stelle ich mir vor wie eine gelebte „Hypothese“, die man forschend Schritt für Schritt neu ausprobiert. Als freier Mensch muss jeder für sich selbst dieses Experiment auf sich nehmen. Im Gegensatz zum Naturwissenschaftler experimentiert er sozusagen an sich selbst und seinen Beziehungen zur Welt und seinen Mitmenschen. Somit setzt der Mensch sein eigenes Leben aufs Spiel. Glückt es oder glückt es nicht, in Liebe zu leben? Glückt es mir und den anderen, als Subjekte neu im Leben anzukommen? Das ist heute die eigentliche Frage des Christen! Dabei kann es dem postmodernen Chris­ten zweitrangig sein, ob Gott die Liebe ist oder ob das Streben nach Liebe göttlich ist.19 Beide Interpretationen können nie mit Gewissheit beantwortet werden. Von entscheidender Bedeutung sind die Hoffnung und der Glaube an das Engagement für eine Globalisierung von Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Christen wie Nichtchristen erleben Freude und Erfüllung, wenn sie sich aus Liebe zum Leben und zum Nächsten engagieren – und wenn dies glückt.

Das Entscheidende solcher Liebe kann man auch am Beispiel der Freundschaft aufzeigen. Für die Entwicklung eines Verhältnisses zu uns selbst brauchen wir Gesprächspartner und Freunde. Freunde hat man allerdings nur, wenn man sich anderen gegenüber auch als Freund verhält, und zwar nicht um seiner selbst willen, sondern um ihretwillen.20 Eine zunächst eher utilitaristische Haltung kann schließlich zum Engagement führen. So gelingt echte Freundschaft. Was gibt es Schöneres, als Menschen zu helfen, sich zu öffnen und zu transzendieren, neue Wege zu gehen und sich nicht zu verfangen in einem einengenden Selbst. Solche Freundschaft lebt auch vom Verzeihen und Versprechen, also von der Offenheit. Selbst den Feind sollten wir nicht auf sein Feind-sein reduzieren.21 Solche Nächsten- oder Feindesliebe setzt immer auch die Annahme der eigenen Fragilität, Fremdheit und Unvollkommenheit voraus. Und daraus resultiert ein Mehr an Leben.

Unbedingtes, das uns berührt

Ein christlicher ideologiekritischer Diskurs kann den Menschen darin unterstützen, sich nicht mit kleinen Befriedigungen zufrieden zu geben. Er ermuntert dazu, sich dem Realen, etwa den bedürftigen Mitmenschen, zu stellen und der Freiheit neue Chancen zu geben. Manch traumatisches Ereignis fordert ein unbedingtes Engagement von uns. Diese Unbedingtheit kann auch das Wort „Gott“ bezeichnen. Es gilt als Sehnsuchtswort22, als insis­tierender Appel23, uns immer nach dem Mehr an Leben im Kleinen wie im Großen auszurichten. Dieses Insistieren will befreien von Hybris, Illusionen, Phantasmen und apokalyptischen Ängsten. Es will Mut machen, sich zu begegnen, miteinander zu sprechen und sich in der Gemeinschaft zu engagieren.

Die Signifikanten Gott-Vater, Jesus Chris­tus oder die Figur des Heiligen Geistes stehen für Öffnung. Vielfach wurden sie ideologisch missbraucht, um Unterschiede und Machtverhältnisse zu legitimieren oder zu verleugnen. Schwere Schuld hat die Kirche auf sich geladen durch die asketische Hybris, die starke Betonung der Kreuzesnachfolge, durch Lustfeindlichkeit und die Verbindung von Erbsünde und Sexualität, wie sie Augustinus konzipiert hat, sowie durch die Blindheit gegenüber dem Missbrauch ihrer Machtstrukturen. Und dennoch empfinde ich den christ­lichen Diskurs immer noch als befreiend und motivierend. Die Voraussetzung dafür war, dass ich von anderen ansatzweise gelernt habe, offen zu sein, mich zu engagieren und mit Leere umzugehen. Dies geschah in jungen Jahren auch durch die Begegnung mit René Vesque, Mitbegründer der Zeitschrift forum.

  1. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW Bd. XIV, Frankfurt a. M., S. Fischer Verlag, 1999, S. 434.
  2. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Erstes Buch, Zweites Kapitel, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1972, S. 4.
  3. Jacques Lacan, Le Séminaire, Bd. XX: Encore, Paris, Seuil, 1995, S. 10.
  4. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 2001.
  5. Todd McGowan, Capitalism and Desire. The Psychic Cost of Free Markets, New York, Columbia University Press, 2016, S. 241.
  6. Thomas Hobbes, Vom Menschen / Vom Bürger, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1994, S. 69.
  7. Axel Honneth, Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte. Berlin, Suhrkamp Verlag, 2018.
  8. Jean-Claude Liaudet, Du bonheur d’être fragile, Paris, Albin Michel, 2007.
  9. Paul Tillich, Le courage d’être, Paris, Casterman, 1967, S. 161.
  10. Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart, Klett-Cotta, 1989, S. 133.
  11. Michel de Certeau, La Fable mystique, Bd. 1, Paris, Gallimard, 1987, S. 411.
  12. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Stuttgart, Reclam, S. 218.
  13. Alain Badiou, Métaphysique du bonheur réel, Paris, PUF, 2015, S. 47.
  14. Ebd., S. 38.
  15. Jacques Lacan, Le Séminaire, Bd. IV: La relation d’objet, Paris, Seuil, 1994, S. 169.
  16. Denis Vasse, La vie et les vivants, Paris: Seuil, 2001, S. 44.
  17. Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort. Suivi de fragments, Paris, Seuil, 2004, S. 78-79.
  18. http://www.theologie-und-kirche.de/garhammer-handke-bibel.pdf (letzter Aufruf: 28. Oktober 2019).
  19. John D. Caputo, On Religion, New York, Routledge, 2017, S. 191.
  20. Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen, a.a.O., S. 58-59.
  21. Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München, C.H. Beck, 1983, S. 131.
  22. Magnus Striet, In der Gottesschleife. Von religiöser Sehnsucht in der Moderne, Freiburg i. Br., Herder, 2015, S. 14.
  23. John D. Caputo, On Religion, a.a.O., S. 207.

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