Eleonores Fuchsbau

Auszug aus E. Galaxien, Erzählungen

Gegen Mittag ruft David an. Ich sehe es an der Nummer, die ich nicht kenne — niemand, den ich nicht kenne, ruft an. Ich sitze vor dem klingelnden Telefon, schaue es an, als wäre es ein Fisch im Aquarium. Schade, dass es nicht stumm wird, während ich in die Küche gehe und zurückkomme. Mit einem Putztuch wische ich den Staub vom Hörer, puste mit kräftigen Lungen Wahltasten frei. So, nun aber Ruhe. Aber nur kurz, es klingelt wieder. Ich will das nicht, denke ich, das macht mich nervös. Und plötzlich habe ich das Ding in der Hand, und die Hand führt das Ding ans Ohr. Was folgt, ist ein seltsames, hohles Gespräch. „David, so und so. Verstehst du? Dies und das …“ Ich kann mich nicht daran erinnern, dir meine Telefonnummer gegeben zu haben. Ich weiß sie nicht mal selbst auswendig, hab mich nie hingesetzt und sie dann gelernt. Trotzdem sagen meine Worte dir jetzt das Nötigste: Wir sehen uns heute Abend, und setzen uns nebeneinander. Denn, wer sitzt schon gern allein? Dabei würde niemand einen bemerken, wenn man alleine säße, aber das will man nicht. Im Inneren, da fühlt man sich nicht wohl, mit dem Tisch nur und den eigenen Beinen darunter und niemand anderem zur Ablenkung der Zeit. Lieber Ablecken, die Zeit, denke ich, während du noch dein Gespräch in den Hörer raschelst. Ich war ja der Meinung, alles sei geklärt, habe innerlich längst aufgelegt, aber als ich zur Sicherheit noch mal reinhöre, redest du noch immer. Wir sehen uns also heute Abend. […]

Die Sonntage im Schwimmbad. Für sechs Euro in einem Becken hin und her. Aus meinem Badeanzug quillt weiße Masse; er treibt den Hüftspeck zum Rücken, den Busen zu den Achselhöhlen hinaus. Aber ich mache mir nicht einmal die Mühe, die Unförmigkeit unter einem Badetuch zu verstecken.
Fröstelnd stehe ich am Beckenrand, setze mich hin, lasse mich ins Wasser fallen, als wäre ich aus Beton. Die Blicke des Bademeisters spüre ich schon lange nicht mehr. Ich frage mich bloß, wie er noch immer jedem entblößten Stück Haut hinterhersehen kann, nach all den Jahren, all den Körpern. Aber ich will im Moment eigentlich nur an das Schönste denken, an diese eine Bahn, die nur mir gehört. Wenn jemand auf sie zusteuert, keuche ich und spritze unangenehm viel Wasser nach allen Seiten, eine Taktik, die sich bewährt hat. […] Am Anfang wollte das Hirn noch mitschwimmen, auf mich einreden. Ich habe es mit Ohropax versucht: Die weißen Böhnchen schwammen mir davon. Genau wie all die halbnackten Menschen hier, die so aussehen, als hätten sie in ihrem Leben Erfolg. Ich habe einen Gräuel gegen diese Leute und gegen alles, was sie in das Wort Erfolg hineinlegen. Für mich gibt es nur eine Gewiss-heit: Wenn ich mich von dem einen Beckenrand abstoße, kann ich mir ziemlich sicher sein, auf der anderen Seite anzukommen. Mit diesem Erfolg im Ärmel könnte ich es glatt mit ihnen aufnehmen. Also bloß kein Gesicht ziehen, als hätte man mir achtzig Jahre lang unrecht getan. Öberhaupt kein Gesicht machen. Schwimmen. Schwimmen von hier nach dort, und wieder zurück, den ganzen Sonntag lang, für sechs Euro. […]

Die letzte Laterne der Stadt passiert, schleiche ich am Rand der Dunkelheit entlang in ein Restaurant, das keinen sinnvollen Namen gefunden hat und keine sinnvolle Farbe. Zinnoberrote Wände. Ich stelle mich unauffällig in den Eingangsbereich. Draußen ist es zu kalt zum Warten. Eine Kellnerin legt argwöhnisch ihre Augen auf meine Schultern, lässt mich ansonsten in Frieden. Ich bin viel zu früh. Man könnte sich natürlich schon an einen Tisch setzen, einen Wein bestellen, die Serviette ausbreiten, oder was man sonst eben tut, wenn man sich beobachtet fühlt. Doch über der Haut liegt so eine schmierige Schicht und ich frage mich, ob die Haut darunter sich wohlfühlt. Tut sie nicht. Nicht wenn sie dort sitzen muss, wo andere Leute sich nichts mehr zu sagen haben. Ich wünsche mir, dass David
sofort ankommt, ich ihn fragen kann, ob er sich auch ständig so fühlt, als müsse er ein Jemand für andere sein. Selbst wenn es Fremde sind und für das eigene Leben so unsinnig wie dieses Zinnoberrot. Man müsste auf seinen Füßen stehen, als seien sie nicht bloß vorhanden, um in Schuhen zu stecken. Man müsste verdammt noch mal ein Punk sein und alles wäre halb so schlimm. Erzürnt setze ich mich an einen Tisch und versuche, mich in den Anarchismus hineinzufühlen. Eben will ich noch Messer und Gabel vertauschen, da berührt Davids Hand meine Schulter. Die Augen der Kellnerin, die dort noch lagen, kullern herunter. Jetzt fühle ich mich mutiger. „Ich kann hier nicht essen“, sage ich, „es ist zu rot“. David schaut sich um. Er gibt einen luftigen Ton von sich. „Mein Gott, du hast recht. Lass uns gehen.“ Er packt meinen Arm und wir gehen nicht zur Tür, wir hasten. Und als wir draußen sind, machen wir nicht langsamer, sondern fangen an zu joggen wie aus einem Instinkt heraus, immer schneller, immer schneller die Straße entlang, als wollten wir dem Marathon entlaufen, der unser Leben ist, als wollten wir flüchten vor dem Mist, von dem wir nicht wissen, ob er nur im Kopf existiert oder tatsächlich in der Welt. […]

Mehrere Stunden trinken wir Holziges. David hängt noch mit dem Oberkörper auf dem Sofa, während ich schon auf dem Teppich hocke, nach Krümeln und Fusseln stochere und kleine Häufchen daraus forme. Wir diskutieren miteinander wie in alten
Tagen, mit Protesten und Prothesen und ohne Sehnsucht nach Einverständnis. In Gedanken bin ich jedoch weit weg und übermütig in eine neue Zeitrechnung geraten: Scheint es nicht unmöglich, jemals wieder dem Japaner in der eigenen Wohnung entgegenzutreten? Sollte ich nicht hier einziehen? Euphorisch drehe ich mich zu David: „Ich will … ich möchte … “ Ich druckse verlegen herum, kämpfe mit einer hochprozentig betäubten Zunge. David schaut gespannt. Ich halte mich an krümeligen, fusseligen Häufchen fest, an jedem Atemzug. Ich will …
Ich möchte … Ich drücke dir meine geöffneten Lippen hastig an den Mund. Ein Kuss, der all unsere bisherigen Vorstellungen neutralisiert, der nichts sagt, nichts denkt, nichts fühlt. […]

Zuhause schalte ich den Fernseher an, setze mich an den Küchentisch und schneide Stoff für einen neuen Sofabezug zurecht. Das Mondgesicht sitzt neben mir, redet dabei auf meine Ellbogen ein — so wie ich es damals bei der Mutter getan habe, wenn sie Möhren geschnitten hat und keine Scheibe abgeben wollte. „Nun lass das“, sage ich, „scher dich weg“, und stülpe eine Tasse über den Winzling. Dass mir das nicht schon früher eingefallen ist! Zufrieden lege ich die Schere zur Seite, lösche das Licht. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Fernseher nach mir rufen, als wolle er mich ausziehen und lieben. Ich will nicht von Elektrogeräten geliebt werden. Ich weiß wieder: Ich bin nicht unausweichlich allein. Wenn ich es allerdings möchte, kann ich es bleiben. Und wenn das Alleinsein eine Entscheidung ist, ist auch das Zusammensein eine. Ich lausche in meine Brust hinein, wo die Vögel singen: „Ich will jetzt nicht mehr alleine sein.“

Als ich die frohe Botschaft höre, fange ich natürlich sofort an, zu spintisieren: Das Leben lebt nicht über mich hinweg, sondern ich über das Leben. Die Traurigkeit ist keine Vorstellung von mir, sondern ich eine von ihr … Ich fühle mich großartig, rufe dem Fernseher zu: „Ich gehe jetzt! Ich bin glücklich und in der Kneipe gegenüber, wenn du mich suchst.“

Bei Frau Krause liegt die Katze benommen auf ihrer Katzendecke. Sie hat die Gewohnheit, die Pfützen vom Boden zu lecken. Es sind an diesem Montag schon viele gute Vorsätze verschüttet worden. Ich streichele ihr über den Kopf, aber sie regt sich kaum, ist bereits dort angekommen, wo so mancher noch hin will. „Ein Wochentag, und du hier?“, fragt Frau Krause. Ich setze mich an einen Tisch, von dem aus ich die Katze sehen kann — als müsse ich ihren Rausch bewachen und sie vor allzu groben Händen schützen. An diesem Tisch überlege ich mir, wie ich David etwas mit Worten mitteilen kann, wovon ich noch nicht genau weiß, was es ist. So oder so, er wird es kapieren. Er ist als Kind nicht auf den Kopf gefallen, nicht dass ich wüsste. Ich weiß alles. Von den ers-
ten Erinnerungen bis zur Pubertät. […] Einen ganzen Sommer lang: Die Tage, an denen seine Mutter nicht heimkam und wir haben Steine in den Garten geworfen. Barfuß saßen wir auf der Terrassentreppe und haben abwechselnd an Flaschenhälsen gelutscht, als käme was Gescheites dabei raus. Am besten nie ganz bei Sinnen, am besten sich manchmal angeschaut und nicht mehr gewusst, wo man war, am besten Tage, die wie Wimpernschläge vorbeigegangen sind. Alles wird gut? Nun ja, vielleicht. Aber so geliebt, so dumm geliebt, das macht man nur einmal. So ein Hineindrängen und -wühlen, so ein zerfressener Haufen Liebesinnereien.

Das Weizenbier hat schon keinen Schaum mehr, ich habe noch keinen Schluck getrunken. Und wo ist eigentlich die Katze geblieben in dieser Spelunke, in der es so still ist wie in einem Schrank in einem Keller zehn Meter unter der Erdoberfläche. Ich höre nur ein leises Kratzen an der Tür. Tier in Räumlichkeiten wieder gefunden: Will hier raus! In Ordnung. Ich komme dir zur Hilfe. Das Gesäß bereits halb in der Schwebe, öffnet sich die Tür scheinbar von selbst. In dem mondigen Licht, das von draußen hineinfällt, stiehlt sich der Katzenschatten davon und vermischt sich mit einem zweiten Schatten: Will hier rein! Im Türspalt steht der Winzling. Er tritt ein, als besäße er einen Stammplatz am Tresen, und begrüßt jedermann mit einer herrischen und kollektiven Gebärde. Die Gefühle, denke ich, sind lauter Generäle, die auf einem herummarschieren und Befehle hinausbrüllen.

Ich sauge mächtig Sauerstoff in die Lungen, lasse ihn durch die losen Lippen wieder austreten. Das Pferdegeräusch. Ich hoffe der Winzling versteht meine Warnung. Das handkleine Ding hat sich schon auf einen Meter meinem Tisch genähert, schaut zu mir rüber. Selbst mit fiesen Blicken scheint es sich nicht aufhalten zu lassen. Kleine Griffe an meinem Hosenbein: Will hier rauf! Nervös lasse ich die Beine auf- und abwippen und versuche es abzuschütteln. Aber die Traurigkeit ist nicht dauerhaft abzuschütteln, sie kommt immer wieder, meistens am Bein entlang oder vom Boden auf die Bank gehüpft, auf der man gerade sitzt und große Fragen umstrukturiert, in der Hoffnung, dass sie kleiner werden. Sie werden meist komplizierter. […]

Kurz bevor es dunkel wird, verteilen sich Licht und Rauch in seinem Zimmer. Weil David am Schreibtisch sitzt. Und was soll man schon tun, wenn man jemanden nicht wecken will, außer rauchen und in der Dämmerung sitzen? In das Licht hineinstarren, bevor es dunkel wird? Ich liege verrenkt, aber günstig auf seinem Sofa. Öffne ich meine Augen, sehe ich nicht nur Leder, sondern auch ihn und sein graues Am-Schreibtisch-Sitzen. Krampfhaft versuche ich, mich nicht zu bewegen, damit ich ihn noch ein bisschen beobachten kann. Doch wenn es am schönsten ist, soll man gehen, lacht der Magen, dieser Verräter, und knurrt. David hat es scheinbar nicht gehört. Vor Freude spielt mein Herz Gitarre, Trompete und Schlagzeug. Viel zu laut! Erschro-cken schließe ich wieder die Augen, versuche wie eine Schlafende zu wirken. Aber das Glück der Öberhörten ist nicht auf meiner Seite. „Eleonore, bist du wach?“ „Ich bin so durstig“, sage ich dünn. David hält mir eine Flasche hin, von Nahem sieht er viel jünger aus. Ob mir kalt sei, fragt er weiter. Ich schaue an meinem Körper entlang, der nur marginal von Stoff bedeckt wird, und sage laut und deutlich: „Ja.“ Meine Hoffnung, dass wir dadurch die Nacht ins Schlafzimmer verlegen würden, war berechtigt. Aus acht Stunden natürlichem Schlaf machten wir achtundvierzig Stunden aufrechtgehaltenen Halbschlaf: Im Morgengrauen war es düster, wir sprachen dumme und kluge Dinge. Im Mittagsgrauen flüsterten wir Unerhörtes, aßen einen halben Laib Brot. Im Abendgrauen tranken wir dunkles Bier. Schöner hätte es nicht sein können. […]

Im Schwimmbecken schiebe ich blaues Gold hin und her. Warum eigentlich nicht stillhalten, mit dem Kran ins Chlorloch tragen lassen, mit betonierten Füßen. Aber nein, am siebten Tag, am Tag des Herrn, wirft das Leben sich freiwillig ins Wasser, müht sich ab mit all seinen Extremitäten. Nur um sich zu vergewissern, kein Kronkorken zu sein, der lustig vor sich hin schwappt. Ich bin ein Schwimmer, ein Fünfundzwanzig-Meter-Dompteur! Und längst nicht mehr nur am Ruhetag: sieben Tage lang, eine Stunde, Woche für Woche, stur. Seit David nicht mehr anruft. Seit er nicht mehr ans Telefon geht. Seit ich schwimmen und denken kann. Einfach nicht mehr hinschauen, wenn man am Beckenrand sitzt und beobachtet wie der Bademeister den Oberkörper von Dreizehnjährigen auf sich anbahnende Brüste untersucht, einfach hinein ins Flüssige, eine Stunde lang. Stur. Wegschwimmen. Zwischen zwei Armzügen ein Atemzug, ich kraule jetzt. Verprügele das Wasser wie einen Sandsack. Tropfen um Tropfen segne ich Brillengestelle und Dauerwellen. Dann müssen die Gemüsefrauen halt kurz ihre Brokkoligespräche unterbrechen, um sich meinen Segen abzuwischen. Ich bin unermüdlich. In jeder Stunde, in der ich nicht schwimme, wünsche ich mir nichts sehnlicher als zu schwimmen. Alles Denkbare auf Längen zu reduzieren. Auf Armzüge und Atemzüge. Es gibt auf dieser Welt keine bessere Möglichkeit sich in die Gegenwart hineinzuwühlen als dieses Schwimmen. Wenn ich im Wasser überleben will, darf ich mich nicht erinnern. Also ist David nicht mehr vorhanden, ist ausverkauft, vergriffen. Er hat mich abgelegt wie ein Kleidungsstück, wie Krümel vom Tisch gefegt, mit einer Handbewegung, einfach so. Aus allem Machbaren ausgestiegen. Ein neues Leben mit jemand anderem — oder auch nicht. Ein Kinobesuch — oder auch nicht. Ein Staubsauger, ein neues Duschgel — oder auch nicht. Das darf man gar nicht zu Ende denken. Das darf man überhaupt und ganz und gar nicht mal ansatzweise zu Anfang denken. u

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