Globalisierung der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit
Wie viele andere Institutionen stellt sich seit Jahren auch die Katholische Kirche der Migrationskrise als epochaler Herausforderung. Sie tut das sowohl in ihren Verlautbarungen und der wissenschaftlichen Aufarbeitung im Fach christliche Sozialethik, aber auch ganz konkret durch die unterschiedlichen Initiativen der katholischen Gemeinden und Organisationen. Im Folgenden sollen diesbezüglich einige Aspekte aufgezeigt werden. Zunächst aber sollen die Themen Fremdheit und Migration, wie sie in der Bibel verhandelt werden, ins Zentrum dieses Beitrags gerückt werden. Fremdheit und Migration als Thema der Bibel Flucht, Migration und Fremdheit beschäftigen die Schriftsteller der Bibel an zahlreichen Stellen, ganz gleich, ob es sich um Mythen, prophetische Aussagen, Gleichnisse oder Gebete handelt. Das verwundert nicht, da wir Menschen uns immer konfrontiert sehen mit Identität und Differenz, Entfremdung und Befreiung, Veränderungsprozessen und der Frage nach einem absolut Anderen. Die Bibel erzählt immer wieder von Menschen, die in Krisensituationen geraten, aus Angst flüchten oder dem eigenen Wunsch bzw. der Aufforderung Gottes folgen und ihre Heimat verlassen. In diesem Zusammenhang wird der Umgang mit der Fremdheit und dem Fremden besprochen. Das Risiko, das Heimische zu verlassen, Neues in der Fremde zu versuchen und die Offenheit für neue Erfahrung sind wiederkehrende Grundthemen. Dies zeigt sich an der Figur Abrahams, dem Stammvater der drei monotheistischen Religionen. So heißt es in Genesis 12,1-2: „Ziehe weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen.“ Unterwegs leiden Abraham und seine Frau und Halbschwester aber auch Hunger, der sie zur Flucht nach Ägypten zwingt. Erzählungen von Flucht aus politischen (Ex 2; Sam 2,15; Mt 2) oder familiären Gründen (Gen 16, 1-16) gibt es viele. Darüber hinaus wird beim Volk Israel immer wieder das angstvolle Phantasma beschrieben, die eigene Identität zu verlieren (Dtn 7,20; Jos 11,20). Sie sind Ausdruck der gesellschaftlichen Krisenerfahrung, in der das Volk Israel seinen Gesellschaftsvertrag bzw. seinen Bund mit Gott anders gestalten möchte oder in der es einfach orientierungslos ist. Mahnende Narrative des Identitätsverlustes und des Sichauflösens in anderen Völkern (Dtn 28,65-67), aber auch Erzählungen darüber, wie durch Akkulturation das Eigene durch das Fremde bereichert wird, kommen auf. (Jer 29,4-7). Angesichts der Erfahrung von wirtschaftlicher Not und Flucht kommt der Gastfreundschaft eine besondere Bedeutung zu. Diese Tugend durchzieht die ganze jüdische und christliche Tradition, etwa im Brief des Paulus an die Römer, aber auch in den christlichen Klöstern. Da Gastfreundschaft nicht evident ist, muss sie begründet werden. Letztlich ist es die eigene Fremdheit und Hilfsbedürftigkeit, welche das hebräische Volk selbst erlebt hat, die es zu dieser Gastfreundschaft motiviert. Auch im eigenen Land sind sie Fremde. Selbst Abraham ist ein Fremder im eigenen Haus (Gen 20,1). Es ist letztlich das dynamische Menschenbild des jüdisch-christlichen Glaubens, das sich in der Bibel immer neu konstruiert: Der Mensch, der sich selbst ein Fremder, ein Geheimnis ist, entdeckt sich neu, als „ein Mehr“ durch den Anderen, den er aufnimmt. Zu dieser Auffassung gehört im Wesentlichen die Offenheit für ein „Mehr“ gegenüber sich selbst und dem anderen. Oder anders ausgedrückt: es geht um die Liebe. Und so heißt es bei Leviticus 19,18: „Du sollst ihn lieben, wie dich selbst.“ In der hebräischen Spiritualität geht es somit also fundamental darum, Bedingungen zu schaffen, um Leben und Lebendigkeit zu fördern: „Du sollst (…) einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen.“ (Lev 19,14) Jeder Mensch soll sich als freies und verantwortungsvolles Subjekt entfalten können. Liebe und Gastfreundschaft reduzieren sich nicht auf Intersubjektivität. So macht Abraham (Gen 18) in der Begegnung mit Fremden die Erfahrung eines „Mehr“, eines Dritten, des absolut Fremdem, den wir mit dem Wort „Gott“ bezeichnen. Im Hören und Gehörtwerden entsteht Neues. Es geschieht „Offen-barung“. In dieser Offenheit kommt zum Ausdruck, dass „Wunder“ geschehen können, wie es Franz Rosenzweig thematisiert.1 So ist es die Hoffnung auf Freiheit und Befreiung aus der Entfremdung durch die Ägypter, welche die zu einem Volk zusammengewachsene Sippschaft Israel zum Exodus führt. Diese Flucht aus politischen Gründen prägt das jüdische Denken bis heute. Es entwickelte sich der Glaube, dass man aus der Entfremdung heimgeführt werden kann. Dies geschieht nicht ohne schwierige weltanschauliche, religiöse und individuelle Transformationen: Der Bezug zum Gott Jahwee und damit zum Sein insgesamt charakterisiert sich durch eine Bindung, welche im Dienste der Freiheit steht. Das Exessive der Nächstenliebe: die Feindesliebe Der christliche Diskurs knüpft an die jüdische Tradition an und ist fundamental durch die Liebe charakterisiert, welche keine moralische Vorschrift, sondern eine Grundbejahung und überfließende Wertschätzung des Anderen darstellt, aus der heraus ein „Sich-geben“ folgt. Die Klasse, Rasse oder Religion spielt nicht die tonangebende Rolle, sondern das Menschsein an sich und damit die Individualität. (Kol 3,10-11) Liebe heißt, den Anderen zu unterstützen, seinen eigenen Weg zu finden und ihm dort beizustehen, wo er materiell, psychisch, politisch oder spirituell im Mangel ist. (Mt 25,31-46) Christus wird mit dem Fremden identifiziert und der Fremde mit Christus: „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.“ Damit gilt im christlichen Verständnis die Liebe des Nächsten und Fernsten als universal. Durch die Identifikation des Einzelnen mit Jesus, dem „Menschensohn“, wird in religiöser, metaphorischer Sprache die Würde des Menschseins hervorgehoben. Damit stellt sich auch die Frage, was die Verweigerung von Liebe über meinen Bezug zu mir selbst sagt. Ein Gespür für das Traumatische des Anderen zu bekommen, setzt voraus, dass ich auch einen Bezug zu meiner Angst, Abschottung, Gleichgültigkeit und Unbeweglichkeit habe. Sich selbst lieben gilt also als Vorrausetzung für die Liebe des Anderen. Deshalb sollen wir den Anderen lieben, wie uns selbst. (Mt 22,39) Allzu leicht wird nämlich unbewusster Selbsthass zur Ursache von Intoleranz und Fremdenhass jeglicher Art. Andersherum müssen wir aber immer auch die Erfahrung gemacht haben, geliebt worden zu sein. Dies zeigt sich schön an der Parabel von einem ethno-religiös fremdem Samariter, der einem unter die Räuber gefallenen Hebräer hilft. (Lk 10,25-37) Durch diesen Akt wird der Samariter zum Nächsten. Diese Erfahrung, dass jemand mich in meinem materiellen, körperlichen und psychischen Mangel annimmt und mir hilft, ist eine Erfahrung von Liebe. Diese „An-erkennung“ durch den Anderen motiviert, solche Erfahrungen durch unser Handeln weiterzugeben. Im Bezug zum Anderen (Gott im Mitmenschen) sind wir uns dann nicht mehr nur „Nebenmenschen“ sondern „Nächste“. Diese Offenheit für den Mangel des Anderen ist allerdings nicht evident. Sie ist auch nicht auf das eigene Volk beschränkt. Bei Markus 7,24-30 zum Beispiel bittet eine heidnische Frau Jesus darum, ihre von einem unreinen Geist besessene Tochter zu heilen. Jesus resistiert zunächst. Die Antwort der Syrophönizerin: „Aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen.“ So bleibt Jesus keine andere Wahl, als die Tochter zu heilen. Die neutestamentlichen Texte zur Nächstenliebe gehen noch weiter und sprechen von Feindesliebe (Lk 6,32-34). In der Feindesliebe wird uns die Undurchdringlichkeit, die Fremdartigkeit des Anderen erst so richtig bewusst. Und gerade aufgrund dieser Fremdheit ist man oft bereit ihm zu „ver-geben“, ihm eine Chance zu geben. Aber auch wir selbst sind uns oft fremd und stehen uns selbst im Weg. Wie oft sind wir uns selbst ein Gegner, sind vom Tod und nicht vom Leben getrieben. Feindesliebe kann somit ein Akt des Exzesses, des Transzendierens sein – im Hinblick auf einengende Wahrnehmungen, Idealisierungen oder Angst. Sie durchbricht Phantasmagorien und Diskurse der Trennung und Abschottung auf eine neue Ordnung hin. Sie ermöglicht Begegnung mit dem anderen, als Subjekte mit seinen Wünschen, Leidenschaften, Traumata und Symptomen. Solche Erfahrung von Güte, gegenseitiger Annahme unserer Fragilität und Glaube, dass Unmögliches sich ereignen kann, wird wohl manches bewegen. Feindesliebe meint deshalb zunächst auch nachforschen, inwiefern wir uns selbst gegen Lebendigkeit und Neues wehren, wie es Matthäus 7,3-4 formuliert: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ Wenn Jesus sagt, „da, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20), meint er wohl auch, da, wo wir nicht mehr fürchten müssen, unsere Mängel „zu teilen“, da herrscht ein neuer Geist. In dem Sinne schreibt Slavoj Žižek: „Ich verstehe den Anderen, wenn ich erkenne, dass das, was mich beunruhigt hat (das Geheimnis des Andren sei), den Anderen selbst schon beunruhigt. Die Dimension des Universellen taucht also auf, wenn sich die zwei Mängel – meiner und der des Anderen – überschneiden.“2 Nächstenliebe versus Gerechtigkeit? Für Paul Ricœur gilt als ethisch ein Streben nach dem guten Leben, mit und für die Anderen, und zwar in gerechten Institutionen.3 Reicht die Nächstenliebe dafür aus? Liebe geht der Ethik voraus, sagt Ricœur. Letztere verstehe sich als Artikulation zwischen dem Streben nach einem guten Leben (teleologischer Aspekt) und dem Befolgen von Normen (deontologischer Aspekt). Beide Aspekte aber funktionierten nicht ohne „Überzeugungen“, die unsere Vorstellungskraft im Hinblick auf das Leben prägen und antreiben. Die Grundüberzeugung des Christen wird im Prinzip getragen von geschenkter Liebe, der radikalen Feindesliebe, der Bergpredigt als Logik des Exzesses, des „Übermaßes“4. Die Feindesliebe als radikalisierte Liebe und religiöse Grundüberzeugung treibt den Christen an, über eine „Logik der Gegenseitigkeit“, der Entsprechung bzw. des Ausgleichs, wie sie in der „Goldenen Regel“ formuliert wird, hinauszugehen. Somit erzeugt eine Dialektik zwischen einer „Logik der Liebe“ und einer „Logik der Gegenseitigkeit, der Gerechtigkeit“ eine kreative Spannung. Beide Logiken müssen in dieser fruchtbaren Spannung bleiben, denn sonst riskiert Liebe letztlich etwa durch „Nachgeben“ ungerecht und unmoralisch zu werden. Andererseits kann die Goldene Regel rein berechnend, utilitaristisch und zur Sicherung der eigenen Interessen verstanden werden.5 Nächstenliebe als Einsatz für globale Gerechtigkeit Was die Herausforderungen durch Flucht und Migration angeht, wurde 1912 nach der Reform der römischen Kurie das erste Amt für Probleme der Migration eingerichtet. Pius XII legte nach dem fürchterlichen Zweiten Weltkrieg in seiner Konstitution Exsul familia Nazarethana (1. August 1952) wichtige erste Richtlinien zum Umgang mit Migranten fest. Ein erstes wichtiges katholisches Dokument, das sich mit der globalisierten Welt auseinandersetzt und die Konsequenzen für die Katholiken zieht, ist das Konzilsdokument Gaudium et spes.6 In diesem wichtigen Konzilsdokument lesen wir unter Nummer 84: „Um bei der wachsenden gegenseitigen engen Abhängigkeit aller Menschen und aller Völker auf dem ganzen Erdkreis das allgemeine Wohl der Menschheit auf geeignetem Weg zu suchen und in wirksamerer Weise zu erreichen, muß sich die Völkergemeinschaft eine Ordnung geben, die den heutigen Aufgaben entspricht, vor allem im Hinblick auf die zahlreichen Gebiete, die immer noch unerträgliche Not leiden. Um diese Ziele zu erreichen, müssen die Institutionen der internationalen Gemeinschaft den verschiedenen Bedürfnissen der Menschen nach Kräften Rechnung tragen, und zwar sowohl in den Bereichen des sozialen Lebens, z.B. Ernährung, Gesundheit, Erziehung, Arbeit, als auch in besonderen Situationen, die hier und dort entstehen können, z.B. die allgemein bestehende Notwendigkeit, den Aufstieg der Entwicklungsländer zu fördern, die Leiden der Flüchtlinge in der ganzen Welt zu lindern oder auch Auswanderer und ihre Familien zu unterstützen.“ Die globalisierte Welt hat viele Vorteile. Die Aufenthalte von Studierenden und Jugendlichen in anderen Teilen der Welt, die Migration von WissenschaftlerInnen und allgemein von Arbeitskräften stellt eine große Errungenschaft, aber auch eine große Herausforderung dar, wie Benedikt XVI in der Erga migrantes caritas Christi feststellt und dabei die Katholiken auffordert, sich für die Rechte der Migranten einzusetzen. Papst Franziskus spricht in seiner Enzyklika Laudato si (2015) von der Herausforderung, „unser gemeinsames Haus zu schützen“ und „die gesamte Menschheitsfamilie nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen“. Die Ressourcen dieser Erde seien „ein kollektives Gut, ein Erbe der gesamten Menschheit und eine Verantwortung für alle. Wenn sich jemand etwas aneignet, dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten.“ (LS 95) Es geht heute aus päpstlicher Sicht und aus Perspektive der christlichen Sozialethik u.a. darum, die Gerechtigkeitstheorie auf die ganze Welt zu übertragen, wie Elke Mack es aufzeigt.7 Dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend geht es zunächst darum, in den jeweiligen Gesellschaften mehr Gerechtigkeit zu entwickeln. Es braucht eine intensive Zusammenarbeit der reichen Staaten für eine gerechte Weltordnung, einen „Weltgesellschaftsvertrag“, globale Institutionen und eine weltpolitische Autorität.8 „Globale Gerechtigkeit im christlichen Sinne besteht grundsätzlich darin, globale Wirtschaft und Politik als Mittel zur Humanisierung einzusetzen, so dass die Armutsfalle an der Basis der Pyramide überwunden wird.“9 Die christliche Sozialethik spricht seit den Zeiten der Befreiungstheologie von der „Option und Liebe für die Armen“. Auch Johannes Paul II übernimmt diesen deutlichen Standpunkt und benennt 1987 in Sollicitudo rei socialis (SRS: 16) bestimmte soziale, wirtschaftliche und finanzielle Mechanismen als „Strukturen der Sünde“. In diesem Sinne erklärt auch das apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (EG) von Papst Franziskus, dass das Wirtschaftssystem nur Legitimität erhält, wenn es armutsreduzierend und egalisierend wirkt. Arme werden zum Prüfstein für die Gerechtigkeit der Wirtschaft, sind „Subjekte und Ziel“ der Wirtschaft (EG: 203). Man könne also nicht mehr „auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen“ (EG: 204). Die Befähigung und Beteiligung des Menschen gilt als Voraussetzung seiner ganzheitlichen Entwicklung, wie schon Papst Johannes Paul II. festgestellt hat (SRS: 32,1). Kontroversen und Engagement Angesichts der Flüchtlingsbewegungen und der Gefahr, nur pragmatisch oder ideologisch mit ihnen umzugehen, entwickelte die Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins folgende Grundpositionen einer christlichen Migrationsethik10:
- „Gleiche Würde aller Menschen und menschenrechtliche Anerkennung genießen Vorrang vor allen Differenzen“.11
- „Die Person hat Vorrang vor jeder gesellschaftlichen Institution.“12 Heimbach-Stein schreibt dazu: „Recht, Politik und Wirtschaft sind vorrangig den grundlegend gleichen Ansprüchen jeder Person auf Zugang zu den Gütern, die zum Leben notwendig sind, und den Beteiligungsrechten für ein aktives Leben in der Gesellschaft verpflichtet.“13 Sowohl aus jüdisch-christlicher Sicht wie aus der Sicht der Aufklärung sollten wir bedenken, dass Migranten und Asylsuchende wie jeder einzelne Mensch „legitime Akteure ihrer eigenen Biographie“ sind.14
- „Das Gemeinwohl hat Vorrang vor partikularen Interessen.“15 Staatliche und internationale Ordnungen müssen gesichert und entwickelt werden, um dem Gemeinwohl aller zu dienen.
Als Antwort auf die Bedürfnisse von Flüchtlingen und Migranten hat der Vatikan 20 Handlungsschwerpunkte für den Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration und den Global Compact on Refugees entwickelt. Ein besonderes Augenmerk richten Papst Franziskus und die Sozialethiker auch auf die Angst vor Migration. Ängste sind legitim. Sie dürfen das Denken und Handeln aber nicht so weit bestimmen, dass sie zu Intoleranz führen. Integration gilt deshalb als kulturelle Herausforderung, sowohl für den Einwanderer wie für die lokale Bevölkerung. Wir brauchen Menschen, die gegen populistische Untergangsfantasien argumentieren, an die Stärke der Demokratie glauben, und die auch den theologisch notwendigen Dialog zwischen den Religionen führen. Etliche stellen das christliche Liebesgebot als naive Gesinnungsethik dar und fokussieren die Verantwortungsethik. Dabei wird oft vergessen, dass die Verantwortungsethik ohne „Überzeugungen“ und vor allem ohne Kriterien nicht funktionieren kann. Diesbezüglich schreibt Heimbach-Steins: „Es muss geklärt werden, nach welchen Kriterien absehbare oder vermutete Folgen unterschiedlicher Handlungsorientierungen gegeneinander abgewogen werden sollen.“16 Vor allem muss man darauf achten, dass die vermuteten negativen Folgen der Migration sowohl für die Zielgesellschaft wie auch für die Herkunftsländer bedacht werden. Viele Menschen „guten Willens“ und auch zahlreiche christliche Organisationen engagieren sich. Auf EU-Ebene kooperiert die Kommission der europäischen Bischofkonferenzen (COMECE), unter Vorsitz von Jean-Claude Hollerich, intensiv mit den EU-Staaten, um ethische und pragmatische Wege für die Migrationsbewegungen unserer Epoche zu finden. Die Migrationsbewegungen fordern uns heraus. Als Symptom und als Krise regen sie unsere Wertedebatte neu an, und können somit auch eine Chance für Europa und die Kirchen sein.
- Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1988, S. XIX.
- Slavoj Žižek, The Abyss of freedom / Ages of the world, Ann Arbor, University of Michigan Press, 1997, S. 50, übersetzt in Eric L. Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, Zürich, Diaphanes, 2010, S. 15.
- Paul Ricoeur, Soi-même comme un autre, Paris, Seuil, 1990, S. 202.
- Vgl. Christof Mandry, „Christliche Sozialethik zwischen Theologie und Philosophie: ein Spagat?“, in: Axel Bohmeyer/Johannes J. Frühbauer (Hg.), Profile – Christliche Sozialethik zwischen Theologie und Philosophie, Münster/Hamburg/London, LIT-Verlag, 2005, S. 83-93.
- Paul Ricoeur, Amour et justice, Paris, Seuil, 2008, S. 40.
- Vgl. Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br./Basel/Wien, Herder, 1972, S. 449-552
- https://www.kulturzentrum-toblach.eu/fileadmin/user_upload/tg-downloads/2016/vortraege/mack_dt.pdf (letzter Aufruf: 20. August 2019).
- Vgl. hierzu die Enzykliken Caritas in Veritate und Laudato Si.
- Vgl. Anm 7.
- Marianne Heimbach-Steins, „Menscheitsfamilie und globales Gemeinwohl – mehr als schöne Worte?, in: Dies. (Hg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i. Br., Herder, 2016, S. 94-107, hier S. 95-97.
- Dies., Europa und Migration. Sozialethische Denkanstöße (Kirche und Gesellschaft, Grüne Reihe, Nr. 438), . Köln, J.P. Bachem Medien, 2017, S. 13.
- Ebd., S. 14
- Ebd.
- Heimbach-Steins, „Menscheitsfamilie“, a.a.O., S. 104-105.
- Dies., Europa und Migration. S. 14.
- Dies., „Streit um den migrationsethischen Horizont“, in: Herderkorrespondenz Spezial (September 2018), S. 45-49, hier S. 48.
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