„Joe Biden macht gute sozialdemokratische Politik“

Elder Statesman Alex Bodry (LSAP) hat forum zum Interview empfangen

Sie, Alex Bodry, können auf eine beeindruckende politische Laufbahn von fast 40 Jahren zurückblicken. 1982 wurden Sie als 24-Jähriger erstmals in den Düdelinger Gemeinderat gewählt, 1984 gelang Ihnen der Einzug in die Abgeordnetenkammer. Von 1989 bis 1999 waren Sie als Mitglied der Regierung u. a. Minister für Umwelt, Landesplanung, Energie, Kommunikation, Jugend, Sport und Verteidigung. Ihrer Stadt Düdelingen dienten Sie ab 1999 als Erster Schöffe, ehe Sie 2004 zum Bürgermeister avancierten und dieses Amt bis 2014 innehatten. Zeitgleich waren Sie Parteipräsident der LSAP; der sozialistischen Parlamentsfraktion saßen Sie von 2013 bis 2018 vor. Ende 2019 legten Sie dann Ihr Chambermandat nieder, um Mitglied des Staatsrats zu werden. Verraten Sie uns, welche Funktion Ihnen am meisten Freude bereitet hat?

Alex Bodry: Ich würde sagen: Jede Funktion hat ihre Zeit. Als Mittzwanziger hatte ich wirklich nicht damit gerechnet, auf Anhieb in den Gemeinderat oder das Parlament gewählt zu werden. Auch mein rascher Eintritt in die Regierung hat mich überrascht. Wäre ich erst später Minister geworden, hätte ich einige Dinge vielleicht anders angepackt. Dennoch waren die zehn Jahre in der Regierung völlig ausreichend. Nach den Wahlen 1999 war die Stimmung im Kabinett sehr betrübt. Ich aber fühlte mich, sagen wir mal, erlöst. Das einzige Ressort, das ich späterhin noch gerne übernommen hätte, war das des Justizministers. Das aber war seinerzeit fest in CSV-Hand.

Nach 1999 hatte ich eigentlich keinen Karriereplan mehr. Das gefiel den Leuten, weil sie spürten, dass ich für all die Ämter nur noch um des Amtes willen, also quasi als freier Mensch kandidierte. Nun ja, vom Parteipräsidenten hatte ich immer schon geträumt, weshalb mir diese Aufgabe wirklich großen Spaß machte. Auch die zehn Jahre als Bürgermeister waren sehr schön. Wie Sie sehen, bin ich einen umgekehrten Weg gegangen: vom Minister zum Bürgermeister. Was übrigens viele Vorteile mit sich brachte.

Wie hat sich die politische Kultur, wie haben sich die Arbeitsweise und Anforderungen an Politiker in diesen vierzig Jahren verändert?

In Luxemburg muss man eher von einer exekutiven als einer parlamentarischen Demokratie sprechen. Das Parlament als Institution ist eher schwach aufgestellt. Auf dem Papier mag dem nicht so sein, in der Praxis aber sehr wohl. Die Macht ist in der Exekutive konzentriert, weshalb diese ihre Parlamentsfraktionen vor allem als Vollzugsorgane der Regierungsbeschlüsse betrachtet. Wenn erfahrene Abgeordnete stolz behaupten, sie sähen ihre Mission darin, die Regierung zu verteidigen, spricht das Bände. War das vor vier Jahrzehnten anders? Mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen. Meine längste Zeit im Parlament habe ich als Mehrheitsabgeordneter verbracht, der viel mit gesetzgeberischer Detailarbeit beschäftigt war. Entsprechend waren die fünf Jahre in der Opposition eine nette Abwechslung.

Sind 60 Parlamentarier denn genug angesichts des hohen Arbeitsaufwands? Schließlich ist Luxemburg ein souveräner Staat und keine subalterne Provinz.

Große Länder leisten sich mehrere Hundert Deputierte. In einem kleinen Land wie Luxemburg gibt es aber kaum weniger zu legiferieren. Unser Parlament ist wie gesagt nicht stark; das konzentrierte Feilen an den Texten erledigt größtenteils der Staatsrat. Sodass ich zur Überzeugung gelangt bin: 70 bis 75 Vollzeitabgeordnete wären keineswegs abwegig.

Politik im Stilwandel

Hat sich die Parteienlandschaft in den vier Dekaden stark verändert?

Ja. Auf der rechten Seite des Spektrums hat sich die ADR dauerhaft etabliert, wogegen es links ziemlich schwächelt. Sollte sich die Zersplitterung der Parteienlandschaft auf Kosten der größeren, der sogenannten Volksparteien weiter fortsetzen, dürfte es zusehends schwieriger werden, stabile Regierungsmehrheiten zu finden. Immer neue Kleinstparteien befeuern den Klientelismus, was die Regierung erpressbar macht. Im Gegenzug riskieren wir, dass stets dieselben mittelgroßen Parteien, in der Regel zu dritt, koalieren und kein fühlbarer Wechsel mehr möglich ist. Davon profitieren dann wiederum die Extreme.

Ist der Umgangston im Politikbetrieb rauer geworden?

Ich glaube schon. Die Politiker werfen sich heute gerne öffentlich in Positur. Ich galt nie als besonders CSV-freundlich, habe aber nach wie vor gute persönliche Beziehungen zu früheren CSV-Kollegen. Die gemeinsamen, teils schmerzhaften Erfahrungen, wie etwa 1998 bei der Pensionsreform im Öffentlichen Dienst, haben uns auch menschlich zusammengeführt. Bei der jungen Generation ist das kaum noch der Fall. Die Leute kennen sich nicht, bleiben auf Distanz. Für die Oppositionspartei CSV wird das zusehends zum Problem.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Eine sehr negative. Wir leben mittlerweile in einer „démocratie immédiate“. Man muss unter Hochdruck und in Echtzeit auf alles reagieren. Für Politiker mag es von Vorteil sein, sich über Social Media direkt in eine Debatte einschalten zu können. Der Umweg über die Presse, das Gespräch mit Journalisten kann entfallen. Andererseits bleibt oft keine Zeit zum Abwiegen und Reflektieren. So kann es dann vorkommen, dass man den eigenen Post oder Tweet im Nachhinein bereut.

Im Luxemburger Wahlsystem muss der auf persönliche Vorzugsstimmen angewiesene Politiker die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das geschieht heute kaum noch durch fachliche Detailarbeit in der Chamber, sondern durch unentwegte Präsenz in den sozialen Medien. Sehr einträglich können z. B. Statements sein, die denen der eigenen Partei widersprechen. Auch persönliche Attacken sind ein beliebtes Mittel. Sie werden gerne von den traditionellen Medien, also Zeitungen, Radio und Fernsehen, aufgegriffen und verstärkt. Auf diese Weise verkümmert der inhaltliche Diskurs.

Wahlgesetz und Rechenschieber

Stichwort Wahlsystem: Die aktuelle Gliederung des Landes in vier Wahlbezirke wird vielfach als ungerecht empfunden, weil sie nicht dem integralen Proporz entspricht. Nach Lage der Dinge kann dies aber, wegen der arithmetischen Bevorzugung der jeweils stärksten Partei, die Regierungsbildung erleichtern. Wie stehen Sie zum vieldiskutierten Einheitsbezirk, der das ganze Land umfassen würde?

Eine Wahlgesetzgebung sollte zwei Ziele verfolgen: Zum Ersten eine angemessene Vertretung aller wesentlichen politischen Kräfte, zum Zweiten die Herausbildung stabiler Mehrheiten. In dieses Spannungsfeld sollte sich das Wahlsystem einfügen. Ich persönlich könnte mir einen einzigen Wahlbezirk vorstellen, gegebenenfalls mit einer regionalen Deklination, die garantieren würde, dass nicht nur Stadtluxemburger, Escher und Düdelinger gewählt würden. Da ich aber nicht denke, dass eine Splitterbewegung mit 1,5 % der Wählerstimmen Anrecht auf einen Sitz im Parlament haben soll, bräuchte es zugleich eine Sperrklausel. Drei Prozent hielte ich für angemessen.

Der Konsens über ein Wahlsystem gründet in erster Linie auf den Rechenmodellen und Erwartungshaltungen der beteiligten Parteien. Eine objektive Wahrheit kann es hier also nicht geben. Am Ende des Prozesses, der eine qualifizierte Verfassungsmehrheit erfordert, kann nur ein Regelwerk stehen, bei dem nicht von Anfang an klar ist, welche Parteien Nutznießer bzw. Verlierer sind.

Ein zweiter kontroverser Punkt ist das Panaschieren. In dieser Frage ist die DP wohl renitenter als andere?

A priori schon. In der LSAP koexistieren zwei Schulen, wobei Ben Fayot sich immer als profiliertester Gegner des Panaschierens hervortat. Allerdings fände ich es gar nicht gut, wenn Parteigremien entschieden, welche Personen aufgrund ihrer privilegierten Position auf einer blockierten Liste in die Chamber einziehen sollen und welche Kandidaten von Anfang an keine Chance haben. Demnach könnte man sich auf eine Einschränkung des Panaschierens verständigen – etwa, dass der Wähler seine Stimmen auf höchstens zwei Listen verteilen kann. Machen wir uns aber nichts vor: Viele Luxemburger hängen am Panaschieren, es würde keine populäre Reform. Ebenso würde sich die Qualität des parlamentarischen Betriebs nicht zwangsläufig verbessern. Denn selbst wenn die Parteien die Reihenfolge der Listenkandidaten und ergo der Gewählten bestimmten, hieße das noch lange nicht, dass damit nur die Besten und Kompetentesten ins Parlament gelangten.

Mehr Demokratie wagen

Blicken wir kurz zurück auf das Referendum von 2015. Die Idee des Einwohnerwahlrechts war wohl generös, die Kampagne unglücklich und das Resultat, zumindest aus blau-rot-grüner Sicht, eine Katastrophe. Für wie viele Jahrzehnte ist das Thema jetzt vom Tisch?

Es wird schwierig, das Wahlrecht für Nicht-Luxemburger ohne Referendum wieder aufzugreifen – allein schon aus Respekt vor jener Entscheidung, die eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im Juni 2015 mit unmissverständlicher Deutlichkeit getroffen hat. Aber natürlich besteht das Risiko, dass angesichts einer alternden Wählerschaft und der verhältnismäßig starken Gewichtung der öffentlichen Funktion in Zukunft mit Vorliebe Entscheidungen getroffen werden, die bei diesen Wählergruppen nicht anecken. Ob das die beste Voraussetzung ist für eine mutige und notwendige Politik, steht auf einem anderen Blatt.

War die Dreierkoalition, als sie das Referendum beschloss, nicht allzu blauäugig?

Der eigentliche Anlass war der, dass wir im Vorfeld der Verfassungsreform die Bevölkerung einladen wollten, uns ein paar delikate, weil gesellschaftlich umstrittene Fragen zu beantworten. Ursprünglich sollte ja auch die Trennung von Kirche und Staat zum Votum gestellt werden. Zusätzlich hatten wir aber noch eine fünfte Frage auf dem Radar, nämlich die des „non-cumul“, also des Verbots einer Ämterhäufung auf nationaler und kommunaler Ebene. Die DP war dagegen. Ich bin eindeutig dafür.

Wie können wir, als informierte und engagierte Staatsbürger des 21. Jahrhunderts, mehr partizipative Demokratie wagen?

An sich bin ich ja ein leidenschaftlicher Verfechter der repräsentativen Demokratie. Das heißt aber nicht, dass es keinen Verbesserungsbedarf gäbe. Die legislativen Prozesse müssen transparenter werden. Es muss klar ersichtlich sein, wer die Texte erarbeitet hat. Wir wissen, dass viele komplexe Gesetzesprojekte nicht mehr aus den Ministerien stammen, sondern an spezialisierte Kanzleien oder Gesellschaften ausgelagert werden. Es braucht daher Klarheit über den Werdegang der Gesetzgebung.

Des Weiteren wäre es sinnvoll, im Rahmen der parlamentarischen Prozedur eine Art „Fenster“ einzuplanen für Bürgerkonsultationen. Bei der Verfassungsreform haben wir schon was Ähnliches probiert. Einerseits bekamen wir durch die Gespräche in Bürgerpanels aufschlussreiches Feedback. Andererseits sammelten wir über eine Internetplattform eine Reihe von Ideen, die in den neuen Verfassungstext einfließen konnten.

Als zusätzliches partizipatives Instrument sehe ich das legislative Initiativrecht, gewissermaßen ein verstärktes Petitionsrecht zur Lancierung von Gesetzgebungsprozessen. Es soll in die Verfassung eingeschrieben werden; die technischen Details sind aber noch zu klären.

Die Verfassung kommt… nur wann?

Wann, Herr Bodry, bekommt Luxemburg denn seine neue Verfassung?

Wäre ich überzeugt gewesen, dass die Verfassungsreform innerhalb von zwei oder drei Jahren abgeschlossen würde, wäre ich noch in der Chamber geblieben. Mit ihrer strategischen Kehrtwende 2019 hat mir die CSV den Abschied jedenfalls erleichtert. Dennoch bin ich heute zaghaft optimistisch, dass die schrittweisen punktuellen Änderungen, auf die man sich letztlich geeinigt hat, das Parlament in die Lage versetzen könnten, das Projekt noch vor Ende der Legislaturperiode zu verabschieden. Das Justizkapitel dürfte noch vor der Sommerpause in trockenen Tüchern sein. Die CSV stellt den Berichterstatter, sodass es aus ihrer Sicht keinen Anlass gibt, die Sache zu torpedieren. Auch die wesentlichen Kapitel über den Großherzog, die Regierung und das Parlament sind mittlerweile soweit fortgeschritten, dass ein erstes Votum vor Jahresfrist möglich erscheint. Bei den Grundrechten und -freiheiten, die jetzt in Angriff genommen werden, besteht wenig Konfliktpotenzial. Kernstück des Ganzen ist der „zweite Waggon“ über die Organisation des Staates, mit tiefgreifenden Änderungen mit Blick auf den Großherzog und der zeitgemäßen Verankerung der Regierung im Verfassungstext.

Sie beziehen sich auf die Möglichkeit zur Absetzung des Staatschefs, eine Art Impeachment?

In der Tat ein kruzialer Punkt, bei dem wir uns nicht am belgischen Grundgesetz orientierten, sondern eine Eigenkonstruktion wagen. Im Detail heißt das: Kommt das Staatsoberhaupt seinen verfassungsmäßigen Verpflichtungen nicht nach, kann das Parlament auf Vorschlag der Regierung und nach Stellungnahme des Staatsrats mit qualifizierter Mehrheit 

dessen Absetzung beschließen. Dies mag ein bedeutender Einschnitt sein, ist aber zugleich das Pendant zur unverändert geltenden Unverletzlichkeit und Unverantwortlichkeit der Person des Großherzogs.

Dennoch schließe ich nicht aus, dass einzelne politische Kräfte versuchen werden, zu ebendiesem Kapitel ein Verfassungsreferendum zu initiieren. Die ADR hat nicht zufällig vor ein paar Wochen einen Gesetzesvorschlag eingebracht mit dem Ziel, die recht schwerfällige, handschriftliche Prozedur der Unterschriftensammlung für ein derartiges Referendum elektronisch zu vereinfachen. „Hände weg vom Großherzog!“ – mit einem solchen Slogan könnte es gelingen, den konservativeren Teil der Bevölkerung gegen die Neuerungen zu mobilisieren.

Das ursprünglich angesagte Referendum zum vollständigen finalen Verfassungstext ist ja wohl definitiv vom Tisch?

Sagen wir mal so: Mit der Zeit ist bei den meisten Beteiligten die Unlust gewachsen, sich in derlei Abenteuer zu stürzen. Insbesondere die CSV sah es offenbar nicht als opportun an, als einzige Oppositionspartei Hand in Hand mit den drei Regierungsparteien die „Ja“-Kampagne zu animieren. Zudem gab es viele offene Fragen zur Organisation: Wer sind die Wortführer der Kampagne, wer die Beteiligten? Wie geht man mit minoritären Positionen um? Wer moderiert?

Ferner besteht die Gefahr einer negativen Dynamik. Ein flammender Republikaner z. B. könnte sich daran stören, dass die Monarchie als Staatsform fortbesteht – obwohl der neue Text wie erwähnt erhebliche Fortschritte bringt – und aus diesem alleinigen Grund mit „Nein“ stimmen. Begeisterte Monarchisten wiederum könnten monieren, es sei nicht hinnehmbar, dass die Prärogativen des Großherzogs eingeschränkt werden und deshalb ebenso mit „Nein“ stimmen. Ähnliches gilt für Befürworter und Gegner einer Trennung von Kirche und Staat usw. usf. Am Ende fänden womöglich die meisten eine triftige Ursache für ein „Nein“, und nur noch die wenigsten würden das Gesamtpaket betrachten. Obschon es einzig und allein um die Frage geht: Ist die neue Verfassung als Ganzes besser als die Alte, selbst wenn sie mir persönlich nicht in allen Einzelheiten behagt?

In Artikel 1 der vom Verfassungsausschuss der Chamber präsentierten Vorlage heißt es: „Le Luxembourg est un Etat démocratique, libre, indépendant et indivisible.“ Bei unseren Nachbarn in Frankreich ist der Satz ein bisschen anders formuliert: „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.“ Hätten Sie als Sozialist nicht eine Präferenz für die Adjektive im französischen Text?

Die Parlamentskommission hat sämtliche Punkte eingehend diskutiert. Es fand sich keine qualifizierte Mehrheit für die Begriffe „laïque“ und „sociale“. Doch verstehen Sie mich nicht falsch: Obgleich ich persönlich kein religiöser Mensch bin, bin ich doch Verfechter einer „laïcité souple“, die den Kirchen und Glaubensgemeinschaften in diesem Land einen Platz einräumt. Auch als Bürgermeister pflegte ich immer ein gutes Verhältnis zum Düdelinger Pfarrer. Zwischen Pfarrei und Gemeinde gab es nie Zwist.

Braucht es noch die Sozialdemokratie?

Ihre Partei, die LSAP, verliert seit 1984 stetig an Rückhalt. Mit der Trennung von Kirche und Staat – Sie selbst schrieben 2018 in einem Tageblatt-Meinungsbeitrag von der „mission accomplie“ – ist den Sozialisten ein Herzstück ihres Geschäftsmodells abhanden gekommen. Und auch bei der werktätigen Arbeiterschaft ist nicht mehr viel zu holen, weil die große Mehrheit dieser Menschen als Nicht-Luxemburger kein Wahlrecht hat.

Die LSAP ist für mich eine klassische sozialdemokratische Partei. Sozialdemokraten spielen in allen Ländern, insbesondere in Krisensituationen und im Kampf für gerechte Umverteilung, eine wichtige Rolle. Weil sich die sozialen Gräben vertiefen, bin ich überzeugt, dass die Gerechtigkeitsfrage zentral bleiben wird. Als Sozialdemokraten sind wir aufgerufen, die soziale und die ökologische Frage miteinander zu verknüpfen. Dies umso mehr, als das Soziale bei manch grünem Politiker etwas verschwommen daherkommt.

Umgekehrt gibt es aber auch LSAP-Granden, die eine äußerst liberale, ökologisch unsensible Wirtschaftspolitik betrieben.

Mir ist es wichtig zu betonen: Im Gegensatz zu anderen Ländern sind wir in Luxemburg ohne Austeritätspolitik und Sozialabbau durch die letzte große Krise gekommen. Und ich erwarte, dass es im Gefolge der aktuellen Krise ähnlich sein wird. Die Lohnindexierung hat faktisch nur noch bei uns überlebt. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass die Politik in der Wohnungsfrage auf breiter Front versagt hat. Allerdings gab es auch Situationen, in denen die LSAP viel weitergehende Vorschläge machte, z. B. in Bezug auf die sakrosankte Stellung des Privateigentums, die dann aber von der CSV abgeblockt wurden. In der Dreierkoalition läuft das auch munter so weiter, nur dass diesmal die DP bremst.

Doch machen wir uns nichts vor: Solange Luxemburg seine Attraktivität behält und die Einwohnerzahl steigt, wird es enorm schwer sein, das Problem in den Griff zu bekommen. Allein schon der aufgestaute Nachholbedarf überfordert unsere Kapazitäten. Und sofern das Bauland knapp ist und private Grundstückseigentümer die begründete Erwartung hegen, dass die Preise weiterhin steigen, kommen wir nicht aus dieser bedrückenden Lage raus.

Luxemburg mag diesbezüglich noch eine Insel sein, aber in vielen Ländern – Frankreich, Deutschland, Niederlande, Österreich usw. – ist offensichtlich, dass die sozial benachteiligten Schichten den Linksparteien in Scharen davonlaufen und die extreme Rechte wählen. Müssten da nicht die Alarmglocken läuten?

Tatsache ist, dass die Wählerbasis von sozialdemokratischen Parteien wie der LSAP heute in weiten Teilen zur gesellschaftlichen Mittelschicht gehört und sehr volatil geworden ist. Das Arbeitermilieu hierzulande schrumpft, zumindest unter wahlberechtigten Luxemburgern, und viele Zeitgenossen, die sich sozial oder kulturell ausgeschlossen fühlen, erreichen wir nicht mehr. Die große Herausforderung besteht also darin, mit diesen Menschen wieder Kontakt aufzunehmen und ihnen zuzuhören – wohlwissend, dass wir keine einfachen Lösungen auf komplexe Fragen anbieten können. Früher spielten die Gewerkschaften hier eine eminent wichtige Rolle, doch auch sie sind im Wandel begriffen. Hinzu kommt die Auflösung der traditionellen Milieus und nicht zuletzt die Individualisierung, die vor allem den Volksparteien zu schaffen macht.

Luxemburg muss umdenken

Dabei verlangen doch gerade die drängendsten Probleme wie der Klimawandel eindeutig nach kollektiven und globalen Lösungen statt nach immer mehr Individualismus?

Ja, natürlich. So gesehen könnte in der jetzigen Pandemie auch eine Chance liegen. Die öffentliche Hand, der Staat, erlebt eine Art Konjunkturaufschwung, den wir als Sozialdemokraten grundsätzlich begrüßen. Wir erinnern uns gut an nicht allzu ferne Zeiten, wo die Intervention des Staates geradezu verpönt war. Heute flehen selbst hohe Wirtschaftskreise den Staat um Hilfe an, weil erkennbar wird, dass das freie Spiel der Marktkräfte nur solange funktioniert, wie es Profite generiert. So langsam begreift man, dass das Konzept der kollektiven Absicherung doch wirkungsvoller ist als das der privaten Vorsorge, die rasch an Grenzen stoßen kann.

Könnte dieser Trend einen günstigen Impakt auf die Beantwortung der großen ökologischen Zukunftsfragen haben?

Ich denke schon. Für die LSAP bedeutet das, dass wir uns von unserem zuweil blinden Wachstums- und Fortschrittsglauben lösen sollten.

Zur Überwindung der Pandemie und im Kampf gegen den Klimawandel müssen weltweit gewaltige Summen an öffentlichen Geldern mobilisiert werden. US-Präsident Joe Biden plant eine Neuauflage von Roosevelts epochalem New Deal …

… genau so verstehe ich gute sozialdemokratische Politik!

Wäre folglich bei uns nicht die Zeit gekommen für einen Paradigmenwechsel? Müssten wir nicht jenes Modell überdenken, von dem auch Luxemburg in hohem Maße profitiert hat und das auf teils euphemistischen Begriffen wie Steuerwettbewerb und Steueroptimierung fußt? Im Klartext: Jedes Land ist heute mehr denn je und blutnotwendig auf angemessene Haushaltseinnahmen angewiesen, und auch Luxemburg wird diesen Imperativ nicht länger als Solist unterlaufen können.

Viele wollen das Modell, das Sie ansprechen, um jeden Preis verteidigen. Doch mittel- und langfristig ist es zum Tode verurteilt. Der internationale Druck auf Luxemburg wird noch stärker werden, ein Status quo wäre nicht nur für das Land, sondern auch für den Wirtschaftsstandort rufschädigend. Da wir aber für Investitionen attraktiv bleiben wollen – wozu selbstredend auch der Finanzplatz gehört –, müssen wir uns jetzt bewegen. Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Und um ehrlich zu sein: Luxemburg stößt durch die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte an die Grenzen seiner Eigenstaatlichkeit. Wir müssen ein Volumen an Aktivitäten verwalten, das in keinerlei Verhältnis mehr steht zu unserer bescheidenen Größe, unserer Bevölkerung, unseren Kompetenzen und Kapazitäten. Die Justiz ist dafür ein beredtes Beispiel.

Letzte Frage: Vor langer Zeit hat Luxemburgs Startenor Venant Arend zum Abschluss der LSAP-Parteikongresse die „Internationale“ intoniert. Später erkor man Sie zu seinem Nachfolger. Amtieren Sie auch heute noch in dieser Funktion?

Für den Vorsänger auf Parteikongressen gilt das Gleiche wie für die Politik insgesamt: Niemand ist unersetzlich!  

(Das Interview fand am 12. April in Düdelingen statt, die Fragen stellten lop und m.p.)

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