Konsens? Die Aktualität des „Beutelsbacher Konsenses“ in der pädagogischen Praxis der Gesellschaftswissenschaften

Der Herbst des vergangenen Jahres brachte in der Luxemburger Bildungslandschaft zwei Neuerungen, die auf direkte politische Entscheidungen der Regierung zurückgingen: Das neue Schulfach Vie et Société lief im September 2016 an, während einen Monat später das Zentrum fir politesch Bildung (ZpB) aus der Taufe gehoben wurde. In der inhaltlichen und thematischen Ausrichtung des neuen Faches (mit eigenem Curriculum) einerseits und der politischen Bildung andererseits gibt es Berührungspunkte beziehungsweise Überschneidungen.1 Was Selbstverständnis und Außendarstellung betreffen, so müssen sich das „neue“ Vie et Société-Fach und die „junge“ politische Bildung in Luxemburg mit der Problematik der politischen und weltanschaulichen Neutralität befassen. Gerade deshalb lohnt sich vielleicht ein Blick auf den „Beutelsbacher Konsens“, der seinerzeit aus den deutschen Debatten über das Unterrichtsfach Politik hervorging.

Der sogenannte Beutelsbacher Konsens kam 1976 zustande und bildet zumindest im deutschsprachigen Raum bis heute die Grundlage der politischen Bildung.2 Es handelt sich eigentlich um ein Grundsatz- und Konsenspapier, das nach längeren Diskussionen zwischen Fachleuten zustande kam, die sich mit den Zielen der politischen Bildung befassten. Der Konsens – benannt nach dem Tagungsort von 1976 – selbst besteht aus drei Prinzipien oder Postulaten, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:

  • „Überwältigungsverbot“: Das Überwältigungsverbot grenzt die politische Bildung von Indoktrination und Manipulation ab. In einer demokratischen Gesellschaft/ Schule geht es darum, dass die Lernenden selbstständig zu einem Urteil finden, ohne dass LehrerInnen eine eigene politische Meinung aufdrängen.
  • „Kontroversgebot“: Das Kontroversgebot fordert, dass was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers erscheinen muss. Hier geht es darum, unterschiedliche Standpunkte, Optionen oder Deutungsmuster im Unterricht zu erörtern.
  • Schüler- und Interessenorientierung: Dies meint, dass nicht der Unterrichtsstoff oder Programm sowie die Lehrpersonen im Vordergrund stehen, sondern die Schüler selbst, dies unter Berücksichtigung der Lebenslage von Kindern und Jugendlichen. Schüler und Schülerinnen sollen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation zu verstehen und die eigene Interessenlage beziehungsweise das Allgemeininteresse zu analysieren. Über einen rein kognitiven Prozess hinausgehend will die politische Bildung, dass die Schüler „nach Mitteln und Wegen suchen, die vorgefundene politische Lage (…) zu beeinflussen.“3 (Wehling)

Auf die Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses berufen sich die Akteure der politischen Bildungsarbeit, darunter die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung, wie auch die 2016 gegründete Stiftung Zentrum fir politesch Bildung. Wie wichtig der Beutelsbacher Konsens als Bezugsrahmen für das Selbstverständnis beziehungsweise das Leitbild des ZpB ist, zeigt ein mehr oder weniger offen geäußertes Misstrauen gegenüber der politischen Bildung (und deren Akteuren). Auch gibt es im schulischen und außerschulischen Bereich starke Vorbehalte, da man politische Bildung auch gerne mal mit Indoktrination gleichsetzen oder als Instrument der Regierungspolitik missverstehen will.4

Die Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses sind letzlich aber auch didaktische Prinzipien, die nicht alleine im Bereich der politischen Bildung in der Schule gelten, sondern sich inzwischen auf alle sozialwissenschaftlichen Fächer (z.B. Geschichte, Geographie, Vie et Société) im Besonderen und auf die Schule im Allgemeinen übertragen lassen.

Soweit die Theorie. Inwieweit der Beutelsbacher Konsens, seine didaktischen und pädagogischen Grundaussagen hierzulande über den Kreis der Politikwissenschaftler und der politischen Bildner hinaus bekannt ist, lässt sich nicht überprüfen. Interessanter ist ohnehin die Frage, inwieweit im Jahre 2017 die Prinzipien von „Überwältigungsverbot“, „Kontroversgebot“ und Schülerorientierung tatsächlich Teil der pädagogischen Praxis an Luxemburger Schulen geworden sind. Der Beutelsbacher Konsens ist heute noch ein Modell, mit dem sich prinzipiell die Qualität des Unterrichtsalltags, aber auch der Kurrikula (aller Fächer und Schulformen) und Schülermaterialien (z.B. Arbeitsblätter, Schulbücher u.s.w.) überprüfen ließe. Dies gilt insbesondere für die sozialwissenschaftlichen Fächer, die in den Schulen noch häufig in Einzeldisziplinen gesehen und in der LehrerInnenausbildung auch als solche vermittelt werden.

Bleibt noch die zu Beginn aufgeworfene Frage nach der Neutralität. Darf, kann oder muss (politische) Bildung neutral sein? Es ist vielleicht die falsche Frage.

Man strebt sehr wohl nach weltanschaulicher Neutralität, aber die Diskussion lenkt möglicherweise von der eigentlichen Problematik ab: Nämlich die nach der Selbstdefinition des Lehrers, die Frage nach der Rolle des Lehrenden in Lernprozessen und letztlich nach der Beziehung zwischen dem Lehrer/der Lehrerin und den Lernenden in diesen Lernprozessen. „Belehrungsunterricht“ (Reinhardt) oder lenkende Unterrichtsformen sind sicherlich nicht die Antworten auf die aktuellen Herausforderungen, die eine freiheitlich-demokratische, multikulturelle Gesellschaft in Luxemburg benötigt. Deshalb müssen sich die Gesellschaftswissenschaften (einbegriffen die politische Bildung) auch der Themen unseres Jahrzehnts auf kontroverse Weise annehmen.

(1)  Vgl. z.B. Artikel in Paperjam vom 9.6.2016: „Dernière ligne droite pour le cours «Vie et sociét黓, online unter: http://paperjam.lu/news/derniere-ligne-droite-pour-le-cours-vie-et-societe (Abruf: 28.09.2017).

(2)  Zur Entstehungsgeschichte des Beutelsbacher Konsens (mit vollständigem Text) vgl. http://www.bpb-de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens (Abruf: 28.09.2017) Die Übersetzungen in andere Sprachen findet man unter http://lbp-bw.de/beutelsbacher-konsens.html (Abruf: 28.09.2017).

(3)  Zitiert nach Sybille Reinhardt, Politikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2005, S. 30f.

(4)  Vgl. Leitartikel von Romain Hilgert, „Politische Bildung um Zentrum“, in: Land Nr. 20 (15.5.2015).

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