Luxemburgischer Evergreen?
Der Platz grüner Wertvorstellungen zwischen 1945 und heute
In den Nachkriegsjahrzehnten, den sogenannten „trente glorieuses“, stiegen die Wachstumsraten, verstärkte sich das Konsumverhalten und kämpfte sich der relative Wohlstand bis hinein in die Arbeitermilieus Westeuropas. Durch das Engagement der Gewerkschaften konnten soziale Rechte gestärkt und „postmateriellen“ Werten eine größere Bedeutung zugewiesen werden. Gesellschaftspolitisch betrachtet waren die 1950er und 1960er Jahre in Luxemburg jedoch geprägt von konservativen Wertevorstellungen und Machtstrukturen. Insbesondere nach den 68er-Studentenrevolten fingen aber auch hierzulande vor allem Jugendliche – Studenten und Schüler – an, etablierte Autoritäten herauszufordern.
Diese erstmals in Erscheinung tretende Jugendbewegung gab sich teils neue Werte, setzte auf eigene Erfahrungen und Selbstverwirklichung, verlangte Mitbestimmung und Freiheitsrechte, während junge Studentinnen und Frauen die tradierten Frauenrollen bekämpften. Um 1970 widmeten sich diese Protestbewegungen zunehmend internationalen Fragen, auch in Bezug auf Kapitalismus und Imperialismus. Anti-kapitalistische Gruppen, Parteistrukturen und Bewegungen entstanden, die den allgemeinen Mainstream der dominierenden kapitalistischen Werte- und Konsumstrukturen anprangerten. Erst ab Mitte der 1970er Jahre gewann die Kritik an der kapitalistischen Wachstums- und Konsumgesellschaft an Reichweite und Tiefe.
Ökologische Werte nehmen ihren Platz ein
Nach den großen von Gewerkschaften organisierten Protesten im Jahre 1973 und nachdem die Studentenrevolten und Schülerproteste schon langsam abgeebbt waren, kam es in Luxemburg 1974 zum ersten Mal zu einer Regierung ohne die Beteiligung der CSV. Das Ziel der neuen DP-LSAP-Regierung war es vor allem, die Luxemburger Gesellschaft zu modernisieren, durch wesentliche gesellschaftspolitische Reformen wie die Abschaffung der Todesstrafe, den Schwangerschaftsabbruch oder Schul- und Justizreformen zu liberalisieren sowie den sozialen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zu fördern. Aber Kritik an Wachstum und Konsens sollte und konnte von dieser Regierung nicht ausgehen, im Gegenteil! Bei beiden Regierungsparteien stand Wachstum als Motor für weiteren wirtschaftlichen Fortschritt, wobei es der Regierungspartei LSAP lediglich darum ging, die wirtschaftlichen Zuwächse etwas gerechter zu verteilen. Es gab also keine Infragestellung, weder des kapitalistischen Werte- und Wachstumsmodells noch der Interessen der Stahlindustrie (während der ersten großen Stahlabsatzkrise) oder jener des aufstrebenden Banken- und Finanzplatzes.
Die Erdölkrise von 1973 und die Stahlkrise bewirkten jedoch die ersten großen Risse im luxemburgischen kapitalistischen Wirtschaftssystem der 1970er Jahre. Außerhalb der Regierung äußerten sich demnach ab 1975 die ersten zaghaften Angriffe am vorherrschenden Wachstumskurs. Alarmiert durch den Meadows-
Bericht des Club of Rome (Die Grenzen des Wachstums, 1972) und inspiriert durch die Thesen von Denkern wie u.a. Ivan Illich, Herbert Marcuse oder E.F. Schumacher, aber auch durch jene von Frühsozialisten wie Proudhon, entstanden jenseits des Mainstreams die ersten ökologiebezogenen Kritiken.
Der (Alb)traum eines Luxemburger Atomkraftwerkes
Der von der LSAP-DP-Regierung geplante und von den übrigen wirtschaftspolitischen Eliten des Landes geförderte Bau eines großen 1300 Megawatt Atomreaktors in Remerschen an der Mosel sollte jedoch von 1974-1977 die Luxemburger Gesellschaft aktivieren und tiefe Gräben zwischen den ersten Wachstums-kritikern und jenen, die euphorisch aufs Wachstum setzten, schaffen. Mehr Wirtschaftswachstum in Luxemburg, also ein „weiter so“ der Wohlstandsförderung sei nur möglich, wenn der Industrie, insbesondere dem Arbed-Stahlkonzern, ein höherer Energieverbrauch ermöglicht werden würde. In einer offiziellen Informationsbroschüre der Regierungsbetreibergesellschaft SENU wurde der Elektrizitätsverbrauch, der in Zukunft notwendig sein würde, auf exponentiell wachsende 7-15% prognostiziert. 1976 behauptete der DP-Wirtschaftsminister Marcel Mart in der Sendung Heielei Kuck elei, würde das AKW nicht gebaut werden, würden „1980 die Lichter ausgehen“.
Doch schon bald nach Bekanntgabe der Reaktorpläne entbrannte in der Luxemburger Gesellschaft nicht nur heftige Kritik an der Atomtechnologie und ihren Risiken, sondern auch an der damit zusammenhängenden Wachstumslogik, deren Sinn und Berechtigung immer stärker angeprangert wurde. Die Angst vor Großrisiken, möglichen Unfällen und die Sorge um Moselwasser, Landwirtschaft und Weinbau entfalteten einen wachsenden Widerstand in der Bevölkerung. Dieser wurde von wertkonservativen Motiven bis hin zu antikapitalistischen Bestrebungen getragen und zunehmend größer, bis schließlich Minderheiten der LSAP-Führung und Jungsozialisten im Dezember 1976 einen nationalen Kongress zur Reaktorfrage erzwangen. Hier wurde mit knapper Mehrheit, gegen die LSAP-Spitze, ein dreijähriges Baumoratorium beschlossen und damit das definitive Aus für das Reaktorprojekt eingeleitet.
Rückblickend auf diese Zeit des Widerstandes dürfte der gesellschaftspolitische Kampf gegen das Atomprojekt in Remerschen und später gegen das französische AKW Cattenom sicherlich ein sehr wesentliches Schlüsselelement bei der Entwicklung und Stärkung der Umweltbewegung insgesamt gewesen sein (z.B. bei der Gründung des Mouvement écologique, der Anti-AKW-Bewegung…). Die 1983 erfolgte Gründung der Gréng Alternativ Partei (GAP) und ihr sofortiger Einzug 1984 ins luxemburgische Parlament waren ohne Zweifel sehr stark beeinflusst worden durch diese Anti-AKW-Bewegung, wenngleich dabei auch andere Folgen des Wachstums wie Natur- und Waldschäden, Müll, einseitige Automobilität, internationale Chemieunfälle und neue gesellschaftliche Werteorientierungen (Feminismus, Solidarität, Erziehungs-, Autonomie- und Demokratiefragen) eine mitentscheidende Rolle gespielt hatten.
Roll-back der CSV oder: Die bleiernen Jahre
Von 1979 bis 2013 hatte eine konservative, wirtschafts- und wachstumsorientierte CSV-Mehrheit wieder die Regierungsgeschäfte übernommen und in wechselnden Koalitionen mit LSAP oder DP die Ausrichtung der Politik bestimmt. Im Mittelpunkt stand dabei die Förderung eines wachsenden Finanz- und Bankenplatzes und dessen Einbettung in den europäischen Binnenmarktrahmen. Die CSV-Regierungen von Santer bis Juncker-Frieden nutzten die in der Binnenmarktkonstruktion vorgeschriebene „freie und unverfälschte Konkurrenz“ dazu, dem wachsenden Finanzplatz immer neue Vorteile zu verschaffen.
Ende der 1990er Jahre konnte die luxemburgische Wirtschaft im Durchschnitt relativ hohe, nach 2000 sogar sehr hohe, jährliche Wachstumsraten verbuchen. Das Land entwickelte sich zum Konsumparadies, gleichzeitig aber nahmen auch die ökologischen Probleme in Form von Landschaftszersiedlung, Stau, Belastung der Oberflächengewässer durch Agrardünger- und Chemikalien, Gefährdung der Artenvielfalt, Lärmbelästigungen und Luftverschmutzung zu. Angesichts dieser Entwicklung entstand in diesen Jahren ein gewisses Unbehagen und folglich ein stärkeres Umweltbewusstsein. Dieses führte zu einem Erstarken der Umweltbewegungen, aber auch der politischen Vertreter der grünen Partei in Gemeinde- und Schöffenräten sowie im Parlament.
Insgesamt dominierte jedoch weiterhin der Wachstums- und Konsumkurs der traditionellen Parteien und notwendige Alternativen, Einschnitte in destruktive Prozesse und längst überfällige ökologische Reformen wurden verschleppt oder über „greenwashing“ erledigt. Schon Mitte der 1980er Jahre waren die heutigen globalen Umweltprobleme Objekt öffentlicher Aufmerksamkeit und Diskussion. Auch damals schon wurden überzeugende Alternativen wie z.B. Recycling-Wirtschaft, erneuerbare Energien, Energieeffizienztechnologien, alternative Mobilitätsmodelle und Biolandwirtschaft gefordert. Alternativen, die damals allerdings vom politischen Mainstream von CSV, DP und LSAP als Utopien abgelehnt und der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Alternativen, die heute ironischerweise zentrale Elemente der regierungsoffiziellen Rifkin-Strategie sind.
Wie real ist der „grüne Wertewandel“ heute?
Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung scheint bewusst postmaterielle Werte und wachstumskritische Einstellungen zu vertreten trotz des Engagements von Initiativen wie dem Mouvement écologique oder der neueren „Transition Town“-Bewegung. Der größte Teil der Bevölkerung bleibt aus einer Reihe von zusammenwirkenden Gründen – Erziehung, Konditionierung durch Werbung oder konsumorientierte Lebensstile – in der vorherrschenden Logik des Wirtschaftswachstums gefangen. Obschon der Finanzcrash von 2008 unübersehbar das Scheitern des finanz- und kreditgetriebenen neoliberalen Finanzkapitalismus deutlich gemacht hat, haben die maßgeblichen wirtschaftspolitischen Eliten der Eurozone sehr wenig aus dieser Erfahrung gelernt: Spar- und Austeritätspolitik mit verheerenden sozialen Folgen, verschärfter nationaler Produktivitäts- und Konkurrenzwettkampf in der EU sowie das TINA-Dogma (there is no alternative) in der Wachstumspolitik dominieren weiterhin den öffentlichen Diskurs.
Ein gewisses Umdenken in der Politik der Luxemburger Dreier-Koalition hin zu einem teilweise nachhaltigen Wachstumsmodell dürfte sicherlich vor allem dem kleinen, grünen Koalitionspartner geschuldet sein: Neue Ansätze in der Energiepolitik, der Mobilität, der Umweltpolitik sowie neue Formen der demokratischen Partizipation werden deutlicher. Die rezente große Auseinandersetzung um die Freihandelsabkommen TTIP und CETA zwischen großen Teilen von Regierung und CSV auf der einen und praktisch der gesamten Zivilgesellschaft auf der anderen Seite zeigt, dass die Gräben zwischen den großen traditionellen Wachstumsbefürwortern und einer breiten Front von wachstums-, freihandels-, und kapitalismuskritischen Bewegungen größer geworden sind.
Zwischen „Green New Deal“, Transition-Bewegung und Rifkin-Strategie
Die Alternativen zum traditionellen Wachstumsdiskurs scheinen sich heute in Luxemburg auf hauptsächlich drei Ansätze zu fokussieren. Die Befürworter der „Green New Deal“-Strategie setzen nicht auf Null-Wachstum oder „décroissance“, sondern auf selektives und qualitatives Wachstum bei einer gleichzeitig angestrebten Verringerung der ökologisch schädlichen Effekte. Das Ziel besteht darin, einen schrittweise gelenkten ökologischen Umbau, eine ökologische Wendepolitik auf mehreren wirtschaftspolitischen Ebenen und somit eine Minimierung von Umweltauswirkungen zu bewirken. Gleichzeitig soll mehr auf die soziale Dienstleistungswirtschaft und Kommunikationstechnologien gebaut werden, um so den ökologischen Fußabdruck der Produktion zu reduzieren bei gleichzeitigem Erhalt oder Neuschaffung von sinnvollen Arbeitsplätzen (Idee eines grünen Wachstums).
Obwohl in der Diskussion über die Rifkin-Strategie, ein von der Regierung und den einheimischen Wirtschaftseliten getragenes neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell noch so manches unklar bleibt, ist trotzdem offensichtlich, dass Konfliktlinien offenlegt werden. Diese verlaufen zwischen positiven energie- und ressourcenschonenden Service-Entwicklungen einerseits und Arbeitsplatzrisiken für viele Arbeitnehmer in unteren und mittleren Segmenten der Wirtschaft andererseits. Ausgangspunkte der neuen Strategie sind hauptsächlich zwei aufeinander zulaufende Entwicklungen. Zum einen verlangt die Unsicherheit und potenzielle Krisenanfälligkeit des einheimischen Banken- und Finanzplatzes den Aufbau neuer Service-Dienstleistungen im Rahmen einer erweiterten Informationsgesellschaft. Andererseits lasten auf der Luxemburger Politik und Wirtschaft die Verpflichtungen, die durch Umweltkrise und das Pariser Klima-Abkommen auferlegt wurden. Die von Rifkin propagierte dritte industrielle Revolution soll deshalb über hochentwickelte Computer, rechnergesteuerte Roboter und Denkmaschinen zunehmend Planungs- und Verwaltungskosten übernehmen und Produktionsabläufe und Dienstleistungen steuern. Soziale Spaltungen und sozialer Sprengstoff dürften dadurch nur schwer zu verhindern sein, sollte es nicht gelingen, neuartige Arbeitsmodelle durchzusetzen.
Demgegenüber kritisch, aber nicht absolut konträr ist die relativ neue, schnell wachsende Transition-Bewegung, die seit einigen Jahren mit äußerst starkem idealistischem Elan Wachstums- und Konsumkritik zu verbinden sucht. Sie hinterfragt den Sinn von entfremdeter Arbeit und schlägt neue Arbeitszeit- sowie solidarische Gemeinökonomiemodelle und vielfältige „bottom-up“-Alternativen vor. Beispiele sind die dezentrale Erzeugung von erneuerbaren Energien, Gemeinschaftsgärten und solidarische Nahrungsmittelproduktion, Reparatur-Workshops und Recyclinghöfe. Im Mittelpunkt dieser neuen Bewegung stehen dabei nicht nur neue nachhaltige Produkte, sondern auch eine weitreichende Infragestellung der bisherigen Wachstums- und Konsumpolitik, sowie eine stärkere Hinwendung zu immateriellen oder postmaterialistischen Werten. Besonders in jüngeren, oftmals gebildeten Bevölkerungsschichten scheint die Transition-Bewegung zunehmend an Anhängerschaft zu gewinnen.
Die Konfliktlinie von heute verläuft also nicht nur zwischen eurphorischen Befürwortern von Wachstum und jenen, die „Wachstum-um-jeden-Preis“-Strategien kritisch gegenüberstehen. Eine andere und wenigstens genauso wichtige Konfliktlinie gibt es zwischen den Menschen, die hoffen, von den neuen wirtschaftlichen Entwicklungen profitieren zu können und jenen, die riskieren auf sozialer Ebene zu verlieren. Es bleibt in diesem Sinne viel kritischer Diskussions- und Klärungsbedarf, um gegebenenfalls weiteren, viel tiefergreifenden Spaltungen in der Gesellschaft präventiv entgegenzuwirken.
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