Öffnung auf ein Mehr an Leben

Teil 2: Der Weg aus der Krise

In der letzten Ausgabe hatte der Autor die Ursprünge der Krise der katholischen Kirche nachgezeichnet, die sich seit der Aufklärung zugespitzt hat, verstärkt aber in den letzten Jahren durch Reformstau und Missbrauchsskandale eskaliert ist. Im zweiten Teil seines Beitrags lotet der Autor nun Lösungswege aus dieser Krise aus. Die These: Ohne eine radikale Demokratisierung, an deren Anfang der Glaube der Kirche an den Menschen steht, wird die Krise nicht zu bewältigen sein.

Der moderne Mensch will autonom sein. So mancher ist angezogen von bedingungsloser Selbsterforschung und dem Reiz der Häresie, d. h. des Wählens.1 Singularität wird paradoxerweise zur Mode, zum must have. Das Individuum sucht wohl nach Referenzen, aber es will sich nicht mehr in seine Entscheidungen hineinreden lassen. Vor allem sind ihm die eigenen Erfahrungen mit sich selbst und der Welt von fundamentaler Wichtigkeit. In der Schule werden Schülerinnen und Schüler zum Philosophieren angeleitet. In den Ethikkursen geht es oft um die Aufarbeitung von eigenen Erfahrungen. Im Beruf wird Wert auf das Reflektieren der eigenen Praxis gelegt. Dem muss Kirche als Bildungsinstitution heute Rechnung tragen. So kann man nicht mehr wie früher davon ausgehen, dass Menschen sich in eine der „großen Erzählungen“ einschreiben oder die biblischen Narrative einfach als Wort Gottes annehmen. Von daher ist es verständlich, dass auch die Transmission einer spirituellen oder religiösen Haltung nur durch das Ansetzen beim eigenen Selbst funktioniert: „Religion ist, was das Individuum aus seinem Solitärsein macht“, schreibt Whitehead.2 Das heißt nichts anderes, als an sich selbst zu erfahren, was dieses Wort „Gott“ mit einem macht und auch nicht macht.

Dementsprechend haben viele Menschen das Bedürfnis nach der Entwicklung von Innerlichkeit und Intimität. So soll dem eigenen Begehren Raum und Schutz zu seiner Entfaltung gegeben werden. Kontemplation ist ein erster Schritt. Sie dient zunächst der urteilsfreien Selbstwahrnehmung. Die eintretende Ruhe und Stille hilft, sich vom angst- oder konsumgetriebenen Leben zu befreien. Das Innehalten kann dem Leben insgesamt eine andere Orientierung und Freude am Existieren schenken.

Selbst Peter Sloterdijk3 versteht Religion als Raum, in dem es dem Einzelnen um die „Auslegung der Existenz in ihrer Singularität und Verwobenheit mit anderen Singularitäten“ geht. Eine solche Akzentsetzung versteht er sogar als Freisetzung der Religion zu sich selbst. Sich dafür Zeit nehmen, gibt dem Individuum eine andere Qualität von Präsenz. Die Wichtigkeit, die eigene Sehnsucht und Intimität zu pflegen, zeigt sich insbesondere auch in Krisenzeiten, den individuellen, wie bei Depression oder Burnout, oder den kollektiven, wie in der Klimakatastrophe oder der weltweiten Pandemie. Kontemplation und gemeinsames Durcharbeiten von existenziellen und globalen Fragen schenken Selbstvertrauen. Sie gelten als Kern zukünftiger Praxis in den christlichen Gemeinschaften. Geschieht dies nicht, bleiben Christen religiös gesehen mehr oder weniger gefangen in einem infantilen Bezug zu „Obrigkeiten“, denen sie Wissen und Wahrheit unterstellen. Das aber passt nicht zum mündigen Christen, der mit Kontingenzen und Paradoxen umgehen kann.

Kreativität und Selberdenken anstatt Stärke durch Normierung

Für den jüdischen und christlichen Glauben „beinhaltet das menschliche Wesen immer mehr Wirklichkeit, als es behalten kann, und dieses ‚Zuviel‘ zeugt von einer geistigen und moralischen Berufung, einem Druck zur Selbstverwandlung, zur Güte.“4 Gott ist der Name für diesen Druck, den Apell, uns zu öffnen, Horizonte zu erweitern und sich für das Leben, die Welt und die Nachbarn zu öffnen. Den „Ruf zu hören“, braucht spirituelles Einüben, Arbeiten an sich selbst. Denn allzu schnell sind wir heute vom neoliberalen Hegemonialdiskurs eingelullt und schauen nur darauf, was uns nutzt.

Angesichts der Rätselhaftigkeit des Kosmos und der Geheimnishaftigkeit des Lebens ist Glaube oder Unglaube eine Entscheidung, vor der im Prinzip jeder steht. Glauben in postmodernen Zeiten ist eben keine „Denkersparnis“. Suggestion kann zum Nichtdenken verführen, wie Freud uns in Erinnerung ruft. Deshalb sollte der mündige Christ in der Gemeinschaft, auch im Sinne von Holm Tetens5 die Vernünftigkeit seines singulären Gottesbezuges reflektieren können. Dabei muss diese Vernünftigkeit immer in Bezug zum unergründlichen Abgrund menschlichen Lebens, zum strukturellen Mangel des Menschen und zum Exzess gesetzt werden. Das bedeutet auch, die Inkarnation bis zum Ende zu denken und u. a. die Sexualität als Herausforderung und als Geschenk anzunehmen. Christlicher Anthropologie kann es nicht darum gehen, den Menschen zur „Selbstverkleinerung“ anzuregen, wie Nietzsche richtig gegen bestimmte Evolutionstheorien moniert.

Dazu braucht es auch in Luxemburg ein neues Konzept für Bildungsarbeit mit jugendlichen und erwachsenen Christen und diesbezüglich „religionspädagogisch“ hochwertiger Dispositive. Bildung geht es dabei nicht um Formatierung, sondern um die Versprachlichung von Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit Diskursen, die verengen bzw. öffnen. Es ist für alle Beteiligten ein Weg der „Entäußerung“ (Horkheimer), der Öffnung auf das Fremde und überschüssige Leben.

Entwicklung von Glauben geschieht im vertraulichen und erfahrungsbasierten Austausch und Feiern. Dazu braucht es neue Formen von Gemeinde, wo Suchende, Stumme und Leidende zum Sprechen finden. Missverständnisse und Unentscheidbarkeit im Dialog weisen uns darauf hin, dass wir immer im Bezug zum Unmöglichen und Unbegreifbaren leben. Gerade die Rätselhaftigkeit des Lebens und die Mehrdeutigkeit des Gesagten kann Sehnsucht schenken. Im holprigen, aber echten Gespräch und mühsamer Zusammenarbeit erleben wir, dass die Zeit des Einheitsdenken und -diskurses nicht mehr passt. Wir erleben Horizontverschiebungen und Befreiung.

Es sind Gemeinschaften der Offenheit, wo jeder im Gespräch seinen Lebensstil suchen kann. Sie können dabei helfen, das eigene Verkennen und Verachten wahrzunehmen, auch was den tief menschlichen Bezug zu Liebe, Begehren, Genießen und zur Sexualität angeht. Solche Gemeinden gehen auch neue Wege gegen Ungerechtigkeitseffekte und psychische Versklavungen in einer Gesellschaft, wo Geld zum dominanten Wert geworden ist. In der Tat werden viele Menschen zu Objekten der nationalen Egoismen, der Märkte und der Wissenschaften. Denken wir zum Beispiel an unsere Abschottung gegenüber Geflüchteten, an die Tatsache, dass wir uns durch unsere Performanz als Ware auf dem Arbeitsmarkt anbieten oder unsere Manipulation durch Medien. Christliche Gemeinden sollten somit im Dienst der Selbsttranszendierung der Menschen stehen. So kommt es zu Akten des Protestes, der Überwindung von Egozentrismus und zum Einsatz gegen die äußerst gefährliche Auflösung von sozialen Bindungen.

Gemeinschaften der Offenheit auf Transzendenz hin

Dazu braucht es eine Abkehr vom alten Paradigma, in dem die Fülle von Normen im Zentrum stand, mit denen insbesondere die katholische Kirche ihre Stärke und Selbsterhaltung sichern wollte. Hätte sie dabei doch nur die Warnungen von Paulus im Römerbrief (7,9-10) ernster genommen: „Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig, ich aber starb. Und so fand sich’s, dass das Gebot mir den Tod brachte, das doch zum Leben gegeben war.“ Für Paulus gilt die Identifizierung mit der Offenheit Jesu, welche alte Normen und Grenzen sprengt, wie er in seinem Brief an die Galater (3,28) ankündigt: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“

Es braucht ein neues Verständnis von kollektiver Gemeindeleitung, ähnlich wie in der Urkirche. Es braucht gut interdisziplinär ausgebildete Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleiter, also „Animatoren“, welche die Gemeindemitglieder dabei unterstützen, ihre Spiritualität und Handlungsfähigkeit zu entwickeln.

Auf allen Ebenen christlicher Gemeinschaft muss das „Synodalprinzip“ als horizontale demokratische Leitungsstruktur gestärkt werden. Die hierarchische, vertikale Struktur sollte in Zukunft eher ein ausgleichendes Prinzip gegenüber dieser Leitungsstruktur bilden. Damit verbunden ist, dass es endlich zu einer unabhängigen Gerichtsbarkeit und zur Gewaltentrennung in der Kirche kommen muss. Insbesondere müssen Papst und Bischöfe für ihre Akte und Unterlassungen zur Verantwortung gezogen werden. Bischöfe sollten in Zukunft von den Gemeindeleitern und Gemeindeleiterinnen gewählt werden.

Das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaften soll als „Erschließungsgeschehen“ erlebt werden. „Gott“ als das Wort, das Offenheit und Dynamik ermöglicht, ist somit erfahrbar. Das Wort Gott gilt als das, was essentiell Diskurse durchlöchert und Horizonte weitet durch sein „Warum nicht“ oder „vielleicht“. Offen sein für das Insistieren6 des Wortes Gott, das an unvermuteten Orten oder in philosophischen, religiösen und poetischen Texten auftaucht, führt den Christen zum Einsatz für unbedingte Gerechtigkeit und Liebe. So können Christen in den Dialog mit den kulturellen Narrativen der Postmoderne treten. Solche Erfahrungen reflexiv zu begleiten, ist eine Funktion der Theologie.

Christen gelten nicht mehr als Objekte der Pastoralmacht Kirche. Sie sind Subjekte, welche ihren Weg in der Auseinandersetzung mit anderen suchen. Dabei suchen und gründen sie die Gemeinschaften, die ihnen auf diesem Weg behilflich sein können. Die Amtskirche sollte sie dabei unterstützen. Aber dazu braucht es eine neue Dynamik, ein Pastoralkonzept für die Diözese Luxemburgs. Die Vergrößerung der Territorialgemeinden ist lediglich ein Übergangsmodell und orientiert sich noch zu sehr am Priestermangel und nicht an Menschen, die ihre Existenzorientierung selbst verantworten wollen.

Zweifeln gehört zum Leben. Ein jahrzehntelanges Zögern kann unter Umständen als kollektives Symptom verstanden werden.7 Gilt das nicht auch für den Zickzackkurs der römischen Kurie? Das Zögern und Blockieren ist auch ein Zeichen ihrer Angst vor der Lust und der Freude an der Sexualität sowie Angst vor der Frau. Es ist letzten Endes auch die Angst, dass die Menschen das Exzesshafte nur in der Immanenz leben und die Freude am Leben nicht mehr mit der Transzendenz verbinden können.8 Dabei hat gerade diese Art von Sexualmoral verschiedenen jungen Menschen, die später pädophile Akte verübt haben, die Illusion vermittelt, vor allem durch Moral ihre unreife Psychodynamik in den Griff zu bekommen.

Offenheit wird demonstriert, aber es kommt zu wenigen kirchenrechtlichen Konsequenzen. Da, wo Papst und Kurie kreative Erneuerungen, Widersprüche befürchten, werden schnell alte Distanzregeln ermahnt, Prozesse blockiert und Privilegien etwa für Priester wiederum eingeführt, um sie und die Institution Kirche in ihrem sakralen Verständnis zu stützen. Wenig abduktive Kreativität ist am Werk. Kirche sollte dem Begehren der Menschen, neue Lebensstile auszuprobieren nicht defensiv oder phobisch begegnen. Sie muss endlich bereit sein, sich dem Exzess des Lebens, der Weite „Gottes“ zu stellen und sich auf das Begehren des Anderen einzulassen, was Jacques Lacan mit dem Wort „Gnade“ bezeichnet. In anderen Worten: die Institution Kirche muss zeigen, dass sie nicht nur an Gott glaubt, sondern auch an den einzelnen Menschen, auch wenn seine Meinung ihr nicht immer passt.

 

  1. Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien, Verlag Herder, 2000.
  2. Alfred North Whitehead, Wie entsteht Religion? Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 1985, S. 39.
  3. Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen, Berlin, Suhrkamp, 2020.
  4. Eric L. Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, Zürich, Diaphanes, 2010, S. 17.
  5. Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart, Reclam, 2015.
  6. John D. Caputo, The Insistence of God. A Theology of perhaps, Bloomington, Indiana, Indiana University Press, 2013.
  7. Theodor Reik, Dogma und Zwangsidee. Eine psychoanalytische Studie zur Entwicklung der Religion, Leipzig/Wien/Zürich, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1927.
  8. Eugen Drewermann im Gespräch mit Michael Albus, Die Stunde des Jeremia. Für eine Kirche, die Jesus nicht verrät, Ostfildern, Patmos, 2020, S. 166.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code