- Gesellschaft
Öffnung auf ein Mehr an Leben
Teil 1: Die Ursachen für die Krise der Kirche
Zahlreiche Skandale und Reformstaus haben die Katholikinnen und Katholiken in den letzten Jahren verunsichert und die Menschen weltweit gegen die Katholische Kirche aufgebracht. Mit den Missbrauchsfällen hat sie bei vielen endgültig an Glaubwürdigkeit verloren. Schon seit der Aufklärung erleben die christlichen Kirchen einen erheblichen Machtverlust. Immer weniger Menschen gelten sie als Orientierungsgröße. Wie kam es dazu, dass die Kirche ihre Pastoralmacht so verspielt hat? Inwiefern tut sie sich schwer in der Auseinandersetzung mit der Moderne und den neoliberalistischen Herrschaftsstrukturen? Wieso gibt es trotz der Offenheit des Papstes für manche Probleme keine wesentlichen Reformen? Besitzt das Christentum noch Ressourcen, um die Menschen der Postmoderne bewegen zu können?
Mehrere Jahrhunderte lang hat die Kirche versucht, den Verunsicherungen der Moderne und den daraus folgenden Selbstzweifeln Herr zu werden oder sie zu verdrängen. Mit absoluter Kontrolle nach innen, Dogmatisierungen und einer strengen Sexualmoral hat sie sich als Gegenmodell zu den aufkommenden Demokratien konstruiert und damit eine Parallelwelt geschaffen. Diese Strategie zeigte von Anfang an, dass die Fragen, die sich stellten, nicht ausreichend beleuchtet wurden. Die Zweifel, aber auch die Chancen, die entstanden, konnten nicht fruchtbar gemacht werden. Und somit bildeten viele Entscheidungen und das Festhalten an selbst geschaffenen Sicherheiten nicht mehr als einen „Triumph des Zweifels“. Es bedurfte immer weiterer Maßnahmen, um das Gefühl einer „societas perfecta“ zu vermitteln. Diese abwehrende und verdrängende Haltung lässt sich auf nahezu allen Ebenen der Kirche wiederfinden. Spätestens in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erwies sich dies allerdings als Trug. Und so stellen sich manche Fragen bis heute.
Absolute Kontrolle als Reaktion auf die Moderne
Nach dem Zusammenbruch des reaktionär geführten Kirchenstaates kam es im 19. Jahrhundert zu „kompensatorischen Selbstaufwertungsstrategien“. Das monarchische Prinzip der katholischen Kirche wurde verstärkt. Gegen den Widerstand zahlreicher Bischöfe kam es zum Dogma des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit des Papstes. Letztere bildete sozusagen die Krönung der absolutistischen Bestrebungen. Selbst als Rom einsah, dass christliche Prinzipien einen positiven Beitrag zum Aufbau der Demokratie und zur Lösung der Arbeiterfrage leisten könnten, sah man es nicht gerne, wenn Laien ohne Weisungen des Klerus Verantwortung übernahmen. Die „Katholische Aktion“, welche 1922 gegründet wurde, gilt hierfür als gutes Beispiel.
Dazu passt, dass die römische Kurie die Theologie als einheitliche Wissenschaft verstand. Die historisch-kritische Schriftauslegung und die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Lehrentscheidungen wurden von der Kurie zurückgewiesen und bekämpft. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit neueren Forschungen in den Natur- und Geisteswissenschaften geschah äußerst selten. Hintergrund war immer wieder die Ablehnung der Moderne und deren Kampf um die Freiheit der Menschen. Somit war die Theologie gezwungen, einen mehr oder weniger dogmatischen Binnendiskurs zu führen. Dieser Geist der Negierung zeigt sich vor allem in der Enzyklika Mirari vos (1832), in der man zum Beispiel lesen konnte: „Und aus dieser höchst abscheulichen Quelle des Indifferentismus fließt jene widersinnige und irrige Auffassung bzw. vielmehr Wahn, einem jeden müsse die Freiheit des Gewissens zugesprochen und sichergestellt werden. Diesem geradezu pesthaften Irrtum bahnt freilich jene vollständige und ungezügelte Meinungsfreiheit den Weg“. Dies führte schließlich zu einer absurden Verurteilung der Grundpositionen der Moderne durch den Syllabus Errorum von 1864. Und so heißt es, dass „nichts so sicher wahr“ [ist] „als das, was Gott geoffenbart“ hat. Katholiken glauben „auf das bloße Wort Gottes hin auch solche Lehren […], die [sie] nicht begreifen können.“ Es ist die Katholische Kirche, die das lehrt, was Gott geoffenbart hat.
Die Totalkontrolle nach innen wurde auf allen Ebenen vorangetrieben. Ähnlich wie in den Nationalstaaten wurde auf die Normatierung der Beamten gesetzt und somit die Formatierung der Priester vorangetrieben. Dies führte 1910 zum Antimodernisteneid, welcher erst 1967 durch Papst Paul VI. abgeschafft wurde. Dazu passte natürlich auch der Zölibat, der an sich zwar spirituell einen hohen Wert innehat, aber auch als willkommenes Machtinstrument gilt, insofern er hilft, die Gehorsamspflicht dem Bischof gegenüber einfacher durchzusetzen. Man kann es kaum glauben, dass noch in den vergangenen Wochen der Kölner Kardinal Woelki einen Pfarrer unter Druck setzte, der ihm Vertuschung sexuellen Missbrauchs vorgeworfen hatte. Solch hohe Anforderungen führten allerdings mit der fortschreitenden Moderne zu widersprüchlichem und spannungsreichem Verhalten. So manchem Zölibatären gelang kein ausgeglichenes Leben. Anstatt kreativ mit Aggressivität und Sexualität umzugehen, wird vielfach versucht, das Triebhafte zu unterdrücken, was letztlich nicht gelingen kann. Instrumente dazu waren Teufels- und Höllennarrative. Sie bildeten den Kern einer „schwarzen Pädagogik“, welche schreckliche Folgen hatte und bis heute hat. Anstatt die Aggression in den Dienst von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit zu stellen, wurde sie in Form von Schuldgefühlen gegen sich selbst oder andere gerichtet. Die beflügelnde Kraft der Sexualität und der Liebe wurde ignoriert. Sie wurden nicht so durchgearbeitet oder auch sublimiert, dass sie dem Menschen und der Kollektivität von Nutzen sein konnten. Und so wurde das Unvorstellbare möglich: In bestimmten Situationen wurde der unverarbeitete Aggressionstrieb und die Verdammung der Sexualität in fürchterliche und perverse Taten überführt, als Geistliche sich an Kindern, Jugendlichen und Nonnen sexuell vergingen. Somit zeigte sich das Exzessive des Menschen von seiner zerstörerischen Seite. Jesu Botschaft der Freiheit und des Engagements wurde somit moralistisch pervertiert. An diesen Problemen laboriert die Kirche bis heute. Viele Bischöfe hielten am Bild der „societas perfecta“ fest: Was nicht sein durfte, existierte nicht.
Gegen die Destabilisierungen, welche die Moderne provozierte, aber auch gegenüber dem Kommunismus und Kapitalismus wurden strikte Organisation und Dogmatisierung vorangetrieben. Sie führten allerdings auch zur Blindheit gegenüber den Gefahren des Faschismus und des Antisemitismus. Man sollte aber nicht alles über einen Kamm scheren. In Frankreich und Deutschland gab es zahlreiche Initiativen, in denen sich Laien autonom (u. a. die Organisatoren der „Katholikentage“) mit den Fortschritten und den negativen Aspekten (Ausbeutung, Verunsicherung) der Moderne auseinandersetzten. Verständlich, dass dies Karl Marx nicht behagen konnte. So schrieb er 1869 in einem Brief an Friedrich Engels: „Die Hunde kokettieren (z. B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongreß usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage.“5 Die defensive Strategie der Kirche konnte allerdings letztlich nicht gut ausgehen. Und so musste die Katholische Kirche sich immer mehr von ihrem absolutistischen Wahrheitsanspruch trennen.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965): Aufbruchsstimmung und Enttäuschung
Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam es zu einem epochalen Einschnitt. Die Katholische Kirche bekannte sich mitschuldig an der Reformation und verstand sich jetzt als semper reformanda. In mancher Hinsicht relativierte sie sich selbst. Das fundamentale Prinzip, dass sie allein im Besitz der Wahrheit und des Heilsweges sah, wurde abgelegt. Sie bejahte die Religions- und Gewissensfreiheit sowie die Menschenrechte. Grundsätzlich nahm sie eine positive Haltung gegenüber den Wissenschaften und dem Fortschritt ein. Dieses aggiornamento der Kirche geht allerdings nicht weit genug. Die Aufbruchsstimmung wich schnell einer tiefen Ernüchterung. So wurde an den Dogmen nicht gerüttelt. Weder in der Moral noch in der Kirchenorganisation gibt es wesentliche Fortschritte. Bis heute fehlt es in der Kirche an Geschlechtergerechtigkeit, Gewaltenteilung, Rechtsschutz und einem realistischen Moraldiskurs seitens der Kurie. Der autoritäre Stil der nachfolgenden Päpste blockierte die Erneuerungsbewegung.6 Eine wirklich kollegiale Leitung der Kirche wurde verhindert.7 Und so kam es, dass die Kirche und ihre Lehre weiterhin als autoritär erlebt wurden.
Dies umso mehr, als es in den sechziger Jahren zu einem anthropologischen Bruch in der Gesellschaft kam: Es ging nicht mehr nur um die Freiheit, sondern um das Begehren des Einzelnen.8 Dieses hat keine andere Bedingung und Grenze als das Begehren des Anderen: „Le désir, c’est le désir de l’autre“, schreibt Lacan.9 Für solche Entwicklungen besaßen manche Mitglieder der Kurie nicht das nötige Distinktionsvermögen. Und so war der Aufschrei selbst bei den Katholikinnen und Katholiken groß, als Papst Paul VI. seine Enzyklika Humanae vitae (1968) gegen „die Anti-Baby-Pille“ veröffentlichte. In einer Gesellschaft, in der die persönliche Sehnsucht und die Intimität einen hohen Stellenwert hatten, wurde der Kirche zumindest in den europäischen Ländern immer weniger zugetraut, den Menschen mit Respekt vor seiner Intimität zu begleiten. Der starke Hang der Intellektuellen, Künstler*innen und Studierenden zur bedingungslosen Selbsterforschung und der Wunsch nach Befreiung von jedweder Entfremdung haben auch das noch in den Köpfen steckende Gottesbild als allmächtiges Über-Ich zurückgewiesen.
Die Herausforderung durch das Kategorische Imperativ des Genießens
Inzwischen haben die Kirchen in Europa einen unumkehrbaren Prozess des Machtverlustes durchlaufen. Dieser ist allerdings nicht nur dem eigenen Versagen geschuldet. Die vom Neoliberalismus geförderten Freisetzungsprozesse haben ihn wesentlich mitbestimmt. Nicht mehr der Kapitalismus hatte sich vor den Religionen und den Staaten zu rechtfertigen, sondern umgekehrt. Dominanter Wert ist dabei die Frage: Was nutzt mir das? Der Neoliberalismus konstruiert uns als Subjekt, sowohl als konsumierendes wie als unternehmerisches Selbst, das sich durch Selbstoptimierung bestmöglich verkaufen soll. Bis in unser Innerstes sind wir also dem kulturell hegemonialen Kapitalismus10 unterworfen. Das performative Ego wird prämiert, alles andere ist relativ. Überzeugungen, Glauben, Werte gelten trotz öffentlicher Beteuerungen des Gegenteils als relativ und obsolet. Der kategorische Imperativ des Genießens regiert das „Su-jet“. Auch die sozialen Bande werden zerstört, wie u. a. auch Byung-Chul Han feststellt: „Der heutige Hyperkapitalismus löst menschliche Existenz gänzlich in ein Netz kommerzieller Beziehungen auf. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, der sich der kommerziellen Verwertung entzöge. Der Hyperkapitalismus macht alle menschlichen Beziehungen zu kommerziellen Beziehungen.“11
Die gegenwärtige Kirche erlebt eine Krise, welche an ihren Fundamenten rüttelt. Sie ist teils selbstgemacht. Ihre Strategie der Zentralisierung und ihr Beharren darauf, das Wahrheitsmonopol innezuhaben, können von den meisten Zeitgenossen nicht mehr nachvollzogen werden. Vor allem hat sie sich durch ihr Selbstbild von Heiligkeit12 und der dazu notwendigen Unterdrückung von Leben, durch die Verdrängung von Sexualität, durch Vertuschungen und Verheimlichungen von Missbräuchen, durch ihr autoritäres Verurteilen von progressiven Theologen sowie durch Rechtsbrüche ins Abseits manövriert – bis hin zur Unglaubwürdigkeit. Deshalb stellt sich die Frage, ob sie noch die nötigen diskursiven und personellen Ressourcen hat, Menschen in der Postmoderne zu begleiten. Dieser Frage soll im nächsten Monat nachgegangen werden.
- Eugen Drewermann, Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik. Dogma, Angst und Symbolismus, Solothurn/Düsseldorf, Walter-Verlag, 1993, S. 171.
- Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Würzburg, Echter Verlag, 2019, S. 78.
- Zit. n. Peter Hünermann (Hg), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg i. Br., Verlag Herder, 201745, im Text zit. als DH plus Nr. des Dokuments, hier Nr. 27130f.
- Johannes Koppes, Katholischer Katechismus für das Bistum Luxemburg, Luxemburg, Sankt Paulus-Gesellschaft, 1930, S. 2f.
- Zit. n. MEW, Bd. 32, Berlin, Karl Dietz Verlag, 2009, S. 371.
- Das hätte dann auch Rückwirkungen auf die akademische Theologie. Solche Experimente gab es im Übrigen schon in Lateinamerika. Leider wurden diese durch Papst Johannes Paul II., Kardinal Ratzinger und den CIA gebremst.
- Hubert Wolf, Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung, München, Verlag C.H. Beck, 2019.
- Olivier Roy, L’Europe est-elle chrétienne ? Paris, Editions Seuil, 2019, S. 92
- Jacques Lacan, Le Séminaire, Livre XI, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris, Editions Seuil, 1973, S. 213
- Vgl. hierzu Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus, a. a. O..
- Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin, Matthes & Seitz, 2016, S. 103
- Franz-Xaver Kaufmann, Kirche in der ambivalenten Moderne, Freiburg i. Br./Basel/Wien, Verlag Herder, 2012, S. 131.
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