Religion aus der Sicht eines Atheisten

Tim Cranes faire Analyse der Bedeutung des religiösen Glaubens

Fast zeitgleich kamen Anfang unseres Jahrhunderts vier Bücher auf den angelsächsischen Markt. Sie verkauften sich so gut, dass sie in kürzester Zeit weltweit übersetzt und millionenfach aufgelegt wurden. Schnell hatte die Kritik ein Label für sie parat: Sie wurden angesehen als Ausdruck eines neuen Atheismus. Es handelt sich um folgende Bücher, die hier mit ihrem deutschen Titel angegeben werden: Sam Harris Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft (2004, dt.: 2007); Daniel Dennett Den Bann brechen (2006, dt.: 2016); Richard Dawkins Der Gotteswahn (2006, dt.: 2008); Christopher Hitchens Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet (2007, dt.: 2007). Kurz zuvor, im Jahr 2003, war in den USA die Bewegung der sogenannten Brights entstanden, welche ähnliche Ziele wie die Neuen Atheisten verfolgt und zu der sich auch Dennett und Dawkins bekennen. Die Brights und der Neue Atheismus fanden bald Ableger in verschiedenen Ländern, so in Deutschland mit der Giordano-Bruno-Stiftung und in Luxemburg mit dem AHA-Verein, der Allianz der Atheisten, Humanisten und Agnostiker.

Was ist so neu an diesem Atheismus? Brights und der Neue Atheismus haben eine gemeinsame Basis, nämlich den Naturalismus. Mit Naturalismus haben wir es zu tun, so der Philosoph Geert Keil, „wenn die Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, lautet, dass er mit allen seinen Eigenschaften und Fähigkeiten Teil der einen natürlichen Welt ist, die mit den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaft erschöpfend [Hervorhebung von H. H.] beschrieben werden kann“.1 Kein Wunder, dass auf dieser Grundlage wieder der alte, angebliche Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft aufgewärmt wird, allerdings, und das ist neu, unter Bezugnahme auf Evolutionsbiologie und Neurologie. Nicht erstaunlich ist dabei die Darstellung der Religion als fundamental irrational, gemäß dem bekannten Motto: „Glaubst du noch, oder denkst du schon?“.

Ein besonders hervorstechendes Merkmal dieses Denkens ist die These, nach der Religion nicht nur nicht wahr sei, sondern überaus schädlich. Das Argument: Sie stifte zu Gewalt an und setze mit der Indoktrinierung sogar schon bei Kindern an. Schließlich zeichnen sich die Neuen Atheisten durch eine bei Denkern, die sich selbst als hochrationale Wesen darstellen, überraschende und jeden Dialog verunmöglichende Aggressivität aus.

Wunsch nach echter Debatte

Umso erfreulicher ist es, wenn ein bekennender atheistischer Philosoph auf eine völlig andere, faire, wenn auch nicht unkritische Weise an das Phänomen Religion herangeht. Weshalb aber befasst sich ein ausgewiesener Spezialist auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes mit Religion? Crane äußert sich selbst in aller Deutlichkeit zu den Beweggründen seiner Studie: „Viele Einwände sind gegen die Neuen Atheisten vorgebracht worden: dass sie ‚schrill‘ sind, respektlos, aggressiv, ja sogar ihrerseits quasireligiös, beziehungsweise ‚fundamentalistisch‘. An einigen (oder allen) dieser Anwürfe mag etwas Wahres dran sein, mein Einwand gegen sie ist jedoch ein ganz anderer. Ich behaupte, dass die Konzeption von Religion, mit der die Neuen Atheisten arbeiten, unangemessen ist und dass darin der Hauptgrund liegt, warum sie mit ihrer Kritik bei denjenigen, denen sie gilt, auf taube Ohren stoßen: In dem von ihnen gezeichneten Bild der Religion finden sich die meisten Gläubigen einfach nicht wieder. Das ist auch der Grund, warum es keine Debatte gibt: Wenn man echte Diskussion über Religion will, muss man das Phänomen, um das es geht, akkurat darstellen.“ (S. 41f.)2

Cranes Absicht geht also dahin, zwischen Gläubigen und Neuen Atheisten eine „echte Debatte“ anzustoßen, denn „in Wahrheit haben wir gar keine echte Debatte, sondern lediglich Leute, die aneinander vorbeireden oder sich anschreien“ (S. 41). Crane geht dabei so vor, dass er nicht, wie vielleicht von Atheisten erwartet, ein neues Buch über Wahrheit und vor allem Falschheit der Religion schreibt, sondern sich einem doppelten Ziel widmet: Er will, „so breit und offen wie möglich die Frage diskutieren […], was Religion für Menschen bedeutet und welche intellektuellen, ethischen und praktischen Einstellungen Atheisten gegenüber dem Phänomen der Religion sowie gegenüber religiösen Menschen einnehmen sollen“ (S. 7).

In den drei ersten Kapiteln arbeitet Crane die Bedeutung von Religion für die Gläubigen heraus. Danach behandelt er ein äußerst delikates Thema, das zu den Standardargumenten der Religionsgegner zählt, nämlich den Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt. Im letzten Kapitel zeigt er, welches Verhältnis er zwischen Atheisten und religiösen Menschen für wünschenswert hält, indem er sich ein Zitat des Philosophen John Gray zu eigen macht und für eine Toleranz plädiert, „deren Ziel nicht Wahrheit, sondern Wahrung des Friedens ist“ (S. 11).

Was ist Religion für Tim Crane?

„Religion, so wie ich das Wort verwende, ist ein systematischer und praktischer Versuch, den Menschen unternehmen, um Sinn und Bedeutung der Welt und ihren Platz in dieser zu finden, und zwar in Form einer Beziehung zu etwas Transzendentem“ (S. 17), eröffnet Crane sein Buch. Von den vier von ihm angeführten Komponenten, nämlich System (Lehre), Praxis (Lebensführung), Sinnsuche und Transzendentes, untersucht Crane in seinem Buch nur „zwei wesentliche Bestandteile des religiösen Glaubens“ (S. 43), nämlich „religiösen Impuls“ und „Identifikation“.

Unter „religiösem Impuls“ versteht er „das Bedürfnis, sein Leben im Einklang mit dem Transzendenten zu führen“ (S. 22). Weitere Ausdrücke erläutern diesen Impuls: So besteht er „in dem vertrauten Gedanken, dass dies doch nicht alles sein kann, was es gibt; dass es mehr zwischen Himmel und Erden geben muss, als bloß dies“ (S. 45; Hervorhebung von T. C.). Ein anderer vertrauter Gedanke besagt, „dass die gewöhnliche Welt, wie wir sie tagtäglich erfahren, plus die Welt, die wir mithilfe der Wissenschaften erforschen, irgendeinen Sinn oder Zweck haben muss […]. Der religiöse Impuls beinhaltet die Auffassung, dass die Welt kein bedeutungsloser Ort ist. Deshalb kann dies nicht alles sein, was es gibt“ (S. 46f.).

Insofern von etwas Transzendentem, bzw. einer „unsichtbaren Ordnung“ (S. 58) die Rede ist, scheint Religion eine religiöse Kosmologie, also eine Art Welterklärung von der Welt im Ganzen zu beanspruchen und somit in Konkurrenz, wenn nicht gar in Widerspruch zur Naturwissenschaft zu geraten. Das ist der Vorwurf der Neuen Atheisten. Crane aber weist mit Recht darauf hin, dass diese Auffassung von Religion völlig an ihrem Wesen vorbeigeht: „Religion ist der Versuch, der Welt Sinn abzugewinnen, aber nicht in der Weise, in der die Wissenschaft das versucht […]. Die Suche nach Sinn unterscheidet sich grundlegend von der Suche nach wissenschaftlichem Wissen.“ (S. 74f.) Beide, Religion und Wissenschaft, haben jeweils ihr eigenes Ziel und ihre eigene Vorgehensweise; keine kann die Aufgabe der anderen angehen und erfüllen und soll es auch nicht versuchen. Man könnte über die Religion dasselbe behaupten, was der Physiker C. F. von Weizsäcker über die Philosophie schreibt: „Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, dass die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt“3, und das sind die existentiellen Grundfragen der Menschen.

Als zweiten Bestandteil von Religion nennt Crane die „Identifikation“. Er deutet sie als „Zugehörigkeit“ (S. 87). Bei ihr haben wir es mit der institutionellen und rituellen Dimension der Religion zu tun: Menschen eines selben Glaubens bilden gemeinhin eine Religionsgemeinschaft, geben so ihrem Glauben einen gesellschaftlichen Charakter und kommen damit auch zu einer gemeinsamen religiösen Praxis. Ähnliche Identifikationen gibt es nach Crane aber auch außerhalb der Religionen: das kann die Zugehörigkeit zu einer Nation oder zu einer Familie sein. Damit entschärft er zugleich den von den Neuen Atheisten erhobenen Vorwurf, dass die Religion „Kinder indoktriniere und ihnen Ansichten aufzwinge […]. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Art Zugehörigkeit aber wohl um etwas, das viel mehr Ähnlichkeit mit jenen Dingen hat, in die man hineinsozialisiert wird, wenn man in einer Familie aufwächst“ (S. 95). Die religiöse Erziehung hat demnach nichts mit Kindesmisshandlung zu tun, sondern ist im Prinzip vergleichbar mit Erziehung überhaupt.

Religion und Gewalt

Dass Religion von ihrem Wesen her Gewalt hervorbringt, ist einer der Standardanklagepunkte von Seiten des Neuen Atheismus. Es ist kein Zufall, dass die Brights und die Neuen Atheisten sich kurz nach 9/11 formiert haben. Crane versucht natürlich nicht, religiös motivierte Gewalt abzustreiten; er spricht in diesem Zusammenhang u. a. über die Kreuzzüge, die Spanische Inquisition und den Dreißigjährigen Krieg. Dann aber fährt er fort: „Nicht minder entsetzlich ist allerdings die Geschichte großformatiger nichtreligiöser Gewalt und Grausamkeit“ (S. 115) und hält auch hier eine Menge Beispiele parat, vor allem die vielfältigen Massaker aus dem 20. Jahrhundert.

Crane wehrt sich gegen die Behauptung von Seiten der Neuen Atheisten, die Religion sei die „Hauptursache der Gewalt und des Leidens in der Welt“ (S. 118). Worum es ihm dabei geht, ist, wie gesagt, nicht die Rolle der Religion bei der Entstehung von Gewalttaten zu relativieren, sondern für ihn ist „die Frage vielmehr: Was ist das für eine Rolle?“ (S. 117). Die Glaubensinhalte selbst hätten Crane zufolge kaum zu religiös motivierten Konflikten beigetragen, vielmehr sei der Aspekt der Identifikation, also die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und die politische Instrumentalisierung dieser Zugehörigkeit, für Gewalt verantwortlich zu machen. Seine Forderung: „Wir sollten die extreme Sichtweise, der zufolge die schlimmsten Gewaltausbrüche in der Menschheitsgeschichte religiöser Natur gewesen sind, ebenso zurückweisen wie die gleichermaßen abwegige Behauptung, dass es so etwas wie religiöse Gewalt nicht wirklich gibt. Die eigentliche Frage lautet, was genau religiöse Gewalt ist und worin das Potenzial der Religion besteht, Gewalt in häufig extremer Form zu schüren.“ (S. 134)

Plädoyer für Toleranz

Wie schon angegeben, hat Crane seine praktische Zielsetzung von Anfang an klar umrissen: Es geht ihm darum zu zeigen, welche Einstellung die Atheisten gegenüber der Religion einnehmen sollen, und er liefert dazu auch gleich den passenden Ansatz, nämlich Toleranz. Eine Motivation u. a. für diese Haltung besteht darin, dass, entgegen der Meinung vieler Atheisten, Religion nicht weltweit auf dem Rückzug ist, was für ihn nichts als „Wunschdenken“ (S. 151) ist. Religion ist seiner Ansicht nach „unausweichlich“ (S.149). Atheisten sollten deshalb darauf verzichten, Religion weg zu argumentieren „durch Reduktion auf andere Phänomene“ (S. 154), sondern versuchen, Religion zu verstehen und zu tolerieren.

Wichtig ist nun zu sehen, wie Crane diese Toleranz versteht. Sie hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun, aber auch nicht mit Achtung und Respekt gegenüber den religiösen Vorstellungen, denn „Toleranz gegenüber einer Sache impliziert, dass man sie ablehnt, missbilligt oder anderweitig negativ beurteilt“ (S. 163). Um nicht falsch verstanden zu werden, präzisiert Crane sofort: „Nicht alle Meinungen, aber alle Menschen [Hervorhebung von T. C. ] [verdienen] Respekt“ (S. 163f.). Anders formuliert: „Man kann Menschen tolerieren, ohne ihre Meinungen zu achten“ (S. 166).

Crane schließt sein Buch mit einem erneuten Bekenntnis zu seiner ursprünglichen Zielsetzung ab: „Jeder Vorschlag, wie Atheisten und Theisten zusammenleben sollen, muss sich letzten Endes dem Faktum stellen, dass weder die Religion noch der Säkularismus verschwinden werden. Das Minimalziel ist friedliche Koexistenz, das Maximalziel eine Art Dialog unter denen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen der Wirklichkeit haben. Es wird sehr schwierig sein, einen solchen echten Dialog in Gang zu bringen; der erste Schritt in diese Richtung muss aber darin bestehen, dass jede Seite ein angemessenes Verständnis von der Sichtweise des Gegenübers entwickelt.“ (S. 176) Es muss wohl nicht extra darauf hingewiesen werden, dass dieses Buch wärmstens zu empfehlen ist, natürlich den Atheisten, aber auch – und unbedingt – den Gläubigen.

 

  1. Geert Keil, „Anthropologischer und ethischer Naturalismus“, in: Bernd Goebel/Anna Maria Hauk/Gerhard Kruip (Hg.), Probleme des Naturalismus, Paderborn, mentis, 2004, S. 65-100, hier S. 73.
  2. Die Seitenangaben entsprechen der deutschsprachigen Ausgabe des Buches.
  3. C. F. von Weizsäcker, Deutlichkeit, München, Hanser, 1978, S. 167.

 

Tim Crane, Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten, Berlin, Suhrkamp, 2019.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code