SchülerInnen zuhören

Eine Voraussetzung für die mentale Entwicklung

Der Weg des Heranwachsenden zum Subjekt, das Verantwortung für sein Leben und die Gesellschaft übernehmen kann, ist spannend, aber nicht ohne Risiko. Der Prozess hin zur Autonomie wird begleitet von Zögern und Zweifeln. Manche fühlen sich zeitweise schlecht in ihrer Haut oder niedergeschlagen. Einigen fehlt der Antrieb, nicht nur zum Lernen. Andere sind auf der Flucht vor sich selbst oder den familiären Bindungen. Und bei manchen kann Wut aufkommen, die sie nur schwer kontrollieren können. Vielfach begegnet man Jugendlichen, die enttäuscht sind von den Erwachsenen, denen sie Egozentrismus im sozialen wie im politischen Bereich vorwerfen. So möchte ich im folgenden Beitrag der Frage nachgehen, wie man vor allem als LehrerIn Kindern und Jugendlichen im Alltag begegnen kann, um ihnen eine Stütze zu sein bei der Arbeit an einem eigenen Lebensentwurf. Die im Artikel angeführten Beispiele stammen aus eigener Forschung zum Schulabbruch und zur LehrerInnenbildung.

Seit jeher gilt die Schule als Ort, an dem SchülerInnen sich Wissen aneignen können, wo sie an der eigenen Autonomie arbeiten und Kompetenzen erlangen, die ihnen dabei helfen werden, ihren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft und der Welt zu leisten. Zwischen den Erwartungen der Eltern, den Anforderungen der Schule und generell den Herausforderungen der postmodernen Gesellschaft versuchen die SchülerInnen, ihren eigenen Weg als Subjekt zu finden. Somit ist die Schule ein Raum des Experimentierens mit Wissen und Verhaltensweisen, mit Lust und Unlust, mit der Ausübung von Einfluss und Unterwerfung. Deshalb mahnte Freud, die Schule solle „nie vergessen, dass sie es mit noch unreifen Individuen zu tun hat, denen ein Recht auf Verweilen in gewissen, selber unerfreulichen Entwicklungsstadien nicht abzusprechen ist. Sie darf nicht die Unerbittlichkeit des Lebens für sich in Anspruch nehmen; darf nicht mehr sein wollen als ein Lebensspiel.“1 

Es sind existenzielle Fragen, die oftmals die Liebe zum Wissen antreiben. Manche SchülerInnen sind in ihrem Begehren nach Wissen allerdings blockiert. Einigen fehlen die Worte und die Gesprächspartner, um ein Problem benennen zu können. Dies kann auf längere Zeit dazu führen, dass die fehlenden Worte durch ein Symptom ersetzt werden: Aggression, Depression, Konzentrationsmangel – unterschiedliche Schulschwierigkeiten können sich entwickeln. Aus einer psychoanalytischen Perspektive betrachtet resultieren solche Probleme nicht ausschließlich aus einem kognitiven oder organischen Defizit. Sie entstammen einem „nicht-bewussten“ Wissen, das plagt und von der Beziehung zur Sprache und den ErzieherInnen abhängt. Parallel zu anderen Maßnahmen muss dieses Wissen zur Sprache gebracht werden. Trainingsprogramme oder Medikamente sind nicht die alleinige Antwort auf psychische Herausforderungen. Sie bilden keinen Ersatz für vertrauensfördernde Beziehungen und einfühlsame Gespräche über Begehren, Frustration, Tod und Angst.

LehrerInnen setzen einen Fuß in die Tür 

LehrerInnen sind keine PsychologInnen, TherapeutInnen oder Psychoanalytiker­Innen. Sie sind allerdings auch mehr als SpezialistInnen in ihrem jeweiligen Fach. Aus Erfahrung kennen sie die zahlreichen Hindernisse, die Heranwachsende auf dem Weg zum Wissen zu überwinden haben. Sie wissen, dass SchülerInnen einen individuellen Bezug zum Wissen haben, der diesen teilweise unbewusst ist. Dafür haben sie ein Ohr und können darauf eingehen, z. B. dann, wenn eine Schülerin sagt, dass sie Französisch „hasst“, oder jemand behauptet, dass Literatur „scheiße“ ist, und ein anderer meint, dass Denken für ihn „keinen Sinn“ macht. 

LehrerInnen helfen den Heranwachsenden dabei, die Welt und das Leben in Zeichen zu setzen. Dabei zeigen sie ihnen auch die Spannungen auf, die zwischen einer Erkenntnis und der Wahrheit bestehen. Das Sein ist mehr als das Bewusstsein. Die Unmöglichkeit des vollkommenen Wissens kann entmutigen oder das Begehren zu wissen antreiben. Wissen gilt als Artikulation zwischen Begriffen, Symbolen, Signifikanten. Dieses Zwischen bildet allerdings immer ein Risiko. Auch Erwachsene zögern, bisheriges Wissen zu „relativieren“, d. h., mit neuen Erkenntnissen zu verbinden. Wissen braucht also Mut! „Sapere aude“, sagten Horaz und Kant. Deshalb brauchen Jugendliche Erwachsene, die ihnen Mut machen. 

Nichtidentität, paradoxes Verhalten, sich selbst oder eine Situation nicht in den Griff zu bekommen, das nervt Heranwachsende. Das eigene Leiden nicht zu verdrängen, sondern anzunehmen, ist die Vorrausetzung dafür, Andersheit zu erfahren. In der Tat kann ein Verlust oder eine Belastung uns dazu bringen, das eigene Ich und das Leben anders wahrzunehmen und neue Perspektiven zu entdecken. Die Konfrontation mit der eigenen Rätselhaftigkeit und der radikalen Andersheit führen dazu, offen zu sein für neue Potenzialitäten. Diesbezüglich haben viele LehrerInnen darauf hingewiesen, dass das Aufarbeiten von schmerzhaften Selbsterfahrungen ihnen geholfen hat, Kinder und Jugendliche zu verstehen und zu unterstützen, damit sie nicht einfach vor Schwierigkeiten und Leidensdruck fliehen.2 Durch geduldiges Zuhören, wenn Jugendliche Schmerz, Desorientierung oder Hass zum Ausdruck bringen, können LehrerInnen durchaus das Gefühl vermitteln, dass man der Situation nicht unbedingt machtlos gegenübersteht und dass es Interpretationsspielraum gibt. So setzen Erwachsene einen Fuß in die Tür, damit Jugendliche sich anders auf Belastungen einstellen und sich für das Reale öffnen können. Die Aufmerksamkeit der Erwachsenen kann SchülerInnen helfen, etwas Abstand von einem Problem zu gewinnen. 

Was können LehrerInnen tun?

Wichtig scheint mir, dass SchülerInnen sich nicht wie Objekte behandelt fühlen, sondern als Subjekte ihrer eigenen Geschichte. In der Tat haben Kinder vielfach ihre Vorstellungen, etwa „sexuelle Theorien“ (Freud), ein phantasmatisches, unbewusstes Wissen und Fragen, auch wenn sie nicht immer formuliert werden (können). Auf dieses Wissen einzugehen, kostet oft Zeit und Mühe. Es setzt voraus, dass man sich als LehrerIn zurücknimmt, Abstriche machen kann von den Erwartungen an sich selbst, alles wissen oder alles im Griff haben zu müssen. 

Besonders wichtig wird dies bei Kindern, die das Gefühl haben, ihren Platz, ihre Position im Leben oder der Klasse nicht finden zu können oder zu dürfen. Einige leben in permanenter Angst, ihre Freiheit zu verlieren. In der Übertragung suchen sowohl SchülerInnen wie LehrerInnen nach ihrem Platz, einer Position, d. h. der Umsetzung ihres eigenen Begehrens.

Kinder wie Jugendliche erleben in vielen Kontexten Angst. Auch hier können LehrerInnen wichtige Unterstützung bieten und die Angst mildern. Worte und Bewertungen können verletzen, aber auch positiv berühren, begeistern und eine lebenslange Stütze sein. Der Erwachsene ist kein Gott (Lacan), aber er kann durch passende Worte helfen, dass jemand sich aus seinen Ängsten und Zwängen entfesselt und befreit. Manchmal reicht es, wenn SchülerInnen erfahren, dass ihr Lehrer sie nicht als Loser oder „Störenfried“ abstempelt. Das zeigt, dass unsere Beziehungen immer wieder geprägt sind von Missverständnissen. Diese zu akzeptieren und aufzuarbeiten, bietet eine Gelegenheit, sowohl die eigenen unbewussten Motive als auch den anderen besser zu verstehen.3 Deshalb sollten LehrerInnen den SchülerInnen auch nicht das Gefühl geben, alles zu wissen. Für die SchülerInnen ist es wichtig, LehrerInnen als Menschen zu erleben, die selbst offen bleiben für neue Perspektiven. So werden sie dazu ermutigt, Denken und Interpretieren, Tüfteln und Urteilen auszuprobieren. Einigen muss die Angst vor dem Denken genommen werden. Verständlich, da Denken und Studieren immer auch einen Verlust am schnellen Genuss impliziert.

LehrerInnen sind gelegentlich mit sprachlichen Provokationen und Verachtung konfrontiert. Das kann manchmal traumatische Ausmaße annehmen, wenn etwa die Autorität eines jungen Referendars in Frage gestellt wird. Dabei steht für Jugendliche oft selbst viel auf dem Spiel. Sie spiegeln sich im betreffenden Lehrer und hassen ihn deshalb. Oft haben sie das Gefühl, ihre Unabhängigkeit zu verlieren oder fürchten, ein bornierter Erwachsener zu werden. Verschiedene Jugendliche fühlen sich stark, aber sie belügen uns und sich selbst dabei. Es geht ihnen darum, ihrem Leiden auszuweichen oder es zu verdecken. Bei manchen Heranwachsenden kann es u. a. auch die Angst vor dem Nichts, dem „Nichtexistieren“ sein, welche sie zur permanenten Provokation antreibt.

In solchen Situationen scheint es mir wichtig, dass die Jugendlichen etwas von der Mehrdeutigkeit des Sprechens erleben. LehrerInnen könnten Jugendlichen andeuten, dass hinter ihrem Hass, ihren Provokationen und ihren Handlungen ein unzerstörbares Begehren seinen Weg sucht. Manchmal kann ein solches Vorgehen „Berge versetzen“. In dem Sinne ist es schon von Nutzen, Jugendlichen zu helfen, ihre häufig nach außen projizierte Selbstverachtung und ihre Konfusionen im Gespräch mit den Erwachsenen zu klären und somit eine ihnen eigene Sprache zu entwickeln. Dazu brauchen LehrerInnen nicht immer große Theorien zu präsentieren. Gute Fragen eröffnen Pisten, die die Heranwachsenden auskundschaften können. Solche Anregungen ermöglichen den SchülerInnen, dem eigenen intimen Wissen Raum zu geben und unbewusste Szenarien zu hinterfragen. Subjektwerdung braucht den Bezug zur radikalen Andersheit von sich selbst: „Je est un autre“, schreibt Arthur Rimbaud in einem an Paul Demeny gerichteten Brief vom 15. Mai 1871.4 In der Begegnung, dem Gespräch mit dem anderen können wir entfremdende imaginäre Vorstellungen von uns selbst und den anderen loslassen. Somit dezentrieren wir uns auf das Noch-Nicht hin. Das ist die Grundaufgabe von Schule: Einübung in das Sprechen und die unterschiedlichen Grammatiken der einzelnen Lebens- bzw. Fachbereiche. 

Ohne direkt bei Provokationen zu bestrafen, werden dem Genießen im Gespräch Grenzen gesetzt. Das ist nicht unbedingt autoritär. LehrerInnnen unterstützen die Subjektivität der Heranwachsenden, wo sie durch ihre Gefühle, Lust und Unlust überfordert sind. Es geht darum, dass sie offenbleiben, damit sie durch das Versprachlichen von Frustration und Unsicherheiten freier werden. So transformieren sich Symptome in Begehren. Dazu ist es auch wichtig, selbst „gut zu sprechen“, sich in ein „bien dire“ einzuüben, um eine Kritik oder eine Aufforderung sowohl einfühlsam wie auch motivierend formulieren zu können.

Heranwachsende müssen lernen, mit Kontingenz, Mangel und Ambivalenz umzugehen. Dies ist schwierig, und deshalb halten wir so gerne an einem eindimensionalen Selbstbild des Helden, des Allwissenden oder des Dummen, des Ausgeschlossenen fest. Diesbezüglich können LehrerInnen ihre SchülerInnen unterstützen, wenn sie nicht moralisieren, sondern beobachten, wie ihre SchülerInnen sich anlegen, um mit Mangel und Negativität umzugehen. Etwa wenn sie sich im Fach „Vie et société“ mittels Zeichnungen und Gesprächen mit dem Thema Angst auseinandersetzen. „Ich verstehe die SchülerInnen jetzt anders“, sagte ein Lehrer anschließend.

Die Ethik der LehrerInnen

LehrerInnen sind wichtige Akteure im Entwicklungsprozess der Heranwachsenden. Ihr Bezug zum Menschen, ihre Ethik ist ihnen Kompass. In der Begegnung mit dem anderen als Subjekt offenbart sich etwas von der Geheimnishaftigkeit des Lebens und der Welt. LehrerInnen versuchen deshalb, den SchülerInnen in ihrer Einmaligkeit gerecht zu werden, obwohl man dem Gegenüber eigentlich nie ganz gerecht werden kann, wie Jean-Luc Nancy schreibt.5 Sie wollen Schüler­Innen in ihrer Andersheit und nicht nur als Gruppe begegnen. Im Sinne Arendts gehen sie davon aus, dass „jeder Mensch auf Grund seines Geborenseins ein Initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist“, der Initiative ergreifen kann und Anfänger von Welt sein kann.6 

Kinder und Jugendliche so zu begleiten, heißt nicht, sich für sie aufzuopfern, sondern an sich selbst zu arbeiten, um wirklich präsent zu sein.7 Dem Anderen helfen heißt, sich befreien von den Vorstellungen, die uns behindern, ein begehrendes Wesen zu sein. Lebst du? Liebst du dich genügend? Hast du dich irgendwie selbst entfremdet? Das sind Fragen, die Jugendliche an die Erwachsenen stellen. Solche Ansprüche können die LehrerInnen auf ihre radikale Andersheit hin öffnen. Supervisionsgruppen für LehrerInnen eignen sich, um etliche Verkennungen zu überwinden und in der Spannung zum „Noch-Nicht“ zu leben. 

Letztlich kann man die Ethik des/der Lehrers/in im Anschluss an ein Wort von Lacan8 so formulieren: Das einzige, dessen ein Lehrer schuldig sein kann, ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren, SchülerInnen in ihrer Liebe zur Welt, zur Versprachlichung des Lebens und zum Wissen zu unterstützen.  

  1. Sigmund Freud, GW VIII: Zur Einleitung der Selbstmord-Diskussion, Frankfurt a. M., Fischer, 1999, S. 62f.
  2. Denis Vasse, Le poids du réel, la souffrance, Paris, Editions Seuil, 1983.
  3. Jacques Lacan, Ornicar? Bulletin périodique du Champ freudien, Paris, Lyse, 1977, S. 12f.
  4. Arthur Rimbaud, Poésies complètes, Paris, Le livre de poche, 1998, S. 149.
  5. Jean-Luc Nancy, Juste impossible, Paris, Bayard Editions, 2007, S. 32.
  6. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich, Piper, 2002, S. 215.
  7. Daniel Sibony, Don de soi ou partage de soi?, Paris, Odile Jacob, 2000, S. 249f.
  8. Jacques Lacan, Le Séminaire, Livre VII: L’éthique de la psychanalyse, Paris, Editions Seuil, 1986, S. 383.

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