Stimmen zur Reform

forum sprach mit Simone Flammang und David Lentz von der Generalstaatsanwaltschaft sowie mit Charel Schmit (OKAJU) über die geplante Reform

Bei der Arbeit an diesem Dossier sind uns schnell einige zentrale Aspekte der geplanten Reform aufgefallen, über die – teilweise seit langer Zeit – besonders leidenschaftlich diskutiert wird; die von den Befürworter*innen besonders begrüßt, von den Kritiker*innen besonders bemängelt werden. Aus diesem Grund hat forum sich mit Vertreter*innen beider Positionen zum Gespräch verabredet. Am 8. August trafen wir premier avocat général Simone Flammang sowie den stellvertretenden Oberstaatsanwalt David Lentz im Cité judiciaire, um die Perspektive der Generalstaatsanwaltschaft zu hören. Für die andere Sichtweise führten wir am 25. August ein Interview mit dem OKAJU Charel Schmit bei uns im forum-Büro. 

Trennung von Jugendschutzrecht und Jugendstrafrecht

„Bis heute haben wir ein Gesetz, das auf beide Bereiche appliziert wird“, so der stellvertretende Oberstaatsanwalt David Lentz zur Trennung von Jugendschutz- und Jugendstrafrecht. „Damit kann man aus zwei Perspektiven auf eine Person schauen. Auch wenn ein Jugendlicher eine Straftat begangen hat, können wir nachvollziehen, woher diese Person kommt, welche Probleme sie hat und ob sie eventuelle Maßnahmen zu ihrem Schutz benötigt. Das ist mit der Reform einfach nicht mehr möglich, weil die beiden Texte ja strikt getrennt sind.“ Sowohl er wie auch Simone Flammang können prinzipiell zwar nachvollziehen, dass beide Bereiche getrennt werden, sehen darin auch Vorteile und machen sehr deutlich, dass es nicht in ihre Kompetenz falle, diese politische Entscheidung zu kritisieren. Was ihnen aber wichtig ist: auf in ihren Augen konkrete Probleme der neuen Texte hinzuweisen. „Was uns am Herzen liegt, ist die Tatsache, dass es Texte sein müssen, die in der Praxis umgesetzt werden können“, so Flammang, „für die, die mit den Texten arbeiten müssen. Und das tun wir nicht aus eigenem Interesse heraus, sondern aus dem Interesse derjenigen, auf die die Texte sich beziehen: nämlich die jungen Leute. Das ist unsere Hauptkritik an den drei Texten: dass das nicht der Fall ist, dass das Texte sind, die voller prozeduraler und juristischer Schwierigkeiten sind, die es uns nachher ganz schwer machen, damit arbeiten zu können.“

Simone Flammang und David Lentz (© Philippe Reuter / forum)

Worin diese Schwierigkeiten bestehen, wollen wir wissen. „Mit der aktuellen Verbindung von Jugendschutz- und Jugendstrafrecht in einem Text“ sei der Vorteil verbunden, so Lentz weiter, „dass es einen Richter gibt, eine Art Orchesterchef, der alle Informationen über die minderjährige Person in einer Hand hält. Alle Informationen über einen Minderjährigen kommen momentan in ein Dossier. Der Vorteil ist: Wenn ein Dossier in den Bereich des Strafrechts fällt, hat der Richter alle nötigen Informationen, die er braucht, um sich ein Bild von der betroffenen Person zu machen. Wenn wir aber nun zwei Texte haben, riskieren Informationen verloren zu gehen; denn dann sind vielleicht Informationen in einem Dossier enthalten, die sich im anderen nicht wiederfinden. Was vergessen wird: Ein und derselbe Jugend­liche kann Jugendschutzmaßnahmen benötigen und Straftaten begehen. Der Vorteil von einem System, in dem nur ein Richter handelt, ist der, dass der Richter alles in seiner Hand hat.“ Simone Flammang ergänzt: „Jeder Jugendliche hat momentan seinen eigenen Richter. Als Jugendrichter mache ich das Dossier auf, und ich folge dem so lange, bis der Jugendliche die Begleitung nicht mehr braucht. Das wird in Zukunft wegfallen. Nach der Reform wird der Jugendrichter nur noch auf Initiative vom Office national de l’enfance (ONE) mit einer Anfrage befasst sein: Der ONE fragt eine Maßnahme an, der Richter verabschiedet die Maßnahme und das war’s. Er verfolgt das Dossier nicht mehr. Das heißt: Der Jugendrichter als Orchesterchef ist Vergangenheit.“

Das, was die Generalstaatsanwaltschaft kritisiert, begrüßt OKAJU Charel Schmit als kinderrechtlichen und rechtsstaatlichen Fortschritt. Die Vorstellung, dass durch die Verbindung von Jugendstraf- und Jugendschutzrecht ein ganzheitlicher Blick auf das Kind gewährleistet sei, hält er für eine sehr institutionelle Sichtweise auf den Umgang mit Fällen. „Eine ganzheitliche Sichtweise von Kindern in Not und auch von Kindern, die Straftaten begangen haben, reduziert sich nicht auf die Alleinzuständigkeit einer Institution“, führt er aus. „Das ist ein völlig verstellter institutioneller Blick, der in der Sozialen Arbeit längst überwunden worden ist. Anders wird ein Schuh draus: Nur durch die Trennung von Jugendstraf- und Jugendschutzrecht können wir einen ganzheitlichen Blick auf das Kind gewährleisten. Die Frage ist, wie man interinstitutionell und multiprofessionell zusammenarbeitet. Die Frage ist, wer mit welchen Kompetenzen wie möglichst sinnvoll seinen Beitrag dazu leistet, einer Notsituation, einer Erziehungsbedürftigkeit, einem delinquenten Verhalten so zu begegnen, dass die Situation behoben wird. In diesem Sinne ist es eine Frage der gesetzlichen Verankerung dieses Zusammenwirkens der verschiedenen Akteure.“

 

Charel Schmit (© Jessica theis für OKAJU)

Interinstitutionelle Zusammenarbeit

Genau an diesem Punkt sieht David Lentz große Probleme. „Der Jugendschutz wird nach den Vorstellungen der Reform von einer Verwaltung (ONE) gehandhabt, wo der Richter nichts zu sagen hat, solange er keinen Antrag vom ONE erhält, und auf der anderen Seite gibt es dann Jugendstrafrichter. Zwischen beiden Instanzen ist nach den neuen Texten ein Austausch nur noch unter erschwerten Bedingungen gewährleistet; ein Austausch, der prozedural äußerst kompliziert ist. Der Jugendstrafrichter bekommt nicht mit, wie die schulische Situation des Jugendlichen ist oder wie die Situation zuhause ist, was aber nicht unwesentlich ist bei Jugendlichen, die Straftaten begehen.“

Wo Lentz ein Problem erkennt, sieht Schmit eine endlich auch in Luxemburg geschlossene gesetzliche Lücke. „Endlich wird der Informationsaustausch auf juristisch sichere Beine gestellt. Mit den neuen Texten wird das secret professionel hinsichtlich der Weitergabe der Information neu bestimmt, das interinstitutionelle Vereinbarungen zur Zusammenarbeit ermöglicht und vereinfacht, wie beispielsweise die Anwendung des Barnahaus-Modells1. Und all das ist auch erforderlich. Ein ganzheitlicher Blick auf das Kind kann nur dann gewährleistet werden, wenn man sich Spielregeln gibt, wie das organisiert werden kann und wer dazu Informationen liefern kann. Und da gehören die Spezialist*innen aus der Psychiatrie und aus der Sozialen Arbeit dazu. Und Ganzheitlichkeit heißt eben nicht Alleinzuständigkeit einer Institution. Es ist vollkommen verkürzt zu behaupten, die Schaffung eines genuinen Jugendstrafrechts würde diesen ganzheitlichen Blick verhindern.“ hebt er die Bedeutung des Datenschutzes hervor.

Datenschutz

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Blick auf den Datenschutz jedoch Zweifel daran, dass ein interinstitutioneller Austausch gewährleistet ist. „Ich kann ja einer Verwaltung nicht das ganze dossier pénal übergeben oder Untersuchungsunterlagen, die noch beim Untersuchungsrichter sind“, so Lentz. „Ich muss ja auch den Jugendlichen schützen, ich kann nicht einfach automatisch alles an eine Verwaltung übertragen. So einfach ist das nicht. Wenn man auf der einen Seite einen Jugendschutzrichter und auf der anderen Seite einen Jugendstrafrichter hätte, wäre die Kommunikation einfacher. Wenn aber eine autorité judiciaire mit einer Administration kommunizieren muss, wird das sehr kompliziert.“ Flammang ergänzt: „In einem dossier pénal stehen ja nicht nur Informationen über den straffälligen Jugendlichen, darin stehen auch Namen und Aussagen der Zeugen oder der Opfer sowie, zum Beispiel, das Transkript der Vernehmung des Opfers einer sexuellen Straftat – und zwar mit allen intimen Einzelheiten. Das sind Informationen, die wir nicht einfach so durch die Landschaft schicken können. Datenschutzgesetze sowie das secret de l’instruction verbieten uns das. Dadurch wird ein Austausch zwischen Administration und Justiz unmöglich.“

Der OKAJU beurteilt das anders. Erstens glaubt er nicht daran, dass dieser Austausch kompliziert wird, gerade weil er nun auf klaren gesetzlichen Regelungen beruhen wird. Andererseits hebt er die Bedeutung des Datenschutzes hervor. „Datenschutz gibt es ja, um die Horrorvorstellung des Panoptikums, des allwissenden Staates zu verunmöglichen. Deshalb muss gesetzlich verankert werden, auf welche Informationen wer zurückgreifen möchte oder muss, wenn sie zielgerichtet für die Bearbeitung eines Falles notwendig sind. Wenn es notwendig ist, sich in Polizeidatenbanken oder in der Datenbank des ONE zu erkundigen, um eine Anamnese, eine Fallgeschichte zu erstellen, die notwendig ist, wenn man sich als Richter oder Staatsanwaltschaft damit befasst, dann ist es selbstverständlich, dass das punktuell möglich sein muss. Und dafür müssen wir uns die gesetzlichen Grundlagen geben. Und die neue Gesetzesvorlage zum Jugendschutz gibt uns im Rahmen eines secret professionel partagé die Möglichkeit, zielgerichtete Informationen abzurufen. Bisher gibt es eine Praxis des Austauschs von Informationen, die auf unklarer gesetzlicher Basis fußt. Und gerade im Bereich des Kinderschutzes ist das natürlich absolut notwendig. Der vorliegende Entwurf des Jugendschutzgesetzes bietet nun eine gesetzliche Grundlage dafür.“

Diversionsmaßnahmen

David Lentz und Simone Flammang betonen an verschiedenen Stellen im Gespräch immer wieder, dass das jetzige System in ihren Augen sehr gut funktioniere. So zum Beispiel auch in Sachen Diversion, was bedeutet, dass delinquente Jugendliche um ein normales Jugendstrafverfahren „umgeleitet“ werden und ihnen das Angebot gemacht wird, zum Beispiel auch im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleichs alternative Maßnahmen, zu denen auch soziale Tätigkeiten für die Gesellschaft gehören können, abzuleisten. Der Vorteil: Die Jugendlichen sind bei einer Diversionsmaßnahme nicht vorbestraft und daher auch nicht stigmatisiert. „Momentan ist es so“, erklärt Lentz, „dass die Staatsanwaltschaft im großen Maße Diversionen bei jugendlichen Straftätern anordnet. Das aktuelle Gesetz ist unkompliziert und leicht anwendbar.“ Dies bestreitet OKAJU Charel Schmit auch nicht, betont aber, dass die jetzt von der Staatsanwaltschaft angeordneten Diversionsmaßnahmen zwar angeordnet werden können, die Jugendlichen aber kein Recht darauf haben. Das sei der große und qualitative Unterschied. Die Frage sei: „Gibt es eine Rechtsgarantie des Jugendlichen auf eine abgestufte Vorgehensweise? Hat er ein Recht auf eine Diversionsmaßnahme? Es ist nicht die Frage, ob eine gewährt wird, sondern dass man ein Recht darauf hat. Vielleicht ist die Praxis heute schon so, tant mieux, aber wir brauchen die rechtliche Absicherung. Wichtig ist, dass das Kind es einfordern kann und bei der Bestimmung der Diversionsmaßnahme eingebunden wird. In Belgien wurde das 2018 gesetzlich verankert, warum sollte es nicht auch hier funktionieren?“

Strafmündigkeit

Auch das Strafmündigkeitsalter von 14 Jahren macht der Generalstaatsanwaltschaft Sorgen. „Mit den neuen Texten kann ich nichts gegen straffällige Minderjährige unter 14 Jahren tun“, sagt Simone Flammang. „Auch der ONE nicht. Der ONE kann da juristisch nicht intervenieren. Den straffälligen Kindern geschieht gar nichts. Erst ab dem Alter von 14 Jahren können wir intervenieren. Sowohl in Belgien, Frankreich und Deutschland gibt es Täter, die einen Mord begangen haben und die unter 14 Jahre alt sind. Rezente Fälle. Es gibt sie. Wir werden nichts tun können.“

Angesprochen auf straffällige Kinder, die jünger als 14 sind und wie sie in Luxemburg z. B. zuletzt unter dem Begriff „Happy Slapping-Group“ in Erscheinung getreten sind, wird Schmit sehr deutlich: „Grundsätzlich kann man die Debatte so nicht führen. Man kann eine Debatte nicht anhand von Extrembeispielen führen. Man schreibt keine Gesetze, um Extrembeispielen zu begegnen. Aber Gesetze müssen Extrembeispielen auch eine Antwort geben können. Die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 sieht vor, dass man ein Strafmündigkeitsalter einführt, damit es eine Verbindlichkeit gibt in Bezug auf das Alter, ab dem auch repressive Maßnahmen möglich sind, u. a. der Freiheitsentzug. Egal, für welches Alter man sich entscheidet, es werden sich immer hypothetische oder praktische Beispiele finden lassen, bei denen das straffällige Kind unter diesem Strafmündigkeitsalter liegt. Es ist eine Festlegung, eine Konvention, ab welchem Alter Minderjährige zur Rechenschaft gezogen werden beim Verstoß gegen Gesetze. Diese Festlegung ist immer eine politische Entscheidung, so wie bei der Festlegung beim Schwangerschaftsabbruch, beim Wahlrecht. Wir kennen ja auch heute bereits ein Strafmündigkeitsalter von 16 Jahren, ab dem ein*e Jugendliche*r ans Erwachsenengericht verwiesen werden kann – das sogenannte dessaisissement (Artikel 32) – allerdings ohne präzise Kriterien wie in Belgien.

So eine Festlegung kommt der Exekutive zu, nicht der Judikative. Diese Festlegung ist konventionell, aber nicht arbiträr. Denn, damit sie nicht arbiträr ist, muss man sich orientieren an den Erkenntnissen und Konzepten der Sozialisationsforschung und der Entwicklungspsychologie, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts ja auch ein paar Erkenntnisse hinzugewonnen haben. Fest steht, das Alter darf nicht zu niedrig sein. Und in der Observation générale no 24 (2019) des UN-Kinderrechtsausschusses zu Fragen der Jugendjustiz wurde ganz klar ein Strafmündigkeitsalter von 14 Jahren empfohlen. Nicht nur als arithmetisches Mittel aller Länder, sondern basierend auf Erfahrungswerten und unter Bezugnahme auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse.“

Jugendkriminalität in Luxemburg

So unterschiedlich unsere Gesprächs­partner*innen die Reform aber auch einschätzen, in einem sind sie sich einig: Über das Ausmaß der Jugendkriminalität in Luxemburg kann man nichts sagen. Dafür fehlen schlichtweg die Zahlen. David Lentz: „Da wir kein Jugendstrafrecht haben, ist es schwierig, Statistiken über Jugendkriminalität zu erheben.“ Angesprochen auf die Frage, wie sich dieser Umstand ändern ließe, hat Charel Schmit eine einfache Antwort: „Das Hochschulministerium könnte einen Auftrag an die Universität Luxemburg erteilen und diese es in ihr Forschungsprogramm aufnehmen. 300.000 bis 500.000 Euro pro Jahr, und dann läuft das. Eine Professur mindestens mit entsprechenden Fachkräften, mehr braucht es nicht. Wenn man das politisch möchte, ist es möglich.“ 


Fragestellungen und Texteinrichtung von HM


1 Siehe dazu den Text von Charel Schmit in diesem Dossier.

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