Suffizienz – die Endgegnerin des Kapitalismus?

Die Frage ist gleichzeitig verwirrend und provokant. Sie stimuliert die Imagination, beschwört das utopische Denken und führt insgeheim einen aufrührerischen, revolutionären Unterton mit sich. Hören asketische Jedi-Ritter die Signale? Können sie das Imperium im letzten Gefecht schlagen und den Todesstern ausmerzen? Bei der Star Wars-Trilogie steht die Entscheidung stets auf der Kippe, mündet aber in einem Happy End. Ob es im Anthropozän ähnlich ausgeht, ist alles andere als gewiss.  

© Carlo Schmitz

Wieso der Kapitalismus verlieren muss

Ich will der Beantwortung der Frage nicht ausweichen, würde aber zuerst einmal thesenhaft sagen, dass Suffizienz zumindest ein konstitutives Prinzip einer post-­kapitalistischen Gesellschaft wäre. 

Für Linke ist der Kapitalismus ein ökonomisches Modell, das es zu überwinden gilt: Es basiert auf der permanenten Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen und laugt beide aus. Der Kapitalismus ist in seiner strukturellen Dynamik entgrenzend und totalitär: Weil seine inhärente Wachstumslogik immer mehr Waren und Dienstleistungen produzieren muss, erschließt und verbraucht er immer mehr Ressourcen; genauso wie er immer mehr Bereiche des menschlichen und sozialen Lebens in marktkonforme Waren verwandelt. 

Die Logik der Profitmaximierung ist dabei blind gegenüber den Bedingungen und Folgen ihres Wirtschaftens: Sie frisst sich überall rein und kannibalisiert in gewisser Weise ihre eigenen Grundlagen. Sollten endliche Grenzen – wie die eines Planeten – im Weg stehen, so erschließt sie ihre Ressourcen im Weltall, das ja bekanntlich unendlich ist.    

Als Wirtschaftsart klingt das alles sehr unvernünftig und gehört eigentlich abgeschafft. Nur: Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist auch ein Herrschaftssystem, das Gesellschaft(en) strukturiert. Es produziert und verfestigt soziale Ungleichheiten in den am meisten entwickelten Ländern und hinterlässt Menschen mit einem ohnmächtigen Gefühl gegenüber einer Ordnung, die alternativlos erscheint. Das System inkorporiert die soziale Reproduktion, die geleistete Care-Arbeit, als wären sie kostenlos. Gleichzeitig wurden jahrzehntelang Kosten (Umweltschäden, billige Arbeitskräfte) in die Länder des globalen Südens externalisiert oder aus ihnen importiert. Den Ausgebeuteten im globalen Norden führte man somit vor Augen, dass sie auf vermeintlich hohem Niveau klagen. Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand beschreibt dies als „imperiale Lebensweise“ und meint nicht zuletzt auch die bereits vom marxistischen Philosophen Antonio Gramsci beschriebene kulturelle Hegemonie der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. 

Nach dem Zusammenbruch des sogenannten Staatssozialismus dominierte diese Wirtschaftsweise die Welt. Unter den Stichworten Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung unterwarfen sich immer weitere Teile der Welt und immer tiefere Sphären des gesellschaftlichen Zusammenlebens der kapitalistischen Logik. 

Parallel dazu breitete sich langsam, aber sicher die Erkenntnis aus, dass die permanenten Produktionssteigerungen die Grenzen der verfügbaren Ressourcen erreichen und Umweltschäden hervorrufen werden. Vor allem aber drang die begrenzte Aufnahmekapazität natürlicher Senken (Ozeane und Wälder) und der Atmosphäre (CO2) ins öffentliche Bewusstsein – die Ursachen des menschengemachten Klimawandels und des grassierenden Verlustes an Biodiversität. Beide Phänomene stellen mittelfristig die Lebensgrundlagen des Menschen in Frage. Die Lage ist also ernst.

Der Kapitalismus setzt angesichts dieser ernüchternden Feststellung vor allem auf Effizienzgewinne: Mit weniger Ressourcen soll mehr produziert werden. Nur zeigt die Wirklichkeit, dass ein sehr großer Teil der Effizienzgewinne durch Rebound-Effekte zunichte gemacht wird. Die Menge an Ressourcen für die produzierten Waren und Dienstleistungen und die dafür benötigte Energie gingen nicht zurück, sondern nahmen sogar noch weiter zu. In anderen Worten: Auch ein begrünter Kapitalismus führt ins Anthropozän.

Angesichts des offensichtlichen Versagens einer ökologischen Modernisierung des Kapitalismus werden immer mehr Stimmen laut, die den kapitalistischen Wachstumszwang in Frage stellen und für Suffizienz plädieren. Gemeint ist damit, dass ein Mensch oder eine Gesellschaft nicht mehr verbrauchen sollen als sie für ihre Lebensgrundlagen benötigen und gleichzeitig in Wohlstand leben können. Es geht um das Gute Leben, das Konzept des Buen Vivir der indigenen Kulturen der Andenländer. Dies – so der Gedanke – führe zu einer Reduktion der benötigten natürlichen Ressourcen und einer starken Begrenzung der Umweltschäden. 

Das würde allerdings ein Element kapitalistischer Produktion in Frage stellen: den Zwang, immer mehr zu produzieren. Damit würde einen tiefgreifenden sozial-ökologischen Transformationsprozess in unserer Gesellschaft eingeleitet werden: Die Art und Weise, wie wir zusammen leben, arbeiten und konsumieren, würde sich fundamental verändern. 

Die Menschheit braucht Perspektiven

Es gibt verschiedene Suffizienz-­Theorien und -Strategien. Ich versuche jene zu beschreiben, welche ich für fruchtbar halte. Jene, die das Potential haben, anstelle des imperialen Todessterns zu treten.

Ich teile die Überzeugung, dass sich die Menschheit als Ganzes beschränken und suffizienter leben muss. Allerdings muss man bedenken, dass der materielle Überfluss und Überkonsum ungleich verteilt sind. Laut einer rezenten Oxfam-Studie ist das reichste 1% der Weltbevölkerung für mehr Emissionen verantwortlich als die komplette ärmste Hälfte der Weltbevölkerung. Suffizienz als Strategie im Kampf gegen Klimawandel und Ressourcenverschwendung muss hier ansetzen. Suffizienz ist daher auch eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit.

Dies bedeutet in der Tat einen Paradigmenwechsel: Konsum darf nicht mehr weiter reine Privatsache sein. Vor allem muss es eine Obergrenze für Konsum geben, ebenso wie für Reichtum an sich. Dies impliziert eine Gesellschaft ohne astronomische private Profite und grenzenlose Kapitalakkumulation. Diese radikale Selbstbeschränkung müsste sich eine suffiziente Gesellschaft selbst auferlegen. Dafür braucht sie Regeln und Steuerungsmechanismen, die kollektiv und demokratisch festgelegt, umgesetzt und überprüft werden. 

Das wirtschaftliche Leitmotiv der kapitalistischen Konkurrenz (zwischen Ländern, Betrieben und Menschen) würde für jenes einer solidarischen Kooperation Platz machen. Das Prinzip der Profitmaximierung müsste hinterfragt werden und ein Care-Prinzip an seine Stelle treten. Wesentliche Lebensgrundlagen bräuchten eine Entkommerzialisierung, die öffentliche Daseinsvorsorge einen Ausbau: Bildung, Gesundheit, Ernährung, Wohnen, Mobilität, soziale Sicherungssysteme, öffentlicher Raum und Kommunikation dienten in einer suffizienten Gesellschaft als kollektiv gesicherte, hoch performante und sich stets weiterentwickelnde Grundlage für den Wohlstand eines jeden Einzelnen. Das Ziel: Der Erde nicht mehr Ressourcen zu entziehen, als sie reproduzieren kann. Die menschliche Arbeit diente in diesem System nicht mehr den Profitinteressen einiger Weniger, sondern trüge zum gesellschaftlichen Wohlstand aller bei – mit dem Respekt vor der natürlichen Umwelt. Dazu bräuchten wir aber auch ein Wohlstandsmodell, das sich, anders als das Bruttoinlandsprodukt, nicht rein an der Zahl der verkauften Waren und Dienstleistungen misst.   

Ein solches Konzept von Suffizienz steht in deutlichem Widerspruch zu einer neoliberalen Vorstellung von Austerität, bei der den Individuen (und besonders den Geringverdienenden) Verzicht gepredigt wird, um Gewinnmargen zu erhöhen und die kapitalistische Wachstumsspirale anzutreiben. Noch perverser ist in dieser Idee nur, beim geringverdienenden Einzelnen einen Anteil an der Rettung des Klimas einzufordern.

Der Übergang zu einer suffizienten Gesellschaft wird mit Sicherheit nicht konfliktfrei sein: Eine Gesellschaft ohne Wachstumszwang, ohne grenzenlose Profitmöglichkeiten und mit eingeschränkter Ressourcennutzung wird mächtige Gegner haben. All jene, deren Profitinteressen auf dem Spiel stehen, werden sich gegen solche grundlegenden sozial-ökologischen Transformationen wehren. Und dummerweise sitzen gerade sie an den Schaltstellen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. 

Taugt Suffizienz etwas im letzten Gefecht? 

Die Aussichten sind also ziemlich trübe. Doch das ist nichts Neues, das waren sie immer schon. Drei Argumente lassen mich nicht verzweifeln: 

1. Obwohl die kapitalistische Wirtschaftsweise eine Herrschaftsordnung ist, die totalisierende Tendenzen hat und mittlerweile viele Lebensbereiche tangiert, so hat sie doch nicht alle durchdrungen. Es existieren immer noch Güter und Dienstleistungen, die nicht kapitalistisch produziert und konsumiert werden (in Luxemburg zum Beispiel die Wasser- und Abwasserversorgung und große Teile der Bildung – kurz: öffentliche Dienste oder Non-Profit-Economy). Daneben stabilisieren mit den sozialen Sicherungssystemen sogar wichtige sozialistische Elemente unsere Gesellschaft. Vor allem aber gibt es zwischenmenschliche Beziehungen, die sich nicht auf „Investitionen“ beschränken lassen: Die Sorge der Eltern um ihr Kind übersteigt jede Kosten-Nutzen-Rechnung.

Selbst in einer kapitalistischen Gesellschaft bestehen also Formen wirtschaftlichen und menschlichen Wirkens fort, die nicht nach den Grundprinzipien des Systems funktionieren.  

2. Es besteht ein kaum mehr zu verleugnender Imperativ des Handelns, wenn die Menschheit noch in 30 oder 40 Jahren annährend die gleichen Lebensgrundlagen vorfinden will wie ihre Vorfahren. Scheitert der grüne Kapitalismus – wie voraussehbar – an der Dringlichkeit des Kampfes gegen Klimawandel und Biodiversitätsverlust, bleiben nicht mehr viele Alternativen. 

3. Die Umweltbewegungen wenden sich immer klarer vom Wachstumsdogma ab, Gewerkschaften wehren sich zusehends gegen einen laissez faire-Liberalismus. Gemeinsam mit der jungen Generation hätten sie das Potenzial, ein ernstzunehmendes Gegengewicht darzustellen und das Kräfteverhältnis zu verändern. Dafür bedarf es vielleicht noch weiterer Brücken. Die Basis für Strategien, die die soziale und ökologische Frage zusammendenken, ist allerdings gelegt. 

Der Umbau hin zu einer suffizienten Lebensweise ergibt sich eben auch aus den Bedürfnissen und Forderungen der heute lebenden Menschen. Es gilt, die mannigfaltigen Initiativen und die Kreativität der Menschen in der gemeinsamen Suche nach einer lebenswerten Zukunft miteinander zu verbinden. Dazu gibt es bereits Ansätze im Hier und Jetzt.  

Das Ziel einer suffizienten Lebensweise ist also ein doppeltes: Es geht einerseits darum, weniger Ressourcen zu verbrauchen, und andererseits darum, eine lebensnotwendige Grundversorgung in einem ausreichenden Maß zur Verfügung zu stellen.  

Ein anschauliches Beispiel und erstes wirksames Mittel können gestaffelte, progressive Tarife auf Grundbedürfnissen wie Wasser, Strom und Gas sein. Der Basisverbrauch pro Kopf und pro Haushalt wird in dem Modell finanziell sehr wenig belastet oder bleibt ganz frei. Der ihn übersteigende Verbrauch fällt finanziell dagegen zunächst nur mäßig zur Last, der verschwenderische Verbrauch dagegen sehr stark. So entsteht ein finanzieller Anreiz zum Sparen – ohne, dass es zu sozialen Verwerfungen kommt und ohne, dass das Grundrecht in Frage gestellt wird.

Solche Strategien einer suffizienten Gesellschaft wurden vor Jahren noch belächelt. Inzwischen fordern sowohl Umwelt­bewegungen (Mouvement écologique) als auch Sozialverbände (Caritas) entsprechende Lösungen ein. 

Eine post-kapitalistische Gesellschaft muss suffizient sein, und Suffizienz im Kapitalismus ist ein Widerspruch – außer, der Begriff wird zu einem eremitenhaften Leben außerhalb der Gesellschaft umgedeutet. Im Zeitalter des Anthropozän, in dem der Begriff der eco-anxiety zum Sinnbild einer Generation wurde, liegt in der sozial-ökologischen Transformation auch ein Freiheitsversprechen: der Freiheit von Angst.  

Allein der Weg dorthin wird kein einfacher sein: Die Mächte der Finsternis sind stark. May the force be with us!  


Marc Baum war von 2016 bis 2021 Abgeordneter von déi Lénk.

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