Ungläubiges Staunen

Über das Christentum von Navid Kermani

Bücher, die man kapitelweise in einer beliebigen Reihenfolge mit Auslassungen und längeren Pausen lesen kann, passen in unsere Zeit. Navid Kermanis „Ungläubiges Staunen“ zu kommentieren, riskiert dem Werk ungerecht zu werden. Der habilitierte Orientalist und Religionswissenschaftler brilliert durch seine umfassenden Kenntnisse, seine magistrale Sprachhandhabung und seine intellektuelle Finesse. Da Schweigen aber auch keine adäquate Haltung gegenüber diesem Werk bedeuten würde, sei eine Annäherung im Sinne von Schillers Äußerung über Kant versucht: „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.“

Bereits der orientalisch anmutende Marmorfußboden aus einer Kirche in Florenz, der den Umschlag ziert, ist Programm. Das Christentum wird im Licht des Islam betrachtet, der Religion, die Kermani von seinem lehrenden Großvater aus Isfahan vermittelt wurde. Wie subjektiv diese Sicht ist, verdeutlicht der Schluss des Kapitels über Abrahams „Opfer“, in dem Kermani festhält: „Es ist mein eigenes Christentum, wie ich davor schon zu meinem eigenen Islam gekommen bin.“ (S. 203)

„Das Christentum revisited“, so könnte der Untertitel von Kermanis Buch ebenfalls lauten, denn darum geht es in seiner Schrift, die auf Vorarbeiten beruht, die der Autor für die Serie „Bildansichten“ der Neuen Zürcher Zeitung im Jahr 2008 verfasste. Kermanis Gelehrsamkeit kommt zum Glück nicht penetrant und besserwisserisch daher (jedenfalls meistens), sondern verpackt in einer eleganten Diktion, auf eine angenehm aufklärerische, manchmal auch poetische Art und Weise.

Methodisch als vielfältig ikonografisch unterstützte Meditation angelegt, gibt es ergänzend dazu auch Gespräche mit einem katholischen Freund und einen für das Buch zentralen Bericht über den italienischen Jesuitenpater Paolo Dall‘Oglio, der in der Gefangenschaft des IS verbleibt. Dall‘Oglio stellt das radikalere christliche Pendant zu Kermani dar, insofern er in Syrien ein altes Kloster wiederbelebte und es auch für Muslime öffnete. Seine Nähe zum Islam wurde ihm zum Verhängnis, als er bei einem Verhandlungsversuch vom IS entführt wurde. Kermani selbst sieht in Dall‘Oglio einen Exponenten der spezifisch christlichen Liebe, die auch die Feindesliebe mit einschließt, eine Liebe, die im Islam nur die Sufis kennen – sie führen dabei als Vorbild Jesus an (S. 169 f.).

Der dreiteilige Aufbau des Buches erinnert an die Idee der Dreifaltigkeit. Teil eins setzt sich mit dem spezifisch Theologischen auseinander (Mutter, Sohn, Gott, Kreuz, Tod, Auferstehung, Liebe, …), Teil zwei stellt diverse Zeugen vor, wie z.B. Kain, Hiob, Petrus, Franziskus, Elisabeth, Ursula, … und Paolo Dall‘Oglio. Der dritte Teil bezieht sich auf die christliche Praxis, den Alltag in z.B. folgenden Bereichen: Kunst, Lust, Spiel, Gebet, Wissen, Freundschaft, …

Kermani beginnt mit Maria – man kann sich unpassendere Einstiegsszenarien vorstellen –, um gleich im ersten Kapitel im „Christentum eine Möglichkeit“ (S. 10) für sich zu sehen, wenn „die katholische Vorstellungswelt [ihm] nicht so heidnisch vorkäme“ (S. 10).

Beim Einstieg in das jeweilige Thema über das Bildhafte bevorzugt Kermani Werke aus dem 15., 16. oder 17. Jahrhundert (EL Greco, Caravaggio, Botiicelli, Bellini, Zurbaran, Bosch, …), die er auf eine oft unkonventionelle Weise bewusst gegen den Strich deutet. Bei Maria wählt er allerdings eine spätantike Holztafel aus dem Kloster Maria del Rosario in Rom. Für den Orientalisten ist der Gesichtsausdruck der Marienikone „eindeutig orientalisch“ (S. 13). In diesem ersten Kapitel legt Kermani gleich die konstituierende dichotomische Struktur seines Werkes an: Wortkunst versus Bildkunst, Wechselspiel zwischen Orient und Okzident und Pendelschlag zwischen Christentum und Islam.

Er scheut sich dabei keineswegs, Autoritäten wie z.B. Burckhardt in die Parade zu fahren, etwa im Zusammenhang mit Caravaggios „Kreuzigung Petri“ (S. 124). Peruginos „Vision des Heiligen Bernhard“ legt er dezidiert als erotische Verführungsszene aus (S. 146), was nicht der Überzeugung der meisten katholischen Exegeten entspricht.

Natürlich untermauert Kermani seine eigenwilligen Deutungen entweder mit genauen physiognomischen Beobachtungen oder mit schriftlichen Quellen. Überhaupt spielt das Sexuelle eine gewisse Rolle, wie etwa bei der Kölner Lokalheiligen Ursula, der er aufgrund ihres „Schmollmündchens“ und ihrer „Goldlöckchen“ einen „übersinnlichen Sex-Appeal“ (S. 134) bescheinigt. Dieser Ursula widmet Kermani gleich zwei Kapitel, soviel Lokalpatriotismus muss sein, auch wenn es für diese Figur keine historischen Belege gibt. Beim zweiten Anlauf (S. 138 ff.) stellt ein kürzlich restauriertes Bild von Caravaggio (Das Martyrium der Heiligen Ursula), das Kermani eher zufällig in Neapel in einer Bank sehen konnte, den Ausgangspunkt dar. Als Hinweis darauf, wie sehr es diese Ursula dem Autor angetan hat, mag der mehrfache Bezug gelten, den Kermani zum eigenen Leben herstellt.

Wenn man sich fragt, welche Aspekte des Christentums ausgespart bleiben, fallen einige ins Auge. Große Abwesende sind z.B. Paulus und Augustinus, die Inquisition wird ebenfalls nicht erörtert. Fast könnte man meinen, Kermani wolle sich und seinen Lesern noch weitere alternative Interpretationen ersparen.

Die Erklärung des Buchtitels erfolgt erst im dritten Teil im Kapitel „Spiel“. Im Zusammenhang mit der Wandlung während der Eucharistie bekennt Kermani sein „Staunen“ (S. 211), das er dann etwas später analog zum Thomas bei Caravaggio als „ungläubiges Staunen“ (S. 212) bezeichnet. Gleichzeitig verrät der Autor aber, dass eine christliche Messfeier auf ihn einen „Sog“ ausübt.

Der christlichen Figur, der Kermani am meisten Raum (zwei Kapitel, darunter das Schlusskapitel) zugesteht, ist Franz von Assisi. In „Freundschaft“ dient zum einzigen Mal ein geschriebener Text (die Chartula des heiligen Franziskus von 1224) als Ausgangspunkt. Unter Zuhilfenahme der Franziskusforschung wird der Heilige zum Islamfreund in der Zeit der Kreuzzüge (auf den Vergleich mit dem IS sei hingewiesen), wie ihn viele nicht erwartet hätten. Franziskus symbolisiert für Kermani den ersten Exponenten „der Freundschaft zwischen Christentum und Islam“ (S. 289). Man kann in diesem Gedanken die Quintessenz des Buches sehen.

Der fremde Blick des hochgebildeten Moslems auf die Pfeiler des Christentums besticht so sehr durch seine Klarheit, seine respektvolle Respektlosigkeit und sein fundiertes kulturhistorisches Wissen, dass dieses Buch als Basis für eine erste ernsthafte Beschäftigung mit dem Christentum auf höherem Niveau geeignet erscheint. „Ungläubiges Staunen“ kommt einer theologischen, kunsthistorischen und z.T. geopolitischen Bildungsreise gleich, wie die Bilder und die Figuren zeitlich und räumlich über Europa und den Nahen Osten verteilt sind. Kermani stellt den homo religiosus par excellence dar, von dessen Schreiben ein eigentümlicher Sog ausgeht, dem sich sogar religiöse Skeptiker nur schwer entziehen können und bei dem es noch viel mehr zu entdecken gibt, als diese Zeilen verraten können.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code