Wandlung

Vom Hadern zum Versöhnen

Vor einigen Monaten hat folgendes Gedicht von Nora Gomringer1 mich bewegt, gar irritiert, und einige Erinnerungen in mir wachgerufen. Bevor ich davon kurz berichte, will ich dem Leser oder der Leserin selbst die Gelegenheit geben, das Gedicht auf sich wirken zu lassen.

Man sieht’s

Die Messe biegt in ihre 40ste Minute,
als gewandelt wird.
Das Wasser in Wein zu Blut,
das Brot als Hostie zu Leib.
Glockenklingel, Ministrant tritt immer hinten auf die Kutte,
wenn er sich erhebt.
Da ist viel Leib am Werk.
Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz,
hat einen schlimmen Schnitt in der Seite.
Seit tausenden Jahren verbindet den keiner.
Das ist schon fahrlässig.
Ein Mann wie ein Briefkasten dadurch.
Kummerkasten aus Holz mit Schlitz.
Gut, dass hier alles gewandelt wird.
Werden Sorgen Gesänge.

Schon das Wort „gewandelt“ hat meine Stirn in Falten gelegt. So wollte ich schon nach dem dritten oder vierten Vers aufhören zu lesen. Der Ministrant, der immer wieder auf die Kutte tritt, ließ mich dann aber weiterlesen. Das war Erinnerung! Meine Genervtheit konnte ich jetzt mit Humor verbinden. Ich las dann weiter, stoppte immer wieder, bis ich es geschafft hatte, das Gedicht zu Ende zu lesen. Die Sprache, das Humorvolle, die Einfälle trugen mich von Zeile zu Zeile. Es forderte mich heraus, Stellung zu beziehen.

Die Bemerkung, „gut, dass hier alles gewandelt wird“, hat mir dann die Befürchtung genommen, nur ein nostalgisches Retro-Gedicht zu lesen. Ich konnte auf Aspekte meiner eigenen Vergangenheit zurückblicken. So kam mir später der Gedanke, im folgenden Text ein paar „Spots“ (Karin Jahr) auf mein Erleben von Kirche in Luxemburg zu richten. Und diesen Impuls habe ich Nora Gomringers Gedicht zu verdanken.

Der Andere von anderswo

„Du gehst jetzt mit uns zur Messe“, so befahl es meine Mutter eines Sonntags im Flur, als ich ungefähr zweieinhalb Jahre alt war. „Es gibt außer uns dreien, deinem Vater, dir und mir, einen ‚anderen‘, der für unsere Familie ganz wichtig ist. Er ist anderswo, aber immer bei uns.“ Ich war etwas erstaunt, an den Worten selbst zweifelte ich aber keinen Moment. Das Wort meiner Mutter war Wahrheit, es hat mich unabänderlich geprägt, obwohl ich mir heute immer weniger unter Gott und dem Anderswo vorstellen kann und will. Ich wurde Messdiener. So spielte ich eine kleine Nebenrolle. Ich hatte einen sichtbaren Platz innerhalb des Ganzen. So sind Institutionen ihrem Wesen nach: Sie geben Platz und bieten Hilfe, Stand zu finden.

Societas perfecta

Die Kirche habe ich – muss ich im Nachhinein eingestehen – so empfunden, wie sie sich verstand: als „societas perfecta“2, unabhängig von Staat und Gesellschaft, selbstreferenziell. In diesem Verständnis braucht die Welt die Kirche, diese aber braucht die Welt nicht. Luxemburg hatte einen Fürstbischof, unsere Pfarrei vier bis fünf Kapläne, Tendenz fallend.

Die Welt stand für mich ganz unter dem göttlichen Schirm. Es war mir nicht verständlich, dass jemand sich nicht unter diesen Schirm stellen wollte. Durch die Oktave und die Fronleichnamsprozession wurde die tragende Bedeutung der Kirche für die Nation und, in den Augen des Kindes, das ich war, für den Vorort Bonneweg zelebriert.

Streit, Dialog und intellektuelle Auseinandersetzung

Hie und da hörte ich zu Hause meinen Vater, wie er die Ansichten des Pfarrers kritisierte. Verstanden habe ich zwar nichts, aber ich mochte, dass mein Vater eine Position bezog und vertrat. Dann kam von 1962 bis 1965 das Zweite Vatikanische Konzil. Vieles wurde anders. Anfangs verstand ich nicht viel von dem, was da geschah. Aber ich habe die positive Stimmung registriert: Die Menschen freuten sich über die Veränderungen. Meine Eltern waren Mitglieder der Equipes Notre-Dame, wo viel über die Beziehung zwischen Glauben und Leben diskutiert wurde, so erklärte es mir meine Mutter. Insbesondere wurde die Enzyklika Humanae Vitae (1968) heftigst kritisiert, da hier noch immer Kleriker den Laien vorschrieben, wie sie Sexualität zu leben hätten. Das imponierte mir: Erwachsene, die zusammenkommen und diskutieren.

1968 folgten die Studentenrevolten, D’Wullmaus wurde gelesen. Durch die marxistischen, maoistischen und trotzkistischen Kollegen, später die Liberalen, kam ich in Kontakt mit anderen Diskursen. Meine Welt wurde bunter. Der katholische Schirm hatte Konkurrenten bekommen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es ginge darum zu zeigen, wer die besten Lösungen hatte, um die Probleme der Ungerechtigkeit und Entfremdung anzugehen. Und so zeigte uns Emile Sinner im Kolléisch, dass die katholische Sozial- und Sexuallehre die unabweisbar richtigen Antworten bot. Die Kirche verstand sich nun in dem Konzilsdokument Lumen Gentium3 als „Zeichen und Werkzeug für die Einheit Gottes mit den Menschen und der Menschheit untereinander“. Ich selbst verstand das Christentum wie eine Gegenwelt, eine Utopie. Viele standen dabei Pate. Irgendwie wollte ich da mitmachen.

Das Problem mit der Wandlung

Die philosophischen und theologischen Studien in Freiburg waren das, was ich brauchte. Ganz in der Nähe von Heideggers Wohnung lebte ich in selbstgewählter Isolation, wie man heute sagt. Ich studierte die Autoren und eine Autorin, die mich prägen sollten: vor allem Bloch, Heidegger, Balthasar, Rahner, Welte, Sölle, Moltmann, Metz und Nikolaus von Kues. Die Eucharistie als „Höhepunkt und Zentrum“ des katholischen Lebens besuchte ich jeden Tag. Sie spendete Kraft. Sonntags ging ich aber eher zu den Protestanten. Das Katholische war mir zu rituell. Die Predigten waren mir, außer bei den Dominikanern, zu brav: Man wusste am Anfang schon, womit die Predigt enden würde. Wandlungen vollzogen sich dann während des Pastoraljahres in Belgien und durch das Studium der Humanwissenschaften in Louvain-la-Neuve.

Schwierig wurde es nach der Priesterweihe. Ohne hier eine vollständige Analyse meiner Einstellungen, Phantasmen und Selbstblockaden vornehmen zu wollen, war es auch die Idee der Transsubstantiation, der Wesensverwandlung von Brot und Wein durch Gottes Macht, die mir Probleme bereitete: Mittels sakraler Handlung werden Wein und Brot in den Leib und das Blut Christi verwandelt. In der „Person Christi“ vollzieht der Priester „kraft seiner heiligen Gewalt“ das eucharistische Opfer (Lumen Gentium, 10)4. Intellektuell war das schwer nachvollziehbar, und subjektiv fühlte ich mich dazu nicht würdig. Die theologischen Diskurse konnten mich nicht zufriedenstellen. Kein Wunder, dass mich das Gedicht von Nora Gomringer so irritierte, besonders, wenn es heißt:

als gewandelt wird.
Das Wasser in Wein zu Blut,
das Brot als Hostie zu Leib.

Es war für mich einerseits schwierig, auf Wandlung zu setzen, ohne in magische Vorstellungen, Illusionen und Utopien im Sinne Freuds zu verfallen. Und andererseits schien mir der christliche Diskurs so von Leben, Liebe, Wandlung und Inkarnation bestimmt, dass es mir unverständlich war, dass die Kirche partnerschaftliche Liebe für alle Priester ausschloß. Irgendwie schien es mir, als wäre ich da fehl am Platz.

Es war mir ganz klar, dass mein Begehren, die Intimität der Liebe mit meiner zukünftigen Partnerin ausleben zu wollen, mit dem bis heute geltenden Zölibatsgebot für Priester rechtlich nicht vereinbar war. So ließ ich mich laisieren. Bei allem Respekt für die zölibatär lebenden Menschen ist es mir unverständlich, wie die katholische Kirche es nicht fertig bringt, die Vereinigung von Liebe in der Partnerschaft mit der Funktion des Presbyters oder Episkopos zusammenzudenken. Dabei könnte dies ein wirksames Modell von gelebter Einheit und Differenz, beziehungsweise Liebe unter Anerkennung von Krisen bedeuten.

Heterotopien

Die Wahl von Kardinal Wojtyła zum Papst ließ nichts Gutes erahnen. Und so kam es dann auch: Trotz einiger Weiterentwicklungen in der Soziallehre ging es Johannes Paul II. wie seinem Nachfolger Benedikt XVI. um eine Kirche, deren Einheitlichkeit um jeden Preis bewahrt werden sollte. Der dazu notwendige Verdrängungsprozess hat vielen Menschen, die auf Aufbruch gesetzt hatten, starkes Leid zugefügt. Die Konsequenzen dieser Vorgehensweise hat die Kirche auch hier in Luxemburg viel Dynamik gekostet. Weiterentwicklung konnte kaum geschehen.

Ich selbst habe mich als junger Ordensmann nicht mehr für die Kundgebungen des Papstes interessiert, habe ihn verdrängt. Ich habe Christentum in den Gemeinschaften, die ich mit Jugendlichen aufbaute, gelebt. So wurden in Erinnerung an Jesu Geist Wandlungen bedacht und initiiert. An den komischsten Orten dieser Erde geschah das. Gott als dem ganz Anderen begegnet man immer wieder anderswo. Abraham war mir dabei ein Beispiel.

Die Utopien zerbröselten. Ich wechselte, wie man heute sagt, ins Paradigma der Heterotopien5. An bescheidenen Orten, am Rande des Mainstreams, haben wir als Gemeinschaft unser Leben und mögliche Schritte in die Zukunft vom Anderen (Heteros), dem Unendlichen aus wie im Spiegel reflektiert. Solches geschieht immer wieder im kleinen „Boot“, als Exempel von Heterotopie.6 Gott ist nicht nur im Kirchenraum, sondern immer wieder an anderen Orten und Grenzen anzutreffen. Das hatte ich bei Baden Powell und den Pfadfindern und Pfadfinderinnen gelernt.

Es waren eigentlich die Jugendlichen, welche mich zwangen, meinen Platz in der Moderne zu suchen und zu finden. Sie waren es, die mich motivierten, neue Wege auszuprobieren, damit sich der Religionsunterricht in der Sekundarschule in den Dienst der Selbst- und Sinnfindung situierte. Ich behaupte mal, dass kein anderes Fach so durch die Mitbestimmung der Schüler und Schülerinnen geprägt wurde. Das gefiel nicht jedem. Es hat auch nicht jeder verstehen wollen – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche.

Spiritualität

Der Begriff der Spiritualität wurde mir in den späteren Jahren immer wichtiger. Eine christliche Einstellung braucht insbesondere in Zeiten der Moderne ein singuläres beständiges Arbeiten am Selbst, damit man offen bleibt für die Wahrheit und die Liebe. In den Gemeinden fand ich weder die nötigen Impulse noch einen richtigen Platz als Subjekt. Als man mich liebenswürdigerweise einmal fragte, im Pfarrgemeinderat mitzuarbeiten, habe ich abgelehnt. Meine Vorstellungen schienen mir zu weit entfernt davon, wie christliche Gemeinschaften sich damals organisierten. Ich fürchtete natürlich auch die Konflikte. So blieben mir ad hoc-Gemeinschaften, in denen ich mich mit anderen austauschen konnte. Vor allem sind es heute Freunde, aber auch die Studierenden, Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich ethische, theologische und persönliche Fragen behandele.

Anfangs war mein spiritueller Ansatz zunächst noch stark von der Suche nach der Andersheit in mir, der Transzendierung meiner selbst, beeinflusst. Dies passt zur Moderne, der das Subjekt, die Individualität und die Autonomie so wichtig sind. Der Andersheit auch in uns selbst begegnen wir immer nur in der Andersheit der anderen. Aber auch in den Dingen der Welt, den Krisen. In den „Zeichen der Zeit“ geschieht ein Ruf nach Wandlung. Und das steht eigentlich nicht nur in einer ignatianischen, sondern generell „katholischen“ Tradition, folgt man dem verstorbenen italienischen Philosophen Mario Perniola.7

Immer wieder höre oder erfahre ich heute, wie es zur „Utopisierung des Heiligen“8, zu „kultischen Eskapaden“ oder zur Totalkritik aller Modernität kommt. Hie und da fragt man sich, ob sich die katholische Kirche in Luxemburg nicht auch zu stark als ein Ort von mehr oder weniger importierten, „utopischen“, also unzureichend inkarnierten Gruppen anbietet. Aber auch progressive Katholikinnen und Katholiken können natürlich Gefahr laufen, Gemeinschaften zu bilden, in denen das Inkarnatorische, d. h. das Realitätsprinzip fehlt.

Ausgrenzung und Spaltung als Symptome von Erstarrung

Trotz einiger Distanz zur Kirche, freue ich mich, wenn innerhalb der Kirche Initiativen entstehen, die einen offenen Charakter haben. Im Gegensatz dazu bin ich allerdings erstaunt über die Auseinandersetzungen des Papstes, der Kardinäle, der Bischöfe, Theologen und Theologinnen auf offener Bühne.

Immer wieder mussten Menschen irgendwo ausgeschlossen werden: die Juden, die Muslime, die engagierten Kommunisten, die Laien, die Geschiedenen, die unehelichen Mütter und Kinder, die Evangelischen, die verheirateten Priester, die Homosexuellen oder die Frauen vom Priesteramt. Dialog, wo er wichtig gewesen wäre oder ist, wird vielfach noch verweigert. Ich muss mir eingestehen, dass Kirchen eben Institutionen sind wie alle anderen auch, nicht frei von Intrigen und Machtspielchen. Kirche nur als Leib Christi zu denken reicht nicht.

Wie kann der Pluralismus innerhalb der Kirche gefördert werden? Schon Nikolaus von Kues schrieb bezüglich der Hussiten: „Niemand zweifelt ja daran, dass unter Wahrung der Einheit in ebendieser Kirche ein abweichender Ritus ohne Gefährdung [der Einheit] existieren kann“.9 Mancher Bischof sieht ein, dass bestimmte Ausgrenzungen überwunden werden müssen. Und trotzdem bewegt sich nicht viel. Auch in Luxemburg ist der Innovationsgeist beschränkt. Daran tragen natürlich auch Entscheidungen in Rom eine gewisse Mitschuld.

„Ecclesia“ ist ein politscher Begriff, der aus der Demokratie Athens stammt und die Versammlung der Bürger bezeichnet, welche die Geschicke der Stadt bestimmen. Leitung braucht es immer. Aber die Gemeinschaft baut nicht nur auf der Leitung auf. Sie gründet auch nicht auf einem Mehr, sondern auf dem Verlust der sichtbaren Präsenz Jesu – oder Gottes. So wie die Demokratie auf den „lieu vide“10, gründet die Kirche sich auf dem leeren Grab.

Es würde ihr deshalb gut zu Gesicht stehen, wenn sie sich nicht nur als „Sakrament“, sondern eben auch stärker als Raum der Präsenz von Absenz, Raum für Leere, Mangel und Nichtwissen verstehen würde. Eine solche Auffassung, mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung, würde Menschen, Gläubigen, Zweifelnden und Atheisten auch mehr Mut machen mitzudiskutieren und in vielerlei Hinsicht mitzumischen. Es könnte ein Raum sein, in dem jeder seine eigene Spiritualität entwickeln könnte und sich getragen fühlte, um sein Engagement in der Welt zu leben. Glauben und Zweifel könnten gelebt und geteilt werden, wie es zum Beispiel Michel Serres noch kurz vor seinem Tod tat: „Je crois en Dieu, je n’y crois pas; je crois, pile; je ne crois pas, face; pile et face font la même pièce, c’est moi.“11 Das würde die Kirche und ihr Umfeld verwandeln.

An den Grenzen des Unmöglichen kann Verwandlung geschehen

Kehren wir zum Anfang meines Weges in der luxemburgischen Kirche zurück. Während der Grundschulzeit las ich mit Spannung die Berichte der Schwestern und Patres aus dem belgischen Kongo und schaute mir im Alter von sechs Jahren meinen ersten Film im Kino an: die „Geschichte einer Nonne“ von Fred Zinnemann mit Andrey Hepburn in der Hauptrolle. Es geht um eine Ordensschwester, die sich als Krankenpflegerin im Kongo engagiert. Hier entwickelte sich mein Wunsch, als Missionar in den Kongo zu gehen. Nach der Kongo-Krise und anderen sich veränderten Lebens- und Zeitumständen versiegte diese Motivation jedoch wieder. Wenn ich heute nochmals darüber reflektiere, kommen mir Assoziationen mit Andersheit, Fremde, Überwindung von Grenzen, Heilen, Begegnung und Engagement in den Sinn. Der Traum ist verflogen, das Phantasma blieb irgendwie wirksam.

Beim Lesen des Gedichtes Man sieht’s fragte ich mich, ob ich es mir nicht zu einfach gemacht hatte? Dort steht:

Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz,
hat einen schlimmen Schnitt in der Seite.
Seit tausenden Jahren verbindet den keiner.
Das ist schon fahrlässig.

Das Motiv der offenen Wunde hat viele sinnvolle, aber auch reaktionäre Spiritualitäten hervorgebracht. Ich denke dabei u. a. an eine bestimmte Art von royalistisch und antidemokratisch gefärbter Herz-Jesu-Verehrung in Frankreich, wo Sühne und Wiedergutmachung wegen des Abfalls der laizistischen Republik von Jesus geleistet werden mussten.

Wie versteht sich dann dieser Mann, der da am Kreuz hängt wie ein Briefkasten „aus Holz mit Schlitz“? Jesus ist auf immer Adressat. Es gibt also Hoffnung auf Differenz. Aber wie? Ich selbst bin als Christ der Angesprochene, welcher dem Leidenden, dem Nächsten hilft, zu neuem Leben und Begehren zu finden. (Mt 25,35) Sind meine Begegnungen mit anderen Menschen solche Orte, wo Leiden in Heil verwandelt werden kann bzw. ein neuer Anfang möglich ist?

Das Unbewusste ist immer politisch, sagt Lacan. Und so muss ich mich fragen, ob ich ein zu bürgerliches Christentum (J.B. Metz) lebe? Meine heutigen Lehrveranstaltungen oder meine Mitarbeit in der Gruppe Humanities and Religion als auch unterschiedliche Arten von Begegnungen nehme ich als Orte und Momente wahr, an und in denen Leben gefördert, zusammen neue Möglichkeiten gefunden und Handlungsvarianten getestet werden sollen. Diese Räume des Austauschs sind Orte, wo der Andere mir begegnet, wo Wahrheit sich offenbart und mich selbst auch zur Wandlung aufruft: geistig, körperlich und politisch. Das funktioniert nicht ohne Risiko, auch nicht ohne ab und an zu scheitern.

Natürlich braucht es Gemeinschaften, die sich expliziter über Glauben austauschen. Die Organisation über pastorale Großräume ist jedoch keine langfristige Lösung. Sie geht noch von einer hierarchischen Priesterkirche aus. Bei allem Verständnis für theologische und spirituelle Ansätze zum Priestertum denke ich, dass es guttäte, den Mut zu einem neuen Konzept von Gemeinschaft und Leitung „ad experimentum“ in so einem kleinen Land wie Luxemburg anzugehen.

Kirche braucht ein neues Zusammendenken von Diensten (Ministerien) und Gemeinschaft. Es bedarf einer Überarbeitung der traditionellen Lehre vom Priester als Gegenüber zum Gottesvolk, als dem Repräsentanten des Anderen, der zeigt, dass die Gemeinschaft sich nicht selbst erlöst. Autonomie und Andersheit, Einheit und Heterogenität neu zu artikulieren ist nicht nur eine Herausforderung für die Kirche. Sie ist auch eine für den Staat und die Gesellschaft (Marcel Gauchet). Unverständlich bleibt mir diesbezüglich auch, dass Erwachsene und Jugendliche, welche in der Gesellschaft zur Autonomie und Kooperationsfähigkeit aufgefordert werden, in der Kirche und den Gottesdiensten dagegen größtenteils als Empfänger von „Heil“ und „Botschaft“ betrachtet werden. Dies fördert weiterhin Autoritarismus und Intransparenz, wie wohlgesinnte Mitarbeiter aus Pfarreien berichten. Auf der Ebene des Lehramtes wird letzteres dadurch unterstützt, dass verschiedene lehramtliche Aussagen auch so formuliert sind, dass sie bewusst oder unbewusst noch immer kirchlichen Strukturen, die für uns heute kontraproduktiv sind und Glauben sogar eher verhindern, eine Legitimation geben. Ich verstehe die Wandlungsworte heute eher als Erinnerung daran, dass das Unmögliche da präsent ist, wo wir seine Absenz anerkennen, Differenz erkennen und dementsprechend begehren und im Sinne der Gerechtigkeit handeln. Einfacher ausgedrückt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20)

Mit ihrem auf Liturgie bezogenen Gedicht ermöglichte es mir Nora Gomringer, mir meiner eigenen Resistenzen gegenüber der Radikalität des Begriffes Wandlung bewusst zu werden. Ich bekam damit aber auch ein besseres Gespür für die „Angst vor Religion“ (José Casanova), und dafür, dass manche Jugendliche und Erwachsene religiöse Vorstellungen als magisch und erniedrigend empfinden, so dass sie vor der Kirche umkehren. Die eigenen Resistenzen zu spüren, bietet die Möglichkeit zu verstehen, warum Menschen eine mehr oder weniger starke „Immunität“ gegenüber Religion entwickelt haben.

„Gut, dass hier alles gewandelt wird. Werden Sorgen Gesänge“, schreibt die Dichterin zum Schluss: In der Tat stellen Religionen einen Bezug zum Unmöglichen, zum Exzesshaften, zum Absoluten her. Das ist auch ihre humanistische Funktion. Gebet, Meditation, Gesänge bilden Momente, in denen die Kraft zu leben, zu begehren und zu transzendieren wachsen kann. Dies wiederholte neuerdings auch Habermas, wenn er schreibt: „Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt.“12 Die asketischen und dogmatischen Überschätzungen, die machtpolitischen Interessen und die individuellen, allzu oft „pater-nalistischen“ Selbstüberschätzungen haben allerdings viel Unmut und Leid hervorgebracht. Mehr lehramtliche Demut und Sinn für Perspektivität und Pluralität würde helfen! „Die Frohe Botschaft spricht mit der Feindesliebe ein Extrem aus, an dem sich ein Mensch, der Liebe zu folgen versucht, messen muss“, schreibt der Heidegger-Spezialist Peter Trawny.13

  1. Bis an die Grenzen des Unmöglichen gehen, gehört zum Christentum. Es bedeutet an und für sich Wandlung!
    Nora Gomringer, „Man sieht’s. Der Gott zwischen den Zeilen der Nora G.“, in: Jan-Heiner Tück/Tobias Mayer (Hg.), Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg/Basel/Wien, Herder, 2017, 121-161, S. 156.
  2. Hans-Joachim Sander, „Zäsur. Das Zweite Vatikanische Konzil“, in: Gregor Maria Hoff/Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Arbeitsbuch Theologiegeschichte. Diskurse, Akteure, Wissensformen, Bd. 2: 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart, Kohlhammer, 2013, S. 302-318, S. 309.
  3. „Lumen Gentium. Dogmatische Konstitution über die Kirche“, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimmler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg/Basel/Wien, Herder, 1966, S. 105-200, S. 123.
  4. Ebd., S. 134.
  5. Hans-Joachim Sander, Glaubensräume – Topologische Dogmatik Bd. 1: Glaubensräumen nachgehen, Mainz, Matthias-Grünewald-Verlag, 2015.
  6. Michel Foucault, „Des espaces autres“, in: Dits et Ecrits II, Paris, Gallimard, 2001, S. 1571-1581.
  7. Mario Perniola, Vom Katholischen Fühlen, Berlin, Matthes & Seitz, 2013.
  8. Jürgen Werbick, Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg/Basel/Wien, Herder, 1994, S. 427.
  9. Hans Gerhard Senger, „Renovatio und unitas als cusanische Leitideen in der literarischen Auseinandersetzung mit den hussitischen Böhmen“, in: Thomas Frank/Norbert Winkler (Hg.), Renovatio et unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der „reformatio“ im 15. Jahrhundert, Göttingen, V&R unipress, 2012, S. 19-36, S. 35.
  10. Claude Lefort, Essais sur le politique : XIXe et XXe siècles, Paris, Seuil, 1986, S. 29.
  11. Michel Serres, Relire le relié, Paris, Le Pommier, 2019, S. 181.
  12. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin, Suhrkamp, 2019, S. 807.
  13. Peter Trawny, Philosophie der Liebe, Frankfurt a. M., S. Fischer, 2019, S. 208.

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