- Geschichte
Was heißt hier allgemein?
Die Demokratisierung des Wahlrechts in Luxemburg
Seit mehr als zwei Jahrhunderten ist das allgemeine Wahlrecht im Gespräch. Vom Prinzip zur Umsetzung war es ein langer Weg, und das Ziel ist noch nicht erreicht. In diesem Beitrag werden einige der zentralen Stationen auf diesem Weg zur Demokratisierung der politischen Partizipation benannt.
„Les hommes naissent libres et égaux en droits,“ so beginnt die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789. Doch schon ihr Titel deutet darauf hin, dass darin zwischen „Menschen“ und „Bürgern“ unterschieden wurde. Und in der Zeit der Französischen Revolution waren sogar die Bürger nicht alle gleich, sondern es gab „passive“ und „aktive“ Citoyens. Nur letztere durften ein Wahlrecht ausüben, das von Beginn an an die Steuerlast gebunden war. Bestimmte Gesellschaftsgruppen waren zudem grundsätzlich von der Ausübung politischer Rechte ausgeschlossen. Neben den Besitzlosen, den SklavInnen, den neu Zugewanderten oder den Nicht-Sesshaften waren dies vor allem die Frauen. Während die Gleichberechtigung jüdischen Männern erst nach längeren Diskussionen zugestanden wurde, lehnte die „Assemblée nationale“ die Forderungen einer Olympe de Gouges ab, die die Gleichstellung der Frauen mit den Männern mit dem berühmten Satz resümiert hatte: „La Femme a le droit de monter sur l’échafaud; elle doit avoir également celui de monter à la Tribune.“ Ihr selbst wurde nur das „Recht“ auf die Guillotine zuteil.
Dennoch stand sie mit ihren egalitären Forderungen nicht allein: Ein weiteres Beispiel ist Théroigne de Méricourt, die aus einer Bauernfamilie in Marcourt, nahe Houffalize, stammte. Es zog diese junge Frau nach Paris, wo sie politische Clubs gründete, gegen die Unterwerfung der Frauen unter den Schutz der Männer protestierte, ja sogar das Recht der Frauen einforderte, Waffen tragen zu dürfen. Ihr Bruder ließ sie für verrückt erklären.
Apanage wohlhabender Männer
Die Französische Revolution war weder der Beginn noch das Ende der Forderungen nach Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft: Das Projekt einer gleichen Verteilung von Rechten und Pflichten unter alle ihre Mitglieder, das bereits im 18. Jahrhundert erörtert worden war, wurde im 19. Jahrhundert immer wieder von jenen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, beschworen. Doch das Prinzip der gleichen Rechte für alle wurde lange Zeit als Utopie betrachtet. Im Bereich der Frauenrechte zementierte Napoleons Code civil von 1804 sogar die Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Väter als Vorstände über ihre Familien regierten, wie Napoleon selbst über die Nation. Der Code Napoléon blieb in Luxemburg, das zwei Jahrzehnte lang unter französischer Herrschaft gestanden hatte, wie in vielen anderen der von Frankreich besetzten Länder nach Napoleons Sturz bestehen.
Auch das System des Zensuswahlrechts, das in der französischen Zeit eingeführt worden war und das die politische Partizipation wohlhabenden Männern reservierte, erhielt sich in Luxemburg in der Zeit der niederländischen Könige. Das Wahlrecht war zudem indirekt. Jene Männer, die aufgrund eines verhältnismäßig niedrigen Zensus wahlberechtigt waren, bestimmten Wahlmänner, die einen höheren Zensus aufzeigen konnten. Diese Wahlmänner wählten ihrerseits die Abgeordneten für die Ständeversammlung, später die Abgeordnetenkammer. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch sorgte die Höhe des Zensus für Diskussionen.
Doch noch ein weiterer Aspekt trug dazu bei, dass sich in Luxemburg ein System wohlhabender Familien herausbildete, die das Land politisch kontrollierten: das persönlichkeitsorientierte Majorzsystem. „Je suis nommé à une grande majorité. Lutte était dure,“ hieß es 1868 in einem Telegramm von Joseph Servais an seinen Bruder, Staatsminister Emmanuel Servais, als er zum Abgeordneten gewählt wurde.1 In den Wahlschlachten kam es meist zum „Ballotage“, also zu einer zweiten Runde, in der die Bestgewählten gegeneinander antraten. Das Majorzsystem stand auch der Bildung politischer Gruppierungen entgegen, erst spät entstanden in Luxemburg regelrechte Parteien.
Das Wahlrecht als proletarische Forderung
Zufrieden waren viele mit diesem System jedoch nicht. Die belgische Revolution, später die europäischen Revolutionen von 1848 schlugen sich auch in Luxemburg nieder. 1848 dichtete Dicks in seinem Vulleparlament zwar noch skeptisch: „Dé Nuochtegall fèngt nun och un; Wéll, dat all Vull éng Stemm soll hun; Dei Gesang, dei Gesang, Nuochtegall, fent nach wéneg Klank.“2 Aber im gleichen Lied hieß es auch „Mir wellen d’Republik“ oder „Fort mat allen Herren“. Demokratische Forderungen, vor allem die nach dem Wahlrecht, wurden im Frühjahr 1848 auch in Luxemburg aufgestellt. So verlangte man in einer Petition aus Wiltz formell, „que le peuple luxembourgeois soit directement appelé à élire des Députés chargés d’élaborer une Constitution“.3 Und eine Gruppe „luxemburger Arbeiter“ stellte in einem Aufruf an die „luxemburger National-Versammlung“, der am 21. April im Volksfreund veröffentlicht wurde, fest, man habe sie „bisher von der Wahl der Volksvertretung ausgeschlossen. Auch Sie, meine Herren, sind aus dem unpopulären Wahlgesetz, welches nur dem Besitz eine politische Berechtigung zuerkennt, hervorgegangen […] Wir verlangen unbedingte Gleichstellung mit den übrigen Bürgern des Staates, wir verlangen, daß der Grundsatz der Freiheit und Gleichheit endlich zur Wahrheit werde.“4
Doch in Luxemburg gelang es 1848 lediglich, den Zensus nach unten zu drücken und so einer größeren Anzahl von Männern den Zugang zum Wahlrecht zu ermöglichen, während das allgemeine Männerwahlrecht in Frankreich 1848, in Deutschland 1869/71 eingeführt wurde. Der Zensus wurde zu einem Indikator der politischen Zustände: Nach dem Putsch von 1857 wurde er wieder massiv erhöht, so dass die Wahlbeteiligung einen Tiefstand erreichte; ab 1868 sank er zunächst gemächlich, um dann ab 1890 massiv zurückzugehen. Es war die Zeit, als in Luxemburg die Arbeiterschaft erstmals wieder versuchte, sich zu organisieren und öffentliche Forderungen aufzustellen. 1892 wurde im Luxemburger Wort ausführlich über eine „Volksversammlung“ am 1. Mai berichtet. Der Redner, Rechtsanwalt Charles A. Engel, habe vom Stimmrecht gesprochen und gefragt, weshalb alle Luxemburger zwar gleich vor dem Gesetz seien, wenn es um Versammlungsrecht, Pressefreiheit oder Gewissensfreiheit gehe, jedoch nicht beim Stimmrecht. „Die Verfassung sage auch, es gebe im Staat keinen Klassenunterschied; besteht denn etwa kein Unterschied zwischen vollberechtigten Bürgern und den Nicht-Wählern?“ Es gebe laut Redner „Leute, welche sich einbilden, sie seien zur Welt gekommen, um die anderen zu regieren; deren leitendes Prinzip bestehe darin, daß das Volk für sie arbeite, sie aber für das Volk stimmen […]. Und darum solle man gerade am heutigen 1. Mai laut sagen: Wir wollen Luxemburger Bürger sein und so behandelt werden; wir verlangen unsern Antheil an der Herrschaft; wir wollen, daß das Gesetz für alle da sei, und deshalb soll es durch alle gemacht werden. Und dann werden wir triumphiren, denn wir haben die Verfassung für uns, das Gesetz des Fortschritts und der Gerechtigkeit und die Macht der Zahl, denn wir sind die Nation.“ Das Luxemburger Wort betonte allerdings, dass es „nicht alles und jedes unterschreibe, was auf diesen Volksversammlungen gesagt worden“.5
Die katholische Zeitung unterstrich auch 1905, dass ein Wahlrecht für Frauen „der Natur widerstreiten würde“.6 Sogar noch kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs rechneten auch Linke damit, dass das allgemeine Männerwahlrecht über den Weg der Herabsetzung des Zensus eingeführt würde. So unterstrich der sozialdemokratische Abgeordnete Jis Thorn bei einer Volksversammlung: „Im Jahre 1868 wurde der Wahlzensus auf 30 frs. festgesetzt. Der Wähler musste Luxemburger, 25 Jahre alt sein und die politischen Rechte besitzen. 1892 wurde der Zensus auf 15 frs herabgesetzt; 1902 auf 10 frs. und das Jahr 1913 endlich brachte uns das neue Wahlgesetz, das als die letzte Etappe zum Suffrage universel betrachtet werden kann.“ Auf diesem Weg werde das Volk das allgemeine Stimmrecht erhalten, „ohne die Drangsalierung einer Verfassungsrevision. Der Wahlzettel in der Hand des Arbeiters, des Beamten, des Handwerkers, des Kaufmans, ist eine mächtige Waffe; mächtiger als der Streik, der einer ganzen Nation Schaden, sowohl moralischer als auch materieller Art zufügt […]“.7
Ein „allgemeines“ Wahlrecht?
Das Wahlrecht sollte also durch die weitere Herabsetzung des Zensus verallgemeinert werden, Thorn sprach jedoch nicht vom Wahlrecht für Arbeiterinnen, Bäuerinnen oder Hausfrauen. Vieles spricht dafür, dass sich seine Partei zu diesem Zeitpunkt noch nicht für das Frauenwahlrecht einsetzte – obwohl ein „Sozialdemokratischer Lese- und Diskutierklub“ bereits 1904 eine diesbezügliche Petition im Parlament eingereicht hatte.8 Erst 1917, nach dem Ausbruch der Russischen Revolution, die mit der Forderung russischer Frauen nach dem Wahlrecht begonnen hatte, wendete sich auch in Luxemburg das Blatt. Innerhalb der Sozialistischen Partei wurden Frauen aktiv und lancierten eine Petition für das Frauenstimmrecht – so brachten sie das Thema nicht nur in die Öffentlichkeit, sondern setzten auch ihre eigenen Zensusabgeordneten unter Druck. Die fundamentalen Verfassungsänderungen zum Wahlrecht und zum Wahlsystem, die ab 1917 vorbereitet und 1919 im Parlament votiert wurden, brachten nicht nur die Abschaffung des Zensus, die Herabsetzung des Wahlrechts auf 21 Jahre und das Proporzwahlrecht (allerdings verbunden mit der Einführung des „Panachage“), sondern auch das Frauenwahlrecht.
Eine Einschränkung blieb jedoch bestehen: Seit der Einführung der landständischen Verfassung von 1841 war die Luxemburger Nationalität eine Bedingung zur Ausübung des Wahlrechts – die Rede von einem „allgemeinen“ Wahlrecht war also nicht angebracht. Bemerkenswert ist deshalb unter den vielen Reden, die im Frühling 1919 zu den Wahlreformen in der „Chamber“ gehalten wurden, gerade auch eine von Jis Thorn. Es ging um die Einbeziehung der ausländischen Bevölkerung bei der Berechnung der Wahlsitze: „Il est donc certain que ces ouvriers, commerçants italiens, allemands, belges, français, qui se trouvent dans le bassin minier, à Luxembourg-Ville, Luxembourg-Campagne, à Hollerich, constituent une partie de la richesse du pays. Il n’est donc que juste qu’ils soient représentés d’une façon indirecte, alors que le droit de vote ne leur est pas encore accordé. Je suis partisan de la Ligue des nations et j’espère qu’il n’y aura plus de frontières entre la France et l’Angleterre et les autres pays. Il n’y aura plus de Français, Italiens, Belges, Anglais, Allemands, il n’y aura que des humains et tous ceux qui habitent ici le territoire auront le droit de vote. C’est la Ligue des Nations comme je la comprends, où il n’y aura plus d’étrangers, mais il n’y aura partout que des humains.“ „Chimère!“ riefen ihm die Abgeordneten der Rechtspartei zu.9 Es sollte bis zum Referendum von 2015 dauern, bis die Forderung nach einem „residentiellen“ Wahlrecht breiter aufgestellt wurde – leider ohne Erfolg.
Nach 1919 gab es lediglich zwei fundamentalere Änderungen in Hinsicht der Demokratisierung des Wahlrechts: die Herabsetzung des minimalen Wahlalters auf 18 Jahre und die Zulassung, 1994 bzw. 1995, nicht-luxemburgischer BürgerInnen zu den Gemeinde- und Europawahlen. Während erstere kaum in Abrede gestellt wurde, war der Einführung des „Ausländerwahlrechts“ eine lange Debatte vorausgegangen, in der unter anderem Minister Emile Krieps (DP) gewarnt hatte: „Dann besteht die Gefahr, dass wir bald von Lissabon aus regiert werden!“10
1 ANLUX, CdD-2855, Prüfung der Protokolle der Wahlen der Abgeordnetenkammer vom 17. Dezember 1868.
2 Edmond de la Fontaine: „D’Vulleparlament am Gréngewald“, in: Volksfreund 5. November 1848. Abgebildet in: Germaine Goetzinger u. a, Dicks, 1823- 1891, Edmond de la Fontaine – Ech sinn e groussen Hexemeeschter, Mersch 2009, S. 57.
3 Abgebildet in: Chambre des Députés (ed.), La révolution de 1848 et les débuts de la vie parlementaire au Luxembourg, Luxembourg 1998, p. 55.
4 „Aufruf an die Arbeiter des Luxemburger Landes“, abgebildet in: Chambre, Révolution 98, p. 67.
5 „Luxemburg, 2. Mai“, in: Luxemburger Wort, 3.5.1892, S. 2-3.
6 „Frau und Politik“, in: Luxemburger Wort, 19.12.1905, S. 1.
7 ANLUX, AE-307, Elections législatives: Listes élec- torales (1906-1918) – Exécution de la loi sur les élec- tions (1881-1883).
8 Vgl. Renée Wagener: „Bye bye Siegfried. Der lange Abschied der Luxemburger Frauen vom Patriarchat“,
in: Centre d’information et de documentation des fem- mes Thers Bodé (ed.): Not the girl you’re looking for – Melusina rediscovered. Objekt + Subjekt Frau in der Kultur Luxemburgs = Objet + Sujet – La femme dans la culture au Luxembourg, Luxemburg 2010, p. 212–238, ici p. 224.
9 Compte rendu des séances de la Chambre des Députés, 27.3.1919, p. 2373.
10 Zit. nach: Michel Pauly: „Das Wahlrecht für Auslän- der in der Diskussion“, in: forum Nr. 49 (1981), S. 24-25, hier S. 25.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
